Tartuffe - Michael Thalheimer gibt seinen Einstand als Hausregisseur der Schaubühne Berlin mit Molière
Hirte findet Herde
von Wolfgang Behrens
Berlin, 20. Dezember 2013."So. Jetzt werd ich aber elementar." Nein, das ist kein Zitat aus "Tartuffe", sondern ein Satz des Kasimir aus Horváths "Kasimir und Karoline". Er könnte wie ein Motto über Michael Thalheimers Regieschaffen stehen: Wenn Thalheimer ein Stück auf die Bühnenbretter rammt, dann wird's eben elementar – kahl und groß stehen Figuren und Konflikte da, wuchtig die Bilder. Es ist nur folgerichtig, dass sich ein Regisseur mit solchem Zugriff überwiegend im Tragödienfach tummelt. Denn die Komödie bezieht ihren Witz meist gerade nicht aus dem Elementaren, sondern aus einer verschwenderischen Fülle, aus einem konkreten Milieu, aus lebensprall gezeichneten oder überzeichneten Typen und Charakteren. Und auch wenn Herbert Fritsch derzeit allerorten das Gegenteil zu beweisen scheint, ist es vermutlich schwerer, eine Komödie auf ihre nackten Elemente zu reduzieren als eine Tragödie.
Zu seinem Einstand als Hausregisseur an der Schaubühne (nach einem ersten Gastspiel vor mehr als zwei Jahren mit Tolstois Macht der Finsternis) hat sich Thalheimer nun freilich eine Komödie vorgeknöpft, Molières "Tartuffe". Und macht vom ersten Moment an klar, dass dies kein Spaß ist – oder jedenfalls nicht nur. Olaf Altmann hat bis direkt ans Publikum heran eine tiefschwarze, mächtig dräuende Bühnenwand gebaut, in die quadratisch ein kleines Gemach als Spielraum eingeschnitten ist, goldgrundiert wie gotische Altäre, in der Mitte ein schwarzer Sessel, ein Kreuz hängt darüber, sonst nichts. Während sich Pseudo-Sakralmusik aus der Klangwerkstatt Bert Wredes dunkel-wabernd über die Szene legt, erscheint der Tartuffe Lars Eidingers und stößt minutenlang mit enervierender prophetischer Inbrunst alttestamentarische Texte aus sich heraus: "Der Herr schlägt dich mit Schwindsucht, Fieber und Brand, mit Glut und Trockenheit, Versengung und Vergilbung." Die Latte ist gelegt, jetzt wird's elementar.
Deformierte mit eingeschränkter Vision...
Dem Komödienpersonal gegenüber erweist sich Regisseur Thalheimer als Vampir: Er hat den Figuren den Lebenssaft ausgesogen, bis buchstäblich bloße Zombies übrig bleiben. Das Ganze entfaltet dabei einen eigenartig schrägen Humor: Judith Engel leiert als Dienerin Dorine (die bei Molière den Rollentyp der gewitzt-zupackenden Intrigenführerin vorstellt) ihre Verse völlig unbeteiligt mit Buster-Keaton-Miene herunter, es klingt, als würde eine Totengräberin eine Büttenrede halten. Die jungen Liebenden Mariane und Valère (Luise Wolfram und Tilman Strauß) wimmern und krächzen, sie winden sich, sie zittern und zucken, die Leiber verrenkt, die Füße eingedreht – kurz: sie gerieren sich wie Horrorwesen aus einem Film George A. Romeros. Und Ingo Hülsmann als Hausherr Orgon zeigt den Untoten als Sanguiniker – auch eine hübsche Pointe.
Thalheimer führt Erlösungsbedürftige auf der tiefsten Stufe vor. Wörter wie Würde oder gar Anmut sind in diesem Kosmos der Deformierten längst vergessen und verloren. Doch da ist ja noch Tartuffe, der falsche Prophet, dem hier die Zeichen der Heiligen Schrift auf den nackten Oberkörper tätowiert sind: In dieser gottverlassenen Welt ist er nicht einfach der Heuchler, als den ihn Molière zeichnet, er ist das, was er einmal von sich sagt, "ein Mensch aus Fleisch und Blut". Der Einzige an diesem Abend. Ein Mensch mit Visionen und starken Bedürfnissen. Lars Eidinger spielt ihn mit bebenden Knien, von seiner Sendung und seiner Virilität gleichermaßen durchglüht.
... im Hamsterrad ihrer Ein-Raum-Welt
Als den erbärmlichen Kreaturen um Orgon bewusst wird, dass Tartuffe ihre Unwürdigkeit durchschaut und ein Spiel mit ihnen treibt, kippt mit ihrer Sicht auch ihr Raum: Olaf Altmanns Goldgrund-Gemach beginnt zu rotieren, der Sessel wandert vom Boden an die Wand an die Decke, das Kreuz steht kopf, die Untoten verlieren ihren letzten Halt. Zum grausamen Höhepunkt treibt der Charismatiker Eidinger-Tartuffe die jämmerliche Zombie-Herde durch das Hamsterrad ihrer kleinen Ein-Raum-Welt vor sich her.
Man wird Thalheimers "Tartuffe" als großes Gleichnis lesen dürfen. In einer Zeit, die ihre Heiligen längst von den Altären abgeräumt hat, ist die Verlockung durch charismatische Führer nicht geringer geworden. Die Aufklärung hat zuletzt keine verführungsresistente Gesellschaft hervorgebracht, sondern eine zutiefst seelenlose. Das mag die Botschaft Molières vielleicht verfehlen, als pessimistisch-unheiliger Blattgold-Fries aber hinterlässt es fraglos Eindruck. Mit karger Kraft spricht Judith Engel abschließend Psalm-Worte, wie sie elementarer wohl kaum sein könnten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? (…) Herr, es ist Zeit zu handeln; man hat dein Gesetz gebrochen."
Tartuffe
von Molière, deutsch von Wolfgang Wiens
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Erich Schneider.
Mit: Ingo Hülsmann, Regine Zimmermann, Lars Eidinger, Judith Engel, Luise Wolfram, Franz Hartwig, Tilman Strauß, Kay Bartholomäus Schulze, Felix Römer, Urs Jucker.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.schaubuehne.de
Die Hoffnungen, die auf Thalheimers erster Regie als Hausregisseur der Schaubühne gelegen hätten, "haben sich trotz starker Schauspielerleistungen (auch die Nebenrollendarsteller agieren – trotz des ganzen Gekasperes – deutlich über dem sonst an diesem Hause üblichen Niveau) nur mäßig erfüllt", findet Matthias Heine in der Welt (22.12.2013). Sein "Tartuffe" sehe aus, "als hätte Thalheimer mal ausprobieren wollen, ob ihm auch eine Inszenierung im Stile des Volksbühnen-Füllers Herbert Fritsch gelingen würde". Aber "Fritsch kann Fritsch besser".
Thalheimer kehre die Verhältnisse des Stücks gewissermaßen um, schreibt Christine Wahl auf Spiegel Online (21.12.2013). "Orgons Familie - bei Molière der Checker-Clan, der Tartuffes Machenschaften von Anfang an durchschaut -, ist hier ein gnadenlos dämlicher Zombie-Verein." Bei Thalheimer brauche Tartuffe gar nicht zu heucheln: "Denn die abgrundtief verdreckte, verdorbene und orientierungslose Zombie-Gesellschaft, die sich hier versammelt hat, will nicht enthüllen, sondern erlöst werden." Deshalb reüssiere Eidingers Tartuffe "unter diesen Scheintoten als einzige vitale Figur. Er spielt seine Rolle denn auch klar und offen."
Lars Eidinger übe als Tartuffe, "der sich immer wieder in eine Art Kreuzigungs-Pose auf der Bühne ergibt, eine gefährliche Anziehungskraft aus", so Alexander Kohlmann auf Deutschlandradio Kultur (20.12.2013). "Mit langen, filzigen Haaren, einem mit Bibelsprüchen zutätowierten, nacktem Oberkörper und der Attitüde eines Jesus Christ Superstars bringt er seine Jünger um den Verstand. Predigt minutenlang an der Rampe, bis die rythmische Sprache, unterlegt von Rock-Sound mit Kirchenmusik-Zutaten, auch die Zuschauer in Trance versetzt."
Rüdiger Schaper preist im Tagesspiegel (22.12.2013) ausführlich Olaf Altmanns Bühnenkasten: "Klare Linien, strenge Symmetrie – etwas Sakrales strahlt das Gehäuse aus. Ein Schrein-Design. Altmanns Bühnenbilder sind das offene Geheimnis einer jeden Inszenierung von Michael Thalheimer." Doch das derart gegebene Versprechen werde nicht gehalten. Ob und was Tartuffes Scharlatanerie und Religionsmissbrauch mit dem Hier und Heute zu tun habe, werde nicht klar. "Muss auch nicht – wenn es denn als Spiel der Typen und Situationen funktioniert. Aber das ist es in zäher werdenden ein dreiviertel Stunden dann auch nicht."
Thalheimer habe "Molières Heuchlerstück wie ein Vampir ausgesaugt, ihm mit kalter, beeindruckender Konsequenz jeden Witz genommen und sich dazu von seinem Bühnenbildner Olaf Altmann ein Hamsterrad für den Friedhof der Gefühle bauen lassen", so Volker Corsten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (22.12.2013). Lars Eidinger, "wirre Haare zu verdrecktem Anzug, darunter nackt und bis zum Kinn eng mit Worten beschrieben", spiele ihn "als grimmigen Rächer von alttestamentarischer Wucht, der zu harten Gitarrenriffs seinen Gegnern, diesen Würmern, immer wieder den guten Hinweis gibt, doch 'einfach mal die Fresse zu halten'". Die Inszenierung belebe die Schaubühne neu, so Corstens Fazit.
Thalheimer erzähle die "Tartuffe"-Story "ohne jeden pädagogischen Beigeschmack" und vergesse nie, dass es sich um eine Komödie handele, befindet Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.12.2013). "Die wird für das phantastische Ensemble zum artistischen Hochleistungssport, bei dem, aus den gnadenlos aufpolierten Charakterprofilen der Figuren entwickelt, gehörig grimassiert, gegreint, geheult, gezetert, herrlicher Unsinn und tollste Gymnastik zelebriert werden." In ihrer Begeisterung schließt sie mit Brecht: "Michael Thalheimers fulminante Inszenierung ist komischer, als der Teufel erlaubt, und diabolischer, als es dem lieben Gott recht sein könnte – und vor allem ein hinreißender Theaterabend: Kein Vorhang zu, und trotzdem alle Fragen offen."
Seit Jahren inszeniere Thalheimer an einer "großen, schweren Verzweiflungsoper", fasst Ulrich Seidler dessen Schaffen in der Berliner Zeitung (23.12.2013) zusammen. "Mit dem Spielen hat er es nicht so, umso mehr aber mit dem Absoluten." Weil bei "Tartuffe" Komödie drüber steht", müssen die Schauspieler nicht wie sonst "am Abgrund der Wahrheit tönen, weinen und schaudern, sondern möglichst debil trampeln, hecheln, einpinkeln, kreischen, winseln, sich verbiegen, mimisch und gestisch verausgaben. Und immer schön druff uff den Reim und die Pointe, an denen die Fassung von Wolfgang Wiens reich ist. Immer volle Polenta, aber unbedingt auch ganz langsam." Thalheimer mache hier das Theater "zu einer schicken grotesken Kirche: Ach, ihr Menschlein, so die Botschaft, was seid ihr doch für fromme Trottel. Große, fast schon jubelnde Zustimmung im Publikum."
Dass Tartuffe bei Thalheimer immer wieder zorndurchschüttelt auf die Bigotterie der Welt reagiere, schaffe Verwirrung, so Esther Slevogt in der tageszeitung (23.12.2013): "Die gewohnheitsmäßige Verurteilung dieser Figur funktioniert nicht mehr. Man fragt sich gar, ob Tartuffe nicht als Einziger die richtigen Fragen stellt." Manchmal wehre sich das Stück gegen Thalheimers Lesart, nicht alles funktioniere. "Trotzdem ist es ein kleines Virtuosenstück, das die Schaubühne zu Weihnachten präsentiert."
Schon Eidingers erster Auftritt mache klar, "dass wir es bei diesem Tartuffe nicht mit einem kühl kalkulierenden Profi aus dem Prediger-Business, sondern mit einem Irren aus der Popkultur zu tun haben", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.12.2013). Olaf Altmanns Bühnen-Kasten hingegen lege "die Vermutung nah, dass wir es mit einem mitleidlos exekutierten Menschenversuch zu tun haben": Der Kasten kippe und drehe sich, "als wollte ein sadistischer Forscher beobachten, wie die kleinen Menschlein darin hilflos zappelnd jeden Halt und die Reste ihrer Würde verlieren." Thalheimer gelinge "mit seiner in ihrem Stilwillen überzeugenden Inszenierung eine ziemlich trostlose Analyse von Machtverhältnissen des Begehrens und Wunschökonomien, die deprimierend weit vom Gebot christlicher Nächstenliebe entfernt sind."
Thalheimer lasse eine Parabel über die vermeintlich schädlichen Effekte der Gottes- und Erlösergläubigkeit durchrattern, so Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (27.12.2013), "so einfach macht es sich diese Inszenierung". Sie liefere mit ihrer kühnen, wenn nicht abwegigen Molière-Deutung den Schauspielern zwar reichlich Material, um als Gesten- und Silbenaussteller zu brillieren, "rennt aber gegen papierne, triviale Religionsvorstellungen an".
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Regisseure noch bei Verstand sind...
... und bei den Kommentaren, die Zusachauer.
warum? liest sich doch alles sehr plausibel??
Milena, was verstehen Sie bitte unter Laienspielstätte? Habe ich Sie recht verstanden. Sprechen Sie den großartigen Schauspielern der Schaubühne einen Laienspielstatus zu?
Das wäre doch ein Gipfel (...) des Unverständnisses von Schauspeilkunst. Das kann ich nicht glauben, dass es (...) so wenig Sensibilität gibt. Sicher haben Sie sich nur falsch ausgedrückt.
Ansonsten weiß ich ja, dass es schick ist, Theater mit Fußball zu vergleichen und sich als Theater selbst mit Fußball auf eine Massen-Unterhaltungsstufe zu stellen, aber ich frag mich immer, ob der Vergleich trotz seiner Schickheit nicht ein bisschen hinkt. Weil ich am Theater trotz Brille oft das Runde nicht erkennen kann und das Eckige, wo ja das Runde reinsoll, wie das Tartuffe-Bühnenbild gerade aktuell bewiesen hat, sich doch so überraschend drehen kann! Ein Fußball-Schiri wüsste da kaum, ob der Ball überhaupt im Spiel ist und ob er das Tor nun geben soll oder nicht… Auch ist z.B. Frau Hoss unvergleichlich aparter als ein Fußballspieler für meinen Geschmack und ich versteh nicht, warum man ihr und ihren feingliedrig ausgearbeiteten Spieleigenschaften so einen ungehobelten, Verletzungspech herausfordernden, Vergleich antun muss - D.Rust
Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/12/29/der-keks-der-erlosung/
urs juckers auftritt unfassbar komisch!