Die Unordnung der Dinge

von Jenny Sréter

Berlin, 14. Mai 2013. Wenn die Figuren mehrfach behaupten, dass alles in Ordnung ist, "aber wirklich", ist meist das Gegenteil der Fall. Wie in "15.15" des Kollektivs Berlinki: Zuerst kommt der Bus nicht, dann folgen Unwetter und eine Revolution. Die Welt läuft nicht mehr rund und stellt die Ordnung an sich in Frage.

Doch was bedeutet Ordnung überhaupt? Für den oberen Richter des Universums, der die Welt als einen Planeten unter vielen und noch dazu als den langweiligsten in der Galaxis sieht, ist das menschliche Streben nach Ordnung bloße Zeitverschwendung. Er weiß: Der Mensch kommt gegen das kosmische System nicht an mit seinem Ordnen, Messen und Berechnen. Darüber ist sich auch der Metereologe Colin im Klaren, denn auch die Wettervorhersage gehört zu dem urmenschlichen Verlangen, Dinge berechenbar und damit beherrschbar zu machen. Dass dies jedoch regelmäßig scheitert, liegt an etwas, das sich die Menschen mit der sogenannten Chaostheorie erklären.

Die Chaostheorie war Ausgangspunkt für den Arbeitsprozess des Autorenkollektivs Berlinki. Acht Jugendliche aus Helsinki und Berlin haben das Stück gemeinsam mit einer Internetplattform geschrieben. Chaos war dabei nicht nur die Folie, vor der sich "15.15" entwickelte, sondern auch der Entstehungsprozess muss mitunter chaotisch verlaufen sein. Wenn man sich nur digital begegnet und noch dazu nicht in der Muttersprache kommuniziert, kann es schon mal zu Verwirrung kommen. 

Wetter, Liebe, das Alter

Chaostheorie übrigens bezeichnet die Tatsache, dass Vorgänge nicht vorhersagbar sind, obwohl ihre Ausgangsbedingungen eindeutig festgelegt sind. Das gleiche Experiment kann also, wenn man es wiederholt, zu einem anderen Ergebnis führen. So ist auch das Stück eine Versuchsanordnung: Drei Menschen warten gemeinsam an einer Bushaltestelle. Sie kommen ins Gespräch über das Wetter, die Liebe, das Alter. Vier Mal treffen sich die beiden Männer und eine ältere Frau an der Haltestelle und vier Mal nimmt das Gespräch einen ganz anderen Verlauf. Mal streiten sie sich, mal tanzen sie miteinander, mal lesen sie sich aus der Zeitung vor.

Der Regisseur Sascha Bunge hat das Geschehen in ein Labor verlegt: Die Bühne ist ein weißes Rechteck mit einer Leinwand im Hintergrund, auf der die Bushaltestelle nur angedeutet ist. Arnold, Alexander und Alva, ganz in Weiß gekleidet, sind die Laboranten. Sie hetzen über die Bühne, springen mühelos in ihre verschiedenen Rollen und spielen in rasantem Tempo vom Chaos bestimmte Bereiche durch: das Wetter, die Liebe, die Nachrichten. Sie rechnen komplizierte Gleichungen vor und jonglieren mit Zahlen. Bei all den Primzahlen, Wurzeln und potenzierten Variablen schwirrt einem der Kopf. Dass Sascha Bunge neben den ohnehin schon komplexen Chaostheorien, die das Stück aufgreift, noch zwei weitere Gedankenexperimente aus der Physik und Mathematik eingebaut hat – Schrödingers Katze und das Infinite-Monkey-Theorem – macht es nicht einfacher dem Stückverlauf zu folgen.

Animalische Schreie, Ratten im Labor

Wenn sich die drei hektisch zu elektronischer Musik bewegen, dann wirken sie wie Laborratten. Und es durchzucken sie immer wieder animalische Laute – der Schrei der Möwen, Pfauenrufe und das Brüllen des Affen, dem tierischen Urbild des Menschen. Diese Einbrüche von Naturelementen durchdringen auch die Videoarbeiten von Konstantin Bock, die im Hintergrund das Spiel weniger bebildern, als ihm etwas entgegenzusetzen: So befindet sich beispielsweise die Bushaltestelle nicht in der Stadt, sondern in der Weite der Natur. Das erste Bild zeigt die Oberfläche eines Planeten, bei der zweiten Episode erscheint eine Unterwasserlandschaft, die dritte und vierte spielen in der Wüste und im Schnee (dabei sind sich die Temperaturen im Stück und auf der Leinwand immer direkt entgegengesetzt). Alles monumentale Szenerien, die entweder vom Mensch noch kaum erforscht sind oder in denen Naturgewalten herrschen, gegen die der Mensch kaum eine Chance hat.

Die Einsicht, dass der Mensch insgesamt auf der Welt keine große Rolle spielt und nach Regeln funktioniert, die er selbst nicht kennt, auf einer Welt, die vom Universum aus gesehen ziemlich unbedeutend ist und all das Streben und Ordnungmachen des Menschen verlorene Liebesmüh – diese lakonisch, abgeklärte Sicht der Dinge hat in der hastenden Inszenierung wenig Platz. Dafür entstehen manchmal behutsame Annäherungen zwischen den Figuren, wenn Colin mit Alva wie bei einem Flügelschlag die Arme schwingt oder sie einige Takte zusammen tanzen - Gesten, die hoffen lassen, dass doch Einiges in der Welt noch in Ordnung ist.

 

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