Identitätsklau nach Kleist

von Ewa Hess

Zürich, 28. September 2013. Diese verfluchten Identitäten schießen wie Pilze aus dem Boden. Oder der Wind bläst sie durch die Türe ins Haus. Sie bilden Grüppchen. Manchmal auch Schlägertrüppchen! Dann gucken sie wieder ganz possierlich, so mir nichts, dir nichts, über die Möbelkanten hinweg.

Da kann sich Sosias noch so oft vorsagen, dass er ein Mensch sei, einer, der von daher kommt und dorthin geht. Im Spiegelkabinett der wild wuchernden Identitäten kommt ihm der Sinn für alles Zielgerichtete abhanden. Und nicht nur ihm, dem treuen Diener. Auch seinem Herrn Amphitryon, gerade noch mit Siegerschritt nach Hause eilend, wird es blümerant. Das Ziel aller Ziele, die Liebeszuflucht am Herzen der Gattin, ist schon besetzt – von einem wie er.

amphitryon2 560 matthias horn u2 x 2 – ein Grüppchen von Identitäten. © Matthias Horn

Bodenlose Ratlosigkeit ist der Stoff, aus dem Heinrich von Kleists Molière-Bearbeitung aus dem Jahr 1807 eh schon gestrickt ist. Der melancholische Berliner macht aus der frivolen Verwechslungskomödie ein Drama der Identitätsverwirrung, als das sein "Amphitryon" in die Theatergeschichte eingeht. Die Sachlage selbst überliefert die griechische Mythologie so: Jupiter, der Schürzenjäger, hat sein Auge auf Alkmene geworfen. Um die treue Ehefrau zu verführen, schlüpft er in die Gestalt des thebanischen Generals Amphitryon. In der Nacht bevor der Kriegsheld nach Hause kommt, liegt der Gott in den Armen der nichts ahnenden Schönen und betrügt den Heimkehrer um die süßesten Stunden.

Verdoppelt, verdreifach, vervielfacht

Was noch die gegenwärtige Schauspielhaus-Intendantin Barbara Frey in ihrer Basler Inszenierung von 2003 als eine Männerkumpelei und Götterboshaftigkeit darstellte, modernisiert Karin Henkel jetzt zu einem wahren Identitätskollaps. Vor der aufdringlichen Verdoppelung, Verdreifachung und Vervielfältigung ist in dieser furiosen Inszenierung niemand und nichts gefeit. Selbst der Text – er folgt Kleists Originalfassung sehr frei, doch erkennbar – scheint sich da und dort in einer Endlosschleife zu verfangen. Es ist immer ein kleiner Glücksfall, wenn der Dialog der Wiederholung entkommt und die Handlung weitergeht.

Auf einer wirkungsvoll simplen Bühne von Henrike Engel (die allerdings – wie könnte es anders sein? – sich zweistöckig verdoppeln kann) und mit Hilfe von insgesamt vier Kostüm-Uniformen (Klaus Bruns) entfesseln fünf Darsteller ein unübersichtliches Figurengemenge. Jeder kann da schnell in die Rolle des anderen schlüpfen, mal Sosias, mal seine Frau Charis sein, ungeachtet der Brüste oder Bärte. Stupend, wie es Henkel und ihrem kleinen Ensemble gelingt, Kleist als einen Visionär zu zeigen, der die Tragikomödie des Identitätsklaus erahnte – lange vor dem Aufkommen der gottgleichen Technologie, der strukturellen Voraussetzung dazu.

Schlamassel der sozialen Netzwerke

Ganz ohne Mätzchen und plumpe Metaphern bringt Henkel das ganze slapstickhafte Schlamassel der sozialen und anderen Netzwerke, in welchen wir heute zappeln, als Assoziationsraum mit auf die Bühne. Jede ihrer Figuren unternimmt, unseren Profilen und Avatars ähnlich, ebenso rührende wie vergebliche Anstrengungen, sich als ein "Ich" zu etablieren. Gegen Schluss greift jene Schauspielerin, die oft Charis ist, zu einer radikalen Maßnahme, indem sie ihren wahren Namen nennt. Ihren wahren Namen? Oops, nein. Denn sie heißt Marie Rosa Tietjen – gibt aber unumwunden zu, Carolin Conrad zu sein, also ihre oft Sosias spielende Kollegin.

amphitryon1 560 matthias horn uHalte mich fest, bevor ich jemand anders werde. Vorne: Michael Neuenschwander, Lena Schwarz.
© Matthias Horn

Sie spielen alle brillant. Und es ist eine enorme Leistung, denn mit all den Text- und Figurenverwerfungen ist es ein Mosaik aus Körpern und Worten, in welches sich die Einzelnen einfügen müssen – mal in dieser, mal in einer anderen Formation, synchron und dann wieder solo. Das wirkt dennoch keine Sekunde angestrengt, im Gegenteil, immer kindlich verspielt. Die wunderbaren Bühneneinfälle, Karin Henkels Markenzeichen – falls man bei dieser so wandelbaren Regisseurin überhaupt von einem sprechen kann – funktionieren ohne Fehl. Hüte fliegen, Mäntel flattern, und auch mit einem alten Fauteuil lässt sich allerhand anstellen.

Dass die einzelnen Schauspieler bei diesem Konzept dennoch so etwas wie einen glaubhaften Charakterkern entwickeln, grenzt schon fast an ein Wunder. Aber der hinreißende Michael Neuenschwander ist am Ende der bodenständige Kriegsheld, man erkennt in ihm Amphitryon, da kann er in andere Kleider schlüpfen und Etiketten tauschen, so viel er will. Fritz Fennes Jupiter sitzt ihm ebenso in den immer tanzbereiten langen Beinen wie in der eitlen Argumentation, die ihm immer wieder auf die Zunge kriecht. Tietjen und Conrad sind unermüdlich, die beiden Frauen sprechen, springen und wechseln Kostüme mit einem Tempo, das einem den Atem verschlägt – der Inszenierung so inbrünstig dienstbar, wie es Sosias und Charis dem Königspaar sind. Und mit Lena Schwarzs beherzt verzweifelnder Alkmene bekommt der Zürcher "Amphitryon" auch jene tragische Tiefe, ohne die das kurze intensive Stück kein echter "Amphitryon" wäre. Ach!

 

Amphitryon und sein Doppelgänger
nach Heinrich von Kleist
Regie: Karin Henkel, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Tomek Kolczynski, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Carolin Conrad, Fritz Fenne, Michael Neuenschwander, Lena Schwarz, Marie Rosa Tietjen.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 


Kritikenrundschau

Karin Henkel wolle Kleists komplexes Werk weiterdenken, schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (30.9.2013). "Wo dieser verdoppelt, vervielfacht sie; wo er Textstellen wiederholt, spult sie sie endlos ab. Sie sampelt aus dem Rohstoff der Vorlage ein menschliches Spiegelkabinett der Klone, das reichlich Spektakel und Witz zeitigt, die Lachmuskeln kitzelt und, dies der kluge Clou, uns Zuschauer in ähnliche Zweifel versetzt wie die Figuren des Stücks." Der Abend besitze Timing, Wirbelei "ganz nach der guten alten Verwechslungskomödientradition" und wenig psychologische Feinzeichnung. In den Kostümtricks laufe er sich letztlich tot. "Kleist, die Essenz seines Lustspiels", gehe verloren. "Übrig bleiben Klamotten und Klamauk." Alles in allem: "Ein magerer Ertrag nach dem grossen Trubel."

Im Tages-Anzeiger (online 28.9.2013) ist Alexandra Kedves fast rundum begeistert: Diese "Amphitryon"-Adaption sei "ein irrer Wirbel, der das Stadttheater da abholt, wo's am besten ist: bei seinen spielstarken Schauspielern und beim Willen zum klaren, konsequenten, sauber aufgeräumten Konzepttheater (das hier nur am Schluss ein wenig ausfranst)". Kleists Tragikomödie komme "hochkomisch und hochtragisch daher, toll kostümiert und super frisiert" und sei dabei nicht nur "amüsant", sondern "durchaus auch relevant".

Karin Henkel "steigert die Doppelgängerei bis zum Exzess, ohne die Logik des Stücks zu zerstören", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2013). "Die Identitätsdiebe übertrumpfen, bestätigen und widersprechen, amphitryonisieren und entsosiarien sich in ohnmächtiger Verblüffung und allmächtiger Heiterkeit." Alles gehorche der "Traumlogik der Wiederholung" und werde mit großer "Spielfreude" vorgetragen. "Durch Henkels Doppler-Effekte und Doppelgängermotive gewinnt das alte Stück tatsächlich eine neue Dimension: Man sieht Kleist quasi mit der 3D-Brille, verschwommen, aber auch mit räumlicher und zeitlicher Tiefenschärfe."

Zum Gastspiel der Inszenierung beim Berliner Theaterreffen 2014 schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.5.2014) ...

... und Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (5.5.2014).

 

 

 

 

Kommentare  
Amphitryon, Zürich/TT Berlin: Realitätseinbruch
rgendwann taugen selbst die Kleidungsstücke nicht mehr zur Identifikation, trägt man das blaue Hemd über grauem Kleid oder Sosias‘ Anzug. Der anfängliche Wind ist zum Wirbelsturm der Identitätsauflösung geworden, in einer Welt, in der jeder alles zu sein vermag, nur nicht mehr ein abgrenzbares, eindeutig zu identifizierendes, sich selbst gewisses Ich. Karin Henkel treibt dem Stoff nicht die Komödie aus, das Timing ist von eindrucksvoller Präzision, die Lacher zahlreich und bleiben doch zuletzt im Halse stecken. Denn bei aller (alp)traumhaften Verschiebung der Gewissheiten: Hier findet der Einbruch der Realität statt, den Festspiel-Chef Thomas Oberender am Vorabend bei der Eröffnung des Theatertreffens dem Theater als zentrale Aufgabe zuwies. Die Doppelgänger haben ausgedient, in diesem Heute doppelt, multipliziert, fragmentiert man sich nur noch selbst, ohne am Ende sagen zu können, was dieses Selbst sei und ob es das überhaupt geben kann. Denn vielleicht ist das blaue Hemd realer als der Name, das Facebook-Profil realer als die sich dahinter zu verbergen meinende Person. Da fehlen am Ende die Worte und will man mit Alkmene sagen: „Ach!“ Dann wird es dunkel.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/05/04/ich-ach/
Amphitryon und sein Doppelgänger, Zürich: Wer spielte schon den Zusatz-Merkur?
Ein ganz großer Abend des Theaters, da weiß man warum man lacht, warum man verwirrt ist ... Und als dann noch Dresdner Kollegen als Doppelgänger die Bühne bevölkern, ist das Theaterherz glücklich und grinst.

Wer spielte schon in anderen Aufführungen den Zusatz-Merkur?
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