Dalí lebt!

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 29. März 2014. Kennen Sie den? Kommt ein Autofahrer in eine Polizeikontrolle: "Ich habe nur Tee getrunken." Sagt der Polizist: "Ja, dann haben Sie jetzt genau 1,8 Kamille." Oder den: Geht ein Cowboy zum Friseur. Als er rauskommt, ist sein Pony weg.

Über diese Witze und noch mehr kann man sich jetzt in Jo Fabians Adaption von Federico García Lorcas selten gespieltem Theaterstück "Sobald fünf Jahre vergehen. Legende von der Zeit" erheitern, das als Produktion des Stuttgarter Staatstheaters im Kammertheater Premiere hatte. Das alte Komödiantentier Elmar Roloff erzählt sie. Dass sie mit dem Stück nix zu tun haben, ist einem da schon längst egal. Ohnehin ist das meiste an diesem Abend vom Autor-Regisseur-Choreografen-Bühnen- und Kostümbildner-Lichtdesigner-Komponisten-Videokünstler-Theaterproduzenten-Zeichner-Programmierer Jo Fabian recht frei assoziiert.

Verrätselung der Verrätselung
Alles kommt eben aus einer Hand: Regie, Ausstattung und Musik – wobei die Musik, die so manch einen sprachlosen oder angedeutet tänzerischen Ablauf unterlegt, meist aus fremder Quelle stammt: von Rammstein etwa ("Ohne dich") oder Ben Cocks ("So cold"). Und überhaupt Cowboys. Auch Becks Rap "Qué onda guero" kommt zum Einsatz, in dem es heißt: "TJ cowboys hang around sleeping on the side walk with a burger king crown". Ein bisschen viel Cowboy (siehe Witz) bei einem Stück, das nicht im Wilden Westen spielt und dessen Handlung schnell erzählt ist: Fünf Jahre will ein "Junger Mann" warten, ehe er seine Verlobte heiratet. Die geht auf eine Reise und verschwindet mit einem anderen. Aus Kummer wendet sich der Verlassene der Frau zu, die ihn schon immer geliebt hat. Doch die will gar nicht: Zu stark sei ihre Liebe, als dass sie seine Anwesenheit ertragen könnte. Am Ende steht der Tod.

27975 sobald fuenf jahre 560 conny mirbach uDuell um starre Puppe © Conny Mirbach

Es gibt im Original viel Text drumherum, schöne, poetische Worte – lyrisch verrätselt. Aber Jo Fabian schert sich darum nur am Anfang. Vom ersten Akt hört man etwa die Hälfte. Und schon da verrätselt Fabian die Verrätselung. Inspiriert von Magritte und Dalí hat er bestechende, surreale Bilder geschaffen. Die Bühne ist voller Symbole: Steinwolken hängen am Himmel, das weiße Klavier qualmt, ein Grammophon quiekt, Weihnachtsbäume sinnieren vor sich hin, und aus dem Fensterlein dort oben schaut die Braut heraus, die schon lange mit einem anderen turtelt. Das Dienstmädchen mit ihrem Tablett hüpft manchmal unkontrolliert in die Höhe, der Diener schaut starr über die Mauer. Manchmal bricht Qualm aus dem Fensterchen der Braut. Dann hat sie mit ihrem neuen Liebhaber geraucht. Aber das stört den "Jungen Mann" nicht weiter. Er philosophiert lieber mit dem "Alten Mann", eben jenem Witzeerzähler, über die Liebe, den Tod und so weiter.

Puppe dirigiert Steinwolken
Die Personage scheint einem Magritte-Bild entstiegen zu sein, die Männer mit der typischen  Melone und Gamaschen. Alle tragen Sonnenbrille. Im ersten Akt sitzt der junge Mann meist auf dem rotsamtenen Sofa. Das gerahmte Bild hinter ihm zählt langsam von 1743 zurück bis auf null. Das Bild wechselt das Motiv. Jetzt sieht man darauf den jungen Mann auf dem Sofa mit dem Bild dahinter, auf dem, wie schon vorher, eine fette Spinne hockt – nein, keine Ameise wie in Dalís "Verrinnender Zeit". Der junge Mann trägt den ganzen Abend einen Strauß verwelkter Rosen im Arm.

27969 sobald fuenf jahre 560 conny mirbach uDie Zeit löst sich auf in einem surrealen Raum © Conny Mirbach

Klar, es geht in Lorcas Stück um das Vergehen der Zeit, um Vergänglichkeit, Erinnerung und Tod. Deshalb: Trauerflor über der Stehlampe, schwarze Schleier an der Wand. Aber warum steckt sich der junge Mann fiese Pfeile in Arme und Beine? Reminiszenz an den heiligen Sebastian? Derweil steht die verschleierte "Puppe mit dem Brautkleid" wie festgeschraubt auf einem Klavierhocker. Eine Stunde lang darf sich Caroline Junghanns nicht bewegen. Die Arme! Lässt gelegentlich die eine oder andere weiße Hand hinunterfallen. Dann entblößt sie ihr haarloses Haupt, spricht und befiehlt pathetisch den Steinwolken am Himmel, sich zu senken.

Zum Schluss ein halbstündiges Symbolsuchbild
Ja, es sind schöne, melancholische Bilder, deren träge Atmosphäre gelegentlich durch Schüsse und Düsenjägergewitter durchbrochen wird. Vom zweiten Akt werden aber schon nur noch Bruchstücke verarbeitet. Der Vater der Braut (sehr lustig: Michael Stiller) fungiert gelegentlich auch als Kommentator und Stückerklärer: "Bei Lorca wird bekanntlich viel gewartet. Das macht es der Regie nicht immer einfach. Deshalb setzen wir gleich da ein, wo die Braut aus dem Bad kommt." Und die schüchterne "Stenotypistin" tut so, als sänge sie Agnes Obels "Riverside".

27959 sobald fuenf jahre 560 conny mirbach uMagritte-Männer mit Melonen © Conny Mirbach

Am Ende verzichtet Fabian ganz auf den Text, legt Lorca endgültig beiseite. Der Raum weitet sich. Der dritte Akt verrinnt in einem großen, lebenden, gefühlt halbstündigen Symbolsuchbild à la Dalí. Rechts die festgeschraubte morbide "Puppe", jetzt mit drei weißen Luftballons umkränzt – was immer das bedeuten soll –, ein erlegter Hirsch im Hintergrund und ein aufgebahrter Toter, eine riesige Uhr ohne Zeiger. Dazwischen wandeln sämtliche Bühnenfiguren in Zeitlupe herum, heben das Gewehr zum Duell oder telefonieren oder sterben. Es scheint, als hätte Fabian hier ein Skizzenbuch zu Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"-Finale "Die wiedergefundene Zeit" verbraten, in dem der Ich-Erzähler noch einmal allen Protagonisten des Romanzyklus auf einem gespenstischen Maskenball begegnet. Ja, ein großes, anziehendes Gemälde steht am Ende des Abends. Aber warum macht Fabian nicht einfach ein Ölbild daraus und hängt es sich zu Hause übers Sofa?

Sobald fünf Jahre vergehen (Legende von der Zeit)
von Federico García Lorca, aus dem Spanischen übersetzt von Thomas Brovot
Regie/Ausstattung/Musik: Jo Fabian, Dramaturgie: Lena Fritschle und Jan Kauenhowen.
Mit: Florian Rummel, Elmar Roloff, Nathalie Thiede, Arlen Konietz, Marianne Helene Jordan, Michael Stiller, Boris Burgstaller, Gabriele Hintermaier, Caroline Junghanns, Larissa Felber/Vianne Landsberg/Katinka Lerch.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Der Regisseur Jo Fabian bemühe sich gar nicht erst um eine Deutung von Lorcas rätselhaftem Text, sondern "nimmt ihn vielmehr als Vorwand für einen surrealistischen Bilderbogen", schreibt Thomas Rothschild in der Stuttgarter Zeitung (31.3.2014). Fabian habe die fantastischeren Gestalten aus dem Stück eliminiert und zeichnet auch für Ausstattung und Musik verantwortlich, "es sind nicht zuletzt die Kostüme, die bildkräftigen Arrangements, die den Abend zum Erlebnis machen". Fazit: Wer Theater nur als Veranstaltung der Sinnstiftung gelten lasse, werde von diesem Abend enttäuscht sein. "Wer die Erfindung sinnlicher szenischer Vorgänge für eine nicht weniger akzeptable Möglichkeit des Theaters hält als die Übermittlung einer Botschaft, sollte ihn nicht versäumen."

"Trash und Medien-Repliken, Coolness-Mienen und Männerballett, Lorca Touch und Pop-Musik, Pachelbel-Kanon und Rammstein-Schlager, alles verquirlt zu munterem Surrealala" hat Martin Mezger für die Cannstatter Zeitung (31.3.2014) gesehen. Insgesamt: eine "Beliebigkeitsszenerie". Jo Fabian stelle sich Lorcas äußerst selten gespieltem Rätselwerk nicht, sondern verrätsele es seinerseits auf jene Weise, die dem Rätsel die Frage raube und "nur noch Pseudo-Tief- als Unsinn" übrig lasse. Das Finale beschreibt Mezger als "Privat-Party, zu der man nicht eingeladen werden möchte: unglaublich öde".

hl schreibt in den Stuttgarter Nachrichten (1.4.2014), hinreißend komisch sei der Abend, aber keinesfalls konsumierbar als Abendunterhaltung. Man benötige Lust, sich auf die wunderbar poetischen Sprachgebilde Lorcas einzulassen, und die Bereitschaft, "sich dem Sog visuell und akustisch ungewöhnlicher Bilder" hinzugeben. Es handele sich um eine "streng choreografierte Bühnenkomposition über das Warten", ein "faszinierendes Gesamtkunstwerk". Besonders gut gelängen "Bilder der unendlichen Langsamkeit des vergeblichen Wartens" der Figuren auf das Leben. Bestechend sei "die Stimmigkeit der Musik". Höhepunkte der Aufführung: die "surrealistischen Impressionen" im dritten Teil, in dem, "albtraumhaft", "Zirkusfiguren" mit Gewehr und Pistole "ihrer Lust auf Gewalt frönen".

 

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