Im Original nicht verständlich

15. September 2013. Nein, diesmal war kein Regieberserker oder Textzertrümmerer am Werk, gegen die Daniel Kehlmann sonst gerne wettert. Im Gegenteil, das brave und des Regietheatertums gänzlich unverdächtige Frankfurter Fritz Rémond Theater hatte sich der Deutschen Erstaufführung von Kehlmanns Zweitling "Der Mentor" angenommen. "Hier sehen Sie noch wahre Bühnenkunst", schreibt das Theater gar auf seiner Webseite. Bei der Premiere in Frankfurt war Donnerstagabend denn auch der Autor anwesend. Aber nicht lange, lesen wir heute in der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Freitag.

"Nach gut zehn Minuten sucht er mit Leichenbittermiene das Weite. Er zwängt sich, so rasch es eben geht, an den Zuschauern in seiner Sitzreihe vorbei, eilt in Richtung Ausgang und lässt die Theatersaaltür unsanft ins Schloss fallen. Immerhin ist die erste Szene soeben zu Ende gegangen." "Wie geohrfeigt habe er sich gefühlt", kolportiert Michael Hierholzer in der Rhein-Main-FAZ sodann den Vorfall kommentierende Äußerungen Kehlmanns. Er habe es im Theater nicht länger ausgehalten, weil er seinen Text nicht wiedererkennen konnte. Das Fritz Rémond Theater habe auf ungeschickte Weise versucht, sein Stück noch lustiger zu machen, "und dadurch haben sie es entschärft", so Kehlmann laut FAZ. Die Pointen seien zerstört worden durch Albernheiten.

Theaterleiter Professor Claus Helmer wiederum versteht die Welt nicht mehr: Die Premiere sei ein großer Erfolg gewesen, erklärte er der FAZ. Dass während der Proben ein Text geändert werde, sei ein ganz normaler Vorgang. Manches sei in Kehlmanns Original nicht verständlich. Deshalb habe man es anpassen müssen.

"Man könnte meinen, hier habe man es mit einem Zusammenprall von zeitgenössischer Hochliteratur und Boulevardtheater zu tun", kommentiert Michael Hierholzer die Frankfurter Posse. Aber das stimme nur bedingt. "Kehlmann liebäugelt durchaus mit dem Boulevard, seine harsche Kritik am Regietheater ist Wasser auf die Mühlen der braven Bühnenrealisten. So haben sie sich auch in Frankfurt wohl gedacht, den Autor in seinem Willen zur Publikumserheiterung besser zu verstehen, als dieser sich selbst verstanden hat."

(FAZ / sle)

 

Hier die Nachtkritik der Wiener Uraufführung von Daniel Kehlmanns Stück "Der Mentor" im Theater in der Josefstadt im November 2012.

 

Kommentare  
Presseschau Kehlmann-Abgang: extrem umgeschrieben
Ich habe das Stück, das ich nicht besonders bedeutend fand, im "Original" in Wien und dann vorgestern in Frankfurt gesehen. Daß Kehlmann rausging, habe ich nicht bemerkt. Wenn er wirklich mit der Tür geknallt hat, war es nicht sehr laut. Wichtig ist aber, daß der Konflikt tatsächlich nichts mit Regietheater zu tun hat. Sie hatten Kehlmanns Stück tatsächlich EXTREM umgeschrieben, und zwar in Richtung Löwinger- oder Millowitschbühne. Ich konnte schon währenddessen kaum glauben, daß so etwas möglich ist. Egal wie man zu Kehlmann steht, richtig blöd ist er ja nicht, und die Dialoge, die der Regisseur hier dazugeschrieben hatte, waren einfach unterste Schublade. Da es ja die deutsche Erstaufführung war und man das Stück auch nirgends nachlesen kann, kann ich den Autor hier schon verstehen. Auch wenn ich seine Theaterthesen sonst ganz falsch finde. Aber die haben mit dieser Geschichte nichts zu tun.
Presseschau Kehlmann-Abgang: Romanfigur
Langsam wird Kehlmann selbst zu seiner interessantesten Romanfigur.
Einerseits erheiternd, andererseits tut es einem leid.
Presseschau Kehlmann-Abgang: pro Objektivität
Danke, Helge, für diese der Objektivität aufhelfende Darstellung. Sehr wertvoll für die Diskussion, so was.
Presseschau Kehlmann-Abgang: Für die Väter büßen die Söhne
Lieber Munti
tja, Objektivität. Objektiv gibts dazu eh nicht viel zu sagen. Eine Komödie, die in der Inszenierung eines Frankfurter Privattheaters nicht den Ansprüchen des Autors, eines bekannten Schriftstellers, genügen konnte. Daran überrascht mich nichts, außer der Tatsache, dass ein Autor, der sich noch vor Kurzem als Kritiker (und damit implizit ja auch als Kenner) der Theaterszene ausgab, die Deutsche Erstaufführung seines Stücks überhaupt einem solchen Boulevardtheater überlassen hat. Diese - schwer verständliche - Entscheidung wiederum scheint doch ein Akt der absichtlichen Abkehr, wenigstens des Rückzugs aus der Sphäre der Stadt- und Staatstheater zu sein, mit denen er als Kritiker sich derart angelegt hatte. Das wiederum tat er wohl mit wenigen anderen Motiven, als um Rache für seinen, in ebendieser Sphäre - seiner Meinung nach - gescheiterten Vater zu nehmen. Nun aber scheitert der Sohn eine Etage tiefer: nämlich in der Sphäre der Privat- und und Boulevardtheater. Die Sünden der Väter werden also wieder einmal an den Söhnen gestraft. Für mich ist das ein Stück Fiktion, das sich als Wirklichkeit tarnt. Insofern braucht es da auch keine Objektivität.
Presseschau Kehlmann-Abgang: Übertriebener Rummel
Was man derzeit im Fritz-Rémond-Theater sieht, ist weder albern, noch Boulevard. Ich darf das behaupten, denn ich kenne mich da aus. Im Original konnte ich nicht mehr Genialität entdecken als das, was wir da auf der Bühne zeigen. In Wien ist das den Kollegen, soweit ich weiß, auch nicht gelungen. Jetzt ist Hamburg dran. Nicht alles, was unterhält, ist automatisch wertlos... Nicht alle, die ein Privattheater besuchen, sind Idioten. Lustig ist, dass wir von "offiziellen Vertretern" Kehlmanns im Vorfeld dazu aufgefordert wurden, darauf zu achten, dass die Komik des Stückes rauskommt. Allgemein finde ich den Rummel um diese Sache etwas übertrieben. Der Anfang und der Schluss wurden verändert. Viel mehr nicht. Auch vielen "intellektuellen" Zuschauern gefällt diese Fassung. Vielleicht sollte man sich insgesamt etwas mehr öffnen und aufeinander zugehen. Die herablassende Haltung, mit der sich manche gerne schmücken, ist nicht immer angebracht.
Presseschau Kehlmann: Glückwunsch
Ist es nicht so, dass Autorenverträge (wie Regieverträge auch, oder?) ein § haben, wonach die Texte (Regie) nur dann verändert werden können wenn der Autor (Regisseur) damit einverstanden ist? Wenn so, richtig so. Wenn ein Regisseur einen Text eigenständig und ohne dem Wissen des Autors ändert, warum sollte der Autor so eine derart Respektlosigkeit stillschweigend hinnehmen und (in diesem Fall wahrscheinlich) zusehen wie ein Regisseur seine Arbeit verhunzt? Glückwunsch Herr Kehlmann.
Presseschau Kehlmann: Wie kam es zu den Änderungen?
Aus der FAZ:
"Ähnlich äußert sich auch Kehlmanns Verlag: Einen Fall eines solcherart schwerwiegenden Eingreifens in den Text eines seiner Autoren habe es noch nie gegeben."

Es scheint also nicht bloß Hysterie zu sein. Viola W., wie kam es denn zu den Änderungen? Sind die im Probenprozeß einfach so improvisiert worden, oder hat jemand kaltblütig daheim umgeschrieben? Das fände ich schon interessant.
Presseschau Kehlmann: Was läuft falsch am Stadttheater?
Liegt es denn an Kehlmann, dass einer der begabtesten jüngeren Autoren Deutschlands, als Romancier gefeiert, als Dramatiker ebenfalls vielversprechend (siehe "Geister in Princeton"), sich an unserem Stadttheatersystem die Zähne ausbeißt? Sollten unsere Theater einen solchen Autor nicht lieber ermutigen und pflegen? Ist das ein Symptom? Läuft da insgesamt etwas falsch?
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