Der Kaufmann von Venedig - In Neuss balanciert Catja Baumann Shakespeares Drama mit Shakespeares Komödie aus
Präzise und scharf
von Regine Müller
Neuss, 11. Mai 2013. Was für ein vertracktes Stück! In Shakespeares "Kaufmann von Venedig" sind weltanschauliche, politische, religiöse und finanzielle Konflikte derart untrennbar mit persönlichen Schicksalen verklammert, dass der Stoff gleich für mehrere Tragödien reichen könnte. Noch dazu hüllt Shakespeare die gedrängte Handlung ins trügerische Gewand der Komödie, was die Sache nicht gerade vereinfacht.
Außenseiter
Der Kernkonflikt kreist um den homosexuellen Kaufmann Antonio, der aus nicht erwiderter Liebe zu Bassanio sein Leben für diesen aufs Spiel setzt, denn Bassanio will die reiche Portia ehelichen, wofür ihm jedoch die Mittel fehlen. Antonio bürgt bei dem Juden Shylock für seinen Freund, doch Shylock verlangt im Falle der Nichteinlösung des Schuldscheins ein Pfund Fleisch aus dem Körper Antonios. Zwei gesellschaftliche Außenseiter, der Homosexuelle Antonio und der Jude Shylock stehen einander ebenso unversöhnlich gegenüber wie die zwei Wirtschaftsprinzipien und Weltanschauungen. Am Ende steht ein unverdauliches Happy End, das nur um die maximale Demütigung Shylocks zu haben ist.
Um den nicht nur latent mitschwingenden, sondern ziemlich manifesten Antisemitismus des Stücks und die daran hängenden Konflikte herauszustellen, kann man die Komödien-Stränge kurzerhand wegkürzen, wie in unlängst in Frankfurt geschehen durch Barrie Kosky, der die Episoden auf dem Landsitz Belmont mit dem Aufmarsch der Heiratskandidaten Portias und dem dazugehörigen Lotterie-Spiel mit den magischen Kästchen ganz strich und ein (fast) reines Männer-Spiel übrig ließ.
Finanzmarktproletariat
Am Neusser Landestheater wagt Regisseurin Catja Baumann dagegen die heikle Ausbalancierung von Drama und Komödie, indem sie zunächst beide zu ihrem Recht kommen lässt, aber mehr und mehr die Komödie im sogartig sich öffnenden Schlund des Dramas verschwinden lässt. Anja Koch-Kenk hat eine abweisende, anthrazitfarbene, gestufte Wand auf die Bühne gestellt, deren Steinstruktur die Architektur des Hauses aufnimmt. In der Mitte lässt sich auf halber Höhe eine Kammer öffnen, die das mit dem eigenen Hochzeitskleid (?) weiß ausgeschlagene Gemach der Portia ist.
Vor der noch geschlossenen Wand marschieren die venezianischen Kaufleute auf, derweil aus den Boxen Pink Floyds "Money" dröhnt. Die auf Krawall und Party gebürsteten Herrschaften tragen fiese Vertreteranzüge, Mafia-Nadelstreifen, gemusterte Hemden und spitze Schuhe. Sie spielen mit ihren Smartphones und grölen Zockerparolen: Finanzmarktproletariat der übelsten Sorte. Dann kommt Shylock im edlen grauen Dreiteiler, raschelt ganz altmodisch mit Papier, schaut blasiert und lässt seinen Adlatus springen. Man beäugt sich misstrauisch und angewidert gegenseitig, fixiert einander. Die Kaufmänner spannen die Muskeln an, dann – kurz wie ein Nadelstich – spuckt Antonio Shylock ins Gesicht. Nach einer Schrecksekunde wischt Shylock sich sachlich den Rotz ab und geht zum Tagesgeschäft über.
Atemberaubend böse
Damit ist die Tragödie scharf umrissen, aber nun geht in Neuss erst einmal die Komödie ihren Gang und Catja Baumann gibt dem Affen zunächst eine Handvoll Zucker zuviel: Wenn Zofe Nerissa mit Cheerleader-Pompons wackelt und der marokkanische Brautwerber mit Klebebart erst einmal ein Muezzin-lautes "Allah"-Geschrei anstimmen muss, grinst der Boulevard um die Ecke. Doch Baumann kriegt rechtzeitig die Kurve und findet rasch zu einem knackigen Timing, das die Szenen überlappend miteinander verschweißt und immer mehr Fahrt aufnimmt.
In schneidender Schärfe schälen sich Shakespeares atemberaubend böse und verzweifelte Texte aus Komödienflitter heraus und mehr und mehr gewinnen die zentralen Figuren an Kontur: Henning Strübbe als Antonio, dessen unheilbare Melancholie sich mit seiner halb unterdrückten Homosexualität zu einem schwer erträglichen Masochismus vermengt, Richard Erbens zunächst töricht leichtfertiger Bassanio, der sich trotz Happy Ends mit diffuser Schuld beladen fühlt und vor allem Michael Putschlis eisiger Shylock, an dem die Demütigungen erst scheinbar spurlos vorüber gehen, an denen er letztlich dann doch zerbricht. Putschli kommt ganz ohne Klischees aus, spielt schnörkellos und geradezu untertrieben und stellt dadurch das Unfassbare dieser Figur umso deutlicher aus.
Ein insgesamt präzis gearbeiteter Abend, der trotz manch flauen Momenten im ersten Drittel mehr und mehr in den Bann zieht.
Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare, Deutsch von Angelika Gundlach
Spielfassung von Catja Baumann und Alexandra Engelmann
Regie: Catja Baumann, Bühne und Kostüme: Anja Koch-Kenk, Dramaturgie: Alexandra Engelmann.
Mit: Henning Strübbe, Richard Erben, Rainer Scharenberg, Claudia Felix, Gabriel Rodriguez, Ulrike Knobloch, Katharina Dalichau, Michael Putschli, Sigrid Dispert, Jonathan Schimmer, Joachim Berger.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.rlt-neuss.de
Mehr lesen? Eine faszinierende Neulektüre des Stücks unternimmt Ivan Nagel in seinem nachgelassenen Buch Shakespeares Doppelspiel.
Reichlich Applaus am Premierenabend gibt Magdalena Marek in der Westdeutschen Zeitung (WAZ) (13. 5. 2013) zu Protokoll. Viel jedoch ist ihrer Kritik ansonsten über den Abend nicht zu entnehmen.
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