In der Theaterhölle

von Kai Krösche

Wien, 4. Dezember 2013. "Der Meister und Margarita", einer der großen russischen Romane des 20. Jahrhunderts, erfreut sich aufgrund seiner vielfältigen Figurenzeichnung in den letzten Jahren großer Beliebtheit auf den Theaterbühnen, entzieht sich aber wegen seiner teils undurchdringlichen Komplexität allzu oft einer ebenbürtigen Umsetzung – zumindest, wenn versucht wird, den Roman als Ganzes zu dramatisieren (eine Arbeit, wie die mit ungeheurem Aufwand umgesetzte Inszenierung Simon McBurneys ausgenommen).

Was aber, wenn man diesen großen Roman auf eine Essenz reduziert, zu Eindrücken und Überbleibseln zusammenkocht und von jedweder stringenter Handlung, ja selbst von den Titelfiguren befreit? Arturas Valudskis entwickelte einen solchen Theaterabend "sehr frei nach Michail Bulgakow" – "Varieté Volant" ist weniger Über- als Unterschreibung, eine Reise in die Kellergefilde und Zwischenräume des zugrundeliegenden Stoffes.

Verführung trifft Erlösung

Herausgekommen ist eine zeitgleich bedrückend-verunsichernde wie witzige Aneinanderreihung lose zusammenhängender Szenen, ein finsteres Varieté von zunehmend zerfallender Struktur, ohne Nummern, ohne Ansagen, sogar ohne Musik: Gleich zu Beginn tritt Schauspielerin Julia Schranz, beleuchtet von einem großen weißen Spot, auf die Bühne, geht zielstrebig zum Klavier, um den Deckel zu öffnen – der sich jedoch partout nicht öffnen lässt. Die beunruhigende Komik dieser Anfangsszene bestimmt den Ton des Abends. Während das Publikum verlegen kichert, fängt die weißgeschminkte Frau auf der Bühne, mit dem Rücken zum Zuschauerraum, an zu wimmern und unverständlich zu flüstern.

Bald darauf tritt ein Mann auf die Bühne, der, verstörend nervös, einen Experten für schwarze Magie ankündigt: Den berüchtigten Professor Volant aus Bulgakows Roman. Bevor dieser jedoch auf die Bühne tritt, zappeln Hände hinter Vorhängen, schieben Kugeln über schwarze Paravents, werfen Kelche um und verschwinden plötzlich wieder im schwarzen Nichts. Bis schließlich doch Markus Kofler als der angekündigte Schwarzmagier auftritt.

varietevolant 560 annastoecher uMenage à trois in "Variéte Volant": Anna Stoecher

Bei Koflers Volant liegt der Teufel buchstäblich im Detail: Hier sitzt jede noch so kleinste Geste und scheint einer einzigen fließenden Choreographie zu folgen. Schleichend wie eine Katze und stets in Bewegung wechselt Kofler zwischen diabolischer Frivolität und melancholischem Ernst. Sein Volant ist Verführer und Erlöser in einem, ein höllischer Zeremonienmeister, der genauso übergangslos seine unzähligen Gesichter wechselt wie die verschiedensten Sprachen und Akzente, die er nahtlos ineinander übergehen lässt. Mit der eitlen Freude des Leibhaftigen gluckst er jedes Mal verzückt auf, wenn einer der anderen Figuren den Teufel erwähnt – um gleich darauf wieder in finsteren Ernst zu verfallen. Das alles bringt Kofler so perfekt auf den Punkt, dass es eine (schaurige) Freude ist, zuzusehen – und dass beinahe die beiden anderen Darsteller neben ihm unterzugehen drohen.

Nah am Wahnsinn

Glücklicherweise jedoch nur beinahe, denn auch Martin Bermoser und Julia Schranz gelingt es, die vergleichsweise lebensnah gezeichneten Figuren auf Kofler ebenbürtige Weise mit Leben zu füllen. Bermoser zeichnet die Figur des Pontius Pilatus als Zerrissenen. Der Schmerz ist ihm im Blick seiner Augen abzulesen, seine Stimme spricht mit herrschaftlicher Fassung, um plötzlich vor aufgestauter Aggressivität zu explodieren; in der Rolle des verrückt gewordenen Dichters Ponyrew zucken in seinem vor Paranoia wildgewordenen Gesicht einzelne Muskeln, während er mit zitternder Stimme nervös, einer Marionette am Faden gleich, um sich glotzt. Julia Schranz wechselt zwischen Kühle und Körperlichkeit und erzeugt dabei durch Gesten und Blicke eine Bandbreite von Assoziationen verschiedenster bekannter Frauenfiguren und –typen, darunter biblische Motive wie die Figur der Salome oder der heiligen Madonna.

Was angesichts der Brillanz des dreiköpfigen Ensembles in einer rein virtuosen Demonstration schauspielerischer Qualitäten enden könnte, wird von der Regie Valudskis immer wieder produktiv unterwandert: Wann immer sich ein Handlungsstrang abzuzeichnen droht, fällt das Geschehen wieder in sich zusammen, droht, dem Wahnsinn zu erliegen und in einem diffusen Dazwischen zu versinken.

Zwischenwelt

Die von Valudskis erschaffene Fiktion ist nur mehr Erinnerung, Überbleibsel oder Rudiment einer geordneten Welt. Sie gleicht mehr der Unordnung, Starre und Leere quälender Fieberträume oder den bekannten, von bildenden und darstellenden Künstlern geschaffenen, surrealen Bilderwelten.

Auf der Bühne des TAG in Wien entsteht so eine ganz eigene, unaufgeregte und vielleicht deshalb umso tiefer erschütternde Zwischenwelt aus roten Vorhängen, nicht mehr funktionierenden Klavieren, leeren Kelchen und Scheinwerferspots: Eine beckettartige Theaterhölle ohne Feuer und Getose, unheilvolle Ahnung, stille Beunruhigung.

Varieté Volant oder Der Teufel rennt am schnellsten
von Arturas Valudskis und Ensemble frei nach Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita"
Regie: Arturas Valudskis, Ausstattung: Alexandra Burgstaller, Dramaturgische Mitarbeit: Gernot Plass.
Mit: Markus Kofler, Martin Bermoser und Julia Schranz.
Dauer: 80 Minuten, keine Pause

www.dastag.at

 

Im Standard (5.12.2013) schreibt Margarete Affenzeller: "Von Bulgakows monumentaler Erzählung bleibt da nur ein Odeur. Der Abend ist lieb gedacht, aber zu patiniert." Aber wie sich der Bürger Volant die Zigarette anzündet und wo es bei ihm dann hinausraucht, das verdiene der Erinnerung.

Norber Mayer schreibt in der Presse (5.12.2013), die anderhalb Stunden seien zwar kein Ersatz für den Roman, gäben aber in konzentrierter Form sehr viel von dessen Atmosphäre wieder. Die "stringente, virtuose Insenzierung" verzaubere mit "Slapstick, der Artistik und dem lustvollen Spiel, mit dem das Trio diesen Abend auf hohem Niveau hält".

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