Es ist egal, aber

von Sascha Westphal

Münster, 20. Dezember 2013.Die Welt da draußen mag kaputt und korrupt sein, die Krise allgegenwärtig und ihre Folgen greifbar nah. Aber drinnen, in der Wohnung der Familie Stockmann, innerhalb ihrer weißen Wände, ist alles in bester Ordnung. Noch haben sie große Hoffnungen und Zuversicht. Noch trifft man sich unbeschwert mit den Freunden zur Bandprobe. Noch fällt es leicht von Veränderungen zu träumen und von der nahenden Zukunft zu reden.

Die Möbel im Wohnzimmer von Tomas (Aurel Bereuter) und Katharina Stockmann (Julia Stefanie Möller) waren zwar schon vor dreißig Jahren alles andere als neu; und die Flasche Wein auf dem Tisch stammt allem Anschein nach vom Discounter. Doch schließlich haben die Stockmanns und ihre Freunde, die beiden Journalisten Hovstad (Dennis Laubenthal) und Billing (Maximilian Scheidt), Ideale, die über alles Materielle hinausgehen.

Im Bier-unter-Freunden-Ton

Frank Behnke rückt Henrik Ibsens berühmtes und berüchtigtes Schauspiel, in dem der Arzt und Weltverbesserer Dr. Tomas Stockmann aus Enttäuschung der Demokratie den Kampf erklärt, ganz nah an unsere Gegenwart heran. Die vier Freunde, die einen Song von Tocotronic proben, sind einem ebenso vertraut, wie Stockmanns Bruder Peter, der Bürgermeister des aufstrebenden Kurorts, und der Zeitungsverleger Aslaksen (Frank-Peter Dettmann). Ihre Haltungen und ihre Gesten entsprechen ganz genau ihrem jeweiligen Alter und ihrer gesellschaftlichen Stellung. Die um die Dreißigjährigen sind so aufmüpfig, wie es sich gehört, die Etablierten so steif und berechnend wie erwartet.

So ist sie, unsere Zeit, ganz genau so, scheint die Inszenierung in jedem Augenblick zu sagen. In Florian Borchmeyers zugespitzter Stück-Bearbeitung, die für Thomas Ostermeiers Schaubühnen-Inszenierung entstanden ist, klingt jeder Satz bekannt und könnte so auch beim Bier unter Freunden oder im Büro fallen. Diese extreme Vertrautheit hat etwas Enervierendes.

Überraschungen ausgeschlossen
Die Nähe schlägt um in Distanz. Und so wird schnell klar, was von den aufrührerischen Kommentaren des alerten Chefredakteurs Hovstad und des ewigen Mitläufers Billing zu halten ist. Sie sind ebenso oberflächlich und verlogen wie die Zusicherungen von Frank-Peter Dettmanns Aslaksen, dieser Inkarnation des konservativen Sozialdemokraten.

Volksfeind2 560 OliverBerg uKlar fahren wir Fahrrad! "Ein Volksfeind" in Münster © Oliver Berg

Überraschungen scheinen ausgeschlossen, nicht nur in der Welt des Stücks, in dem sich der Wohlstand einer ganzen Stadt auf einer Lüge gründet, auch in der Inszenierung. Dazu passt auch, dass ausgerechnet Mark Oliver Bögel, der in Münster schon den Kreon in Stefan Ottenis "Antigone"-Inszenierung und den Claudius in Behnkes "Hamlet" verkörpert hat, den Bürgermeister spielt. Ein weiterer Realpolitiker im grauen Anzug, machtbewusst und leicht cholerisch, einer, der weiß, wie er die Menschen manipulieren kann.

Drei kurze Akte lang, in denen fortwährend gegessen und getrunken wird, in denen besonders Hovstadt und Billing, diese Freunde der großen Worte, fortwährend irgendetwas in sich hineinstopfen und so die Leere füllen zu wollen scheinen, herrscht eine extreme Laschheit auf der Bühne. Auch Aurel Bereuters Stockmann wirkt kaum wie ein kommender Aufrührer und angehender Volksfeind.

Erschreckende Zwangsläufigkeit
Doch während seiner großen Brandrede, seiner mit Gedanken aus dem Manifest "Der kommende Aufstand" und Schriften des Tiqqun-Kollektivs angereicherten Hasstirade gegen die "scheißliberale Mehrheit", platzt etwas aus Bereuter heraus. Das Fahrige weicht einer erschreckenden Schärfe. Die inszenierten Zwischenrufe aus dem Publikum begleitet zunächst noch spontaner Szenenapplaus. Doch der bricht sofort wieder ab, als fünf "Zuschauer" die Bühne stürmen und Stockmanns Rede gewaltsam beenden. Sie treiben ihn aus dem Saal und jagen ihn dann in einem Video durch die Stadt, bis sie ihn auf den Stufen einer Kirche überwältigen und verprügeln.

Ganz knapp unter der Oberfläche schwelt Gewalt. Und das verbindet Stockmann dann doch wieder mit der von ihm verachteten Mehrheit wie mit den verhassten Stützen der kapitalistischen Gesellschaft. Der Mob schlägt ihn als Volksfeind zusammen. Die unheilvoll verstrickten Kräfte von Politik, Medien und Wirtschaft wollen ihn mit all ihrer Macht zum Spielball ihrer Interessen machen. Wenn Aurel Bereuter schließlich mit einem wilden Flackern in den Augen verkündet, "Der stärkste Mann auf der Welt ist derjenige, der ganz allein dasteht", kann einem Angst und Bange werden. Aus dem Idealisten wird mit erschreckender Zwangsläufigkeit ein Extremist, der schon bald in die Fußstapfen des Unabombers oder anderer antimoderner Terroristen treten könnte.

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
In der Bearbeitung von Florian Borchmeyer
Regie: Frank Behnke, Bühne: David Hohmann, Kostüme: Kristopher Kempf, Video: Matthias Greving, Dramaturgie: Friederike Engel.
Mit: Aurel Bereuter, Julia Stefanie Möller, Mark Oliver Bögel, Frank-Peter Dettmann, Dennis Laubenthal, Maximilian Scheidt, Gerhard Mohr
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com

 

Mehr Volksfeinde: Der Ibsen-Stoff hat Konjunktur – allein in Berlin wurde er innerhalb der letzten anderthalb Spielzeiten gleich dreimal inszeniert; am Maxim Gorki Theater von Jorinde Dröse (hier die Nachtkritik), im Prater der Volksbühne von Vegard Vinge und Ida Müller (12-Spartenhaus) und in der Schaubühne von Thomas Ostermeier. Ostermeiers "Volksfeind" (hier die Nachtkritik) beginnt übrigens auch mit einer Bandprobe.


Kritikenrundschau

Die die meisten Regieeinfälle an diesem Abend "sind alte Bekannte", schreibt Rolf Pfeiffer im Westfälischen Anzeiger (23.12.2013). Etwa die Öffnung zum Zuschauerraum hin. Auch "Videoprojektionen von Prügeleien vor dem Theater" würden einem "nicht erspart". Eine Enttäuschung sei Stockmanns zentrale Brandrede – "in seiner fahrigen Absolutheit fader Zornbrei, von dem man hofft, dass es bald vorbei ist". Der Rezensent hätte sich "in einer modernen Textfassung, wenn es schon sein muss, mehr Psychologie gewünscht, mehr inszenatorisches Interesse an der Entwicklung der Hauptfigur."

"Wie es den Stadtvätern gelingt, die Presse wieder auf Linie zu bringen, wird hier so spannend herausgearbeitet wie in einem Krimi", schreibt Helmut Jasny in der Münsterschen Zeitung (23.12.2013). Der "Höhpunkt" aber sei die Brandrede Stockmanns im vierten Akt: "Aurel Bereuter liefert hier mit einer extra für Münster erarbeiteten Fassung ein darstellerisches Meisterstück." Fazit: "In Behnkes Inszenierung stimmt so ziemlich alles, von der originellen Regie über das zu Münster passende Bühnenbild mit einem Haufen alter Fahrräder bis hin zum großartigen Spiel des Ensembles."

 

Kommentare  
Volksfeind, Münster: Korrektur der Dramaturgie
Kleine Richtigstellung:

Die Inszenierung in Münster verwendet keine Auszüge aus DER KOMMENDE AUFSTAND (Unsichtbares Komitee). Es wurde eine eigene Rede für die Bürgerversammlung im vierten Akt erarbeitet, die sich von der Berliner Fassung des Stückes unterscheidet. Sie stammt größtenteils aus der Feder von Aurel Bereuter und ist von folgenden Autoren inspiriert: Nico Paech, Ingo Schulze, Gerald Hüther, Harald Welzer, Erich Fromm und Bernd Kolb (Club of Marrakesh).
Volksfeind, Münster: bitte Klarnamen
@Dramaturgie: Teil einer anständigen Klarstellung ist das Nennen eines Klarnamens.
Volksfeind, Münster: der Klarname
Dramaturgie: Friederike Engel (s.o.)
Volksfeind, Münster: der dritte Weg
Volksfeind, Münster: "erschreckende Schärfe"

Aus den „Kritikenrundschauen“ entnehme ich, dass sich die Redaktion der „Nachtkritik“ dafür „interessierte, wie sich eine erschreckende Schärfe bahnbrach“

Dazu kann ich als „Münsteraner Volksfeind“ vielleicht etwas beitragen:
1. Habe ich Themen, die mir seit Jahren unter den Nägeln brennen (und welche ich normalerweise in Solo-Programmen verarbeite) in die Rede einbringen und mit dem Leitungsteam verdichten können.

Zudem kommt mir meine jahrelange Erfahrung als Kabarettist zugute: Wir haben nicht einfach „den Zuschauerraum mit einem kraftvollen Lichtwechsel zum Zuhörerraum“ (Rolf Pfeiffer im Westfälischen Anzeiger; 23.12.2013) aufgerissen. Die vierte Wand wird erst abgetragen, wenn das Publikum wirklich spürt: der nimmt alles auf, der sieht mich und reagiert!

2. Die Crux der „Münsteraner Rede“, die gespeist ist aus meiner Trainer-Erfahrung mit Menschen, die ihr Leben verändern wollen, ist folgender: Wenn du doch alles weißt, warum handelst du dann nicht danach? Anders gefragt: was ist nötig, damit unser Wissen ins Bewusstsein gelangt, um dort eine bewusste Änderung im Verhalten hervor zu rufen?

Rolf Pfeiffer im Westfälischen Anzeiger (23.12.2013) hätte sich in der Wutrede etwas „mehr Psychologie gewünscht“.

Wenn uns die Psychologie, oder die Psychoanalyse (von der Karl Kraus sagt, dass sie die Krankheit sei, für deren Heilung sie sich hält) wirklich (auf-)klären würde, sähe unsere innere Welt – und damit auch die äußere- anders aus!

Für meine Begriffe ist die Psychologie (zumindest wenn sie sich dem Emotionalen und Systemischen verschließt) nur ein unzulängliches Werkzeug, weil sie dem polaren, binären Verstand entspringt, der uns auf Grund seiner fehlerhaften Wahrnehmung in die gegenwärtige Lage manövriert hat. (siehe auch: J. W. v Goethe: „Die Geschichte der weissen Lilie und der grünen Schlange“)

Was wir jetzt notwendend brauchen ist das, was Henrik Ibsen als das „DRITTE REICH“ bezeichnet hat und was wir heute sinngemäß den „Dritten Weg“ nennen können:
Nämlich von der Analyse der Einzelteile (die gut und hilfreich ist) zur Synthese des Ganzen zu gelangen.
Richard Rohr, ein amerikanischer Franziskanerpater, beschreibt das in seinem Buch „Hoffnung und Achtsamkeit“ so:

„Eine gesunde Religion- (wer sich am Begriff „Religion“ stößt, kann ihn vielleicht ersetzten durch: eine Weise zu fühlen, zu denken und zu handeln. Anm. d. Verf.) die den einzelnen wie die Gesellschaft bereichert – umfasst Gefühl und Vernunft, Glaube und Erkenntnis, Symbol und Wissenschaft, lebendige Erfahrung und Wesensanalyse.“

Herzlich Aurel Bereuter
Volksfeind, Münster: Rolle und Realität
Lieber Bruder Aurel, Sie verwechseln eindeutig Rolle und Realität, klarer Fall für die Couch!
Volksfeind, Münster: nie wieder Nachrichten hören
Wir waren gestern Abend mal wieder im Theater und haben voller Spannung dem Treiben des VOLKSFEINDES zugesehen. Aktuell und spannend,
vor allem in Zeiten von NSA und neuen Medien, GroKo und bevorstehenden Kommunalwahlen. Ein Plädoyer gegen die ewige Gleichmacherei und für das Einmischen. Sichtbarmachen der Medienmacht und des dahinterstehenden Opportunismus. Gruselig, wenn man sich das tägliche Einerlei der Nachrichten ansieht. Danach hatte ich die Idee, alle Zeitungabos direkt zu kündigen und nie wieder Nachrichten zu hören. Denn im Internet stoße ich auf genügend Berichte, Blogs und Seiten jeglicher Couleur, durch die ich meine dadurch sogar besser informiert zu werden.
Tolle Schauspieler! Allen voran Aurel Bereuter und Mark Oliver Bögel.
Also auf ins Theater!
Volksfeind Münster: Kritik
Westfälische Nachrichten (23.12.13) über den Volksfeind in Münster:

Dass die Aufführung im Kleinen Haus aber nicht zur beflissenen Lehrstunde in Demokratie wird, sondern zum ebenso spannenden wie mitreißenden Theaterabend in Spielfilmlänge, ist neben dem stimmig umgesetzten Konzept vor allem den beiden Hauptdarstellern zu verdanken. Aurel Bereuter als verbohrter Idealist wirkt bei seiner Rede im vierten Akt so authentisch und fremdartig-faszinierend, dass man sich in einer wirklichen politischen Veranstaltung wähnt und die Protestler im Publikum für aufgebrachte Bürger halten mag. Möglich wird all das aber erst durch den perfekt besetzten Widerpart: Mark Oliver Bögel porträtiert einen Bürgermeister, den man aus der regionalen Szene zu kennen glaubt (er könnte auch ein Abgeordneter oder Landesdirektor sein), und sein verbales Changieren zwischen sanfter Überzeugungsarbeit und polemisch-scharfem Ton ist so brillant, dass es Nachwuchspolitikern zum Studium empfohlen werden müsste. Mit der Bitte, nicht so zu handeln wie dieser Peter Stockmann. (Harald Suerland)
fb
Volksfeind, Münster: Politikern empfohlen
Ein wirklich spannender Theaterabend, eine tolle Inszenierung! Die Rede des Tomas Stockmann im 4. Akt hat mich begeistert, irritiert, gefangen genommen, zum weiteren Nachdenken gebracht. Ich empfehle diese Aufführung und lege sie insbesondere denen ans Herz, die in Münster Politik machen.
Volksfeind, Münster: der gruselig verführbare Mensch
Schön, dass das Konzept aufgeht und wirklich erstaunlich, wie Theater den Weg in die Realität finden kann. Das Publikum ist "bdürftig" nach Athentizität.

Mir hat die Aufführung extrem gut gefallen! Sie zeigt aber auch - und das ist ein bischen gruselig - wie einfach der Mensch verführbar ist.
Ein Volksfeind, Münster: Zwickmühle
Musterbeispiel für ein Dilemma.
(siehe auch Wikipedia: Ein Dilemma, auch Zwickmühle, bezeichnet eine Situation, die zwei Möglichkeiten der Entscheidung bietet, die beide zu einem unerwünschten Resultat führen.)
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