Geil animiert!

von Julia Stephan

Zürich, 13. Oktober 2013. Schweizer Städte sind beim Theaterkollektiv 400asa derzeit riesige Spielwiesen. Die Gruppe um den findigen Regisseur Samuel Schwarz hat ein Fantasy-Computerspiel kreiert, das im öffentlichen Raum spielt und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischt. Es heißt "Der Polder" und hat inzwischen so viele Versionen, dass einem davon schwindlig wird.

Auch der szenische Spaziergang "Zarathustra 1.2" gehört zu diesem Story-Universum. Das Vorgängerprojekt "Zarathustra 1.1" hatte im Juli Zuschauer und Nietzsche-Experten mit einem Bus von Zürich nach Sils Maria befördert. In jenes Engadiner Alpidyll also, von dem sich der wandernde Philosoph Friedrich Nietzsche zu seinem Hauptwerk "Also sprach Zarathustra" (1883-1885) inspirieren ließ. Im August folgte in Sils Maria "Zarathustra 1.2." Von  einer  Smartphone-App geleitet, spazierte man durch die Landschaft – und begegnete Schauspielern, die einen mit Nietzsche-Zitaten aus den ersten beiden Zarathustra-Büchern konfrontierten.

Im Gänsemarsch hinter Zarathustra her
In der Zürcher Adaption von "Zarathustra 1.2" sollte alles noch realistischer werden. Wer am Sonntagnachmittag beim Theaterhaus Rote Fabrik auf den Beginn des Stückes wartete und damit rechnete, dass er sich mit einem Smartphone auf einen Sonntagsspaziergang machen dürfe, wurde enttäuscht. Eine Lautsprecherstimme erklärte die Wartenden gleich selbst zu Avataren – so werden Game-Figuren im Fachsprech genannt – und den Zürcher Stadtteil Wollishofen zu einer virtuellen Welt.

zarathustra2 280h julian gruenthal xZarathustra auf astigen Wegen © Julian Grünthal Und die war so unsäglich gut programmiert, dass man meinen könnte, sie wäre echt. Bewegungsschauspieler Sebastian Kläy alias Zarathustra nimmt das Zuschauergrüppchen in den Schlepptau und berührt auf dem Weg zum Bahnhof Wollishofen Mauervorsprünge und Wasserspeier, schnuppert an Ziersträuchern und Nadelbäumen und murmelt in verzücktem Berndeutsch: "Geil animiert." Zarathustra-Kläy ist da, und dann wieder ganz woanders. Immerzu sieht er Dinge, die wir nicht sehen, deutet auf etwas, und geht dann zielstrebig weiter. Nur wohin? Wir laufen durch eine Unterführung, wo ihn ein Plakat mit christlicher Botschaft "Gott ist tot" brüllen lässt. In der Tageshelle angekommen, streckt er seinen Arm zum Himmel, ruft: "Seht ihr die zwei identischen Wolken da? Die haben die Wolken kopiert." Ein cleverer Programmiertrick. So eine Animation bedeutet schließlich verdammt viel Arbeit. Da darf man auch mal schummeln.

Am Bahnhof Wollishofen kommt unsere Online-Community mit Offline-Wollishofen in Berührung: Zarathustra-Kläy setzt sich in einen Fotoautomaten, und flucht über die schlechte Programmierung, während wir im Halbkreis um ihn herumstehen. Drei Teenager wagen es nicht, die Szene zu stören, ein Senioren-Pärchen ergreift verstört die Flucht.

Wirklichkeit mit Pixelfehlern
Auch wenn man Zarathustras "Lehrweg" etwas verwirrt hinterher stiefelt, erkennt man doch bald, auf was 400asa mit ihrem virtuellen Experiment abzielen: "Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind (...)", schrieb Nietzsche 1873 in der Schrift "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne". In der virtuellen Matrix des Polder-Games findet dieser Gedanke seine Entsprechung. Wir beginnen die Wirklichkeit im gepflegte Stadtviertel Wollishofen mit seinen sauberen Rasenflächen auf Pixelfehler abzusuchen.

Einen köstlichen Höhepunkt hat dieses Spiel vorm Museum Rietberg. Während die Zürcher auf den sonnigen Stufen der ehemaligen Villa an ihrem Kaffee nippen, bricht aus der bislang ruhigen Zuschauerin Charlotte Engelbert der Zorn: "Was bitte ist Jim Knopf ohne Neger?", echauffiert sich die Schauspielerin, und hinterfragt Debatten zur political correctness, wie sie in demokratischen Gesellschaften so gerne geführt werden. In bester Nietzsche-Tradition stellt sie damit die Gleichmacherei des Ungleichen an den Pranger. Und auch der nette Tourist aus Wiesbaden (Philippe Graber) schreit plötzlich seinen Zorn heraus. Die sonnenbebrillten Zürcher verziehen keine Miene. Als Graber nach seiner großartigen Einzeldarbietung, nunmehr als Zarathustra, in geistiger Umnachtung halbnackt im Parkbrunnen steht, lockt ihn Sebastian Kläy mit Esshäppchen auf eine Bank. Zärtlich streichelt Kläy ihm über den Kopf und sammelt Grabers Klamotten zusammen. Nach zwei Stunden Fussmarsch ist der Zorn verpufft, Zarathustra zum Kind geworden.  

Zarathustra 1.2
Von 400asa/stadttheater.tv & Churer Ensemble
Regie: Samuel Schwarz und Julian Grünthal.
Mit: Philippe Graber, Charlotte Engelbert, Sebastian Kläy.
Eine Koproduktion von 400asa/stadttheater.tv, Churer Ensemble und Theater Chur in Zusammenarbeit mit dem BOBOK Theatre und der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Chur, Bachelorstudiengang Multimedia Production.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.rotefabrik.ch
www.derpolder.com

 

Kritikenrundschau

Realität und virtuelle Welt würden so unerschrocken vermischt, dass sich laufend Überraschungsmomente mit Improvisationsmöglichkeiten für alle Beteiligten ergeben, schreibt Julia Fauth im Zürcher Tages-Anzeiger (15.10.2013). Dabei gehe allerdings das Zarathustra-Thema angesichts urbaner Nebengeräusche zwischen Tankstelle und Bahnhofsunterführung leider etwas unter. Trotzdem: "Wenn am Ende Philippe Graber vor dem Museum Rietberg in eine Baum- krone und dann ins Wasserbassin klet- tert, denkt man an den Untertitel des Zarathustra – das ist etwas für alle und keinen. Und eine Theatererfahrung, die man nicht verpassen sollte."

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