Immer mobil bleiben

von Tobias Prüwer

Leipzig, 6. November 2013. Die typischen Stadttheater-Widergänger sind museale Regiestile und vergessen geglaubte Schauspielweisen. Constanza Macras hingegen bringt leibhaftige Zombies auf die Bühne. Ihre neue Arbeit "Die Wahrheit über Monte Verità", eine Koproduktion von Euroscene-Festival und Schauspiel Leipzig, untersucht den Konnex von Tanz und Stummfilm in der Utopie des frühen 20. Jahrhunderts als zweigeteilter Abend aus interaktiv gedachtem Kurzfilm und Totentanz mit Live-Musik.

Friedensbewegung am Völkerschlachtdenkmal
Wer kam diesem Berg eigentlich nicht nahe? – könnte man sich angesichts der langen Liste an Berühmtheiten fragen, die am Monte Verità weilten. Ernst Bloch und Erich Mühsam waren hier, Hermann Hesse und Ernst Toller, Hugo Ball und Hans Arp. Der Hügel im Schweizer Tessin war ein wichtiges Zentrum für die Kunst, aber auch für Lebensreform, alternative Fortschrittsbewegungen wie zivilisationsmüde Aussteigerphilosophie. Viele geistige Strömungen kamen zusammen. "Die Wahrheit über Monte Verità" setzt sich formal spielerisch mit dem explosiven Gemisch auseinander.

wahrheit 560 rolfarnold uSpringende Untote: "Die Wahrheit über Monte Verità" © Rolf Arnold

Der Abend beginnt mit einem 30-minütigen Film, der die übertriebene Mimik und Gestik des Stummfilms aufnimmt. Insbesondere werden Anklänge an Robert Wienes "Das Cabinet des Dr. Caligari" von 1920 deutlich, in dem erstmals eine filmische Zombiefigur auftritt. In wilder Folge wechseln sich Szenen von Parcours-Lauf im Wald und erotischem Verführspiel rund ums und im Völkerschlachtdenkmal ab. Zunächst in Schwarz-Weiß gehalten, werden später blasse Farben unter den exzentrischen Bewegungen sichtbar. Am Denkmal als Kulisse hat man sich nach dem Völkerschlachtjubiläum, das Leipzig dieses Jahr zelebriert hat, eigentlich satt gesehen. Aber der als Totenburg kurz vor dem Ersten Weltkrieg errichtete Bau wird in einen neuen Kontext gestellt – bei Macras markiert er den Kontrapunkt zur pazifistischen (Künstler-)Bewegung, die zeitgleich am Monte Verità zu sich fand. Via SMS kann das Publikum die Filmdialoge beeinflussen – am Premierenabend war davon nichts zu bemerken.

Wimmelbilder libidinöser Leiber
Die von drei Live-Musikerinnen in Dienstmädchenuniform begleitete Szenenfolge wird jäh unterbrochen, als eine von ihnen die Leinwand zerfetzt. Der Blick wird frei auf eine breite Bühne, ein Arrangement aus alten Schränken und Truhen und windschiefen weißen Vierecken. Aus allen Ecken und Winkeln kriechen nun sieben Tänzerinnen und Tänzer hervor. Zu mal schnellen, mal langsamen Klängen geben sie einen grotesken Mix aus Totenreigen und Zombie-Walk, zügelloser Paartanz mündet in Wimmelbilder libidinöser Leiber. Filmeinspieler und Live-Projektionen auf die Vierecke als fragmentarische Leinwände schaffen interessante Dopplungen. Musik und Tanz spielen perfekt zusammen, die Bewegungen sind bis ins Detail genau. Selbst die zuckendste Untoten-Performance zeigt nicht die geringste Schludrigkeit.

Ein pittoreskes Aufbäumen und Winden erfüllt den Bühnenraum, man mag es als Leiden und Sterben am Künstlerkollektiv deuten. Oder ist es Verdrängtes, das hier aufbegehrt, will Constanza Macras utopische Fragmente, die nie weg, nur verschüttet waren, wieder zum Vorschein bringen? Man muss das nicht wissen, um sich von dieser hoch ästhetischen, morbid-monströs wirkenden Inszenierung beeindrucken zu lassen. Dass dabei die inhaltliche Bearbeitung eines Spannungsfelds zwischen Ökologie und Ökonomie, Hoffnung und Krise bloße Behauptung bleibt, ist gar nicht schlimm. Die getanzten "Gespenster Geschichten", der Griff in den Fundus der Bastei-Gruselroman-Cover sind auch ohne Rationalisierung – oder gerade nur so – sehenswert. Vielleicht ist das Kabinettstück der Constanza Macras auch dem "Zombie Survival Guide" (Max Brooks) gefolgt, der Strategien fürs (Über-)Leben unter wandelnden Leichen aufzeigt. Kardinaltipp: Immer mobil bleiben und die Kunst der Bewegung beherrschen.

 

Die Wahrheit über Monte Verità
Konzeption, Inszenierung und Choreografie: Constanza Macras, Film: Catalina Fernandez, Claire Wilkins, Jon Street, Musik: Fernanda Farah, Jelena Kuljić, Almut Lustig, Bühnenbild: Laura Gamberg, Chika Takubayashi, Lichtdesign und technische Leitung: Arvid Piasek, Kostüme: Gilvan de Coêlho de Oliveira, Allie Saunders.
Mit: Fernanda Farah, Nile Koetting, Jelena Kuljić, Almut Lustig, Ana Mondini, Louis Becker, Emil Bordás, László Horváth, Felix Saalmann, Miki Shoji
Schauspiel Leipzig in Kooperation mit euro-scene Leipzig
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.euro-scene.de
www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Dorkypark halte sich – anders als im Titel verheißen – "nicht auf mit Wahrheiten, sondern taucht in dem zweigeteilten Abend ein in eine erst filmische dann tänzerische Annäherung an die Kräfte, die vor 100 Jahren am Menschen zerrten, um die künstlerische Moderne einzuleiten", schreibt Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (8.11.2013). Und das füge sich, "trotz einiger Wiederholungsschleifen zu unterhaltsamen, aufwendig produzierten 80 Minuten" und zu einer "opulenten Choreographie" mit Tänzern, die "spielerische Leichtigkeit ausstrahlen, ohne an Präzision zu verlieren".

"Macras, Argentinierin mit Wohnsitz Berlin, meldete sich mit der Uraufführung aus einem Formtief zurück". Seit der vermurksten Sinti-Hommage "Open for Everything" 2012 schien die Choreografin samt ihrer Dorky-Park-Kompanie in der Schrill-und-Schrottig-Ecke zu nisten, so Dorion Weickmann in der Süddeutschen Zeitung (13.11.2013). "Überraschenderweise kommt die Monte-Verità-Farce aber ganz ohne Bildpanschereien aus. Freilich liefert die titelgebende Tessiner Künstlerkolonie eine sattsam schillernde Vorlage".

 

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