Lass mich den Alien auch noch spielen

von Julia Stephan

Zürich, 5. Mai 2014. In der Science-Fiction-Komödie "Mars Attacks!" vollführt die US-Regierung vor einer Armada kriegsgeiler Marsmenschen, die die Erde umzingelt hält, ein wahrhaft außerirdisches Diplomatentheater: Noch bevor der erste Alien seinen Fuß auf die Erde gesetzt hat, reichen Politiker den Fremden in Fernsehansprachen staatsmännisch die Hand zum Dialog, sehen Wissenschaftler im grünen Männchen bereits den besseren Menschen und orientierungslose Esoteriker den Überbringer einer Heilsbotschaft. Doch die Männer vom Mars haben eigene Pläne: Sie wollen töten. Nur will das auf der Erde niemand so richtig wahrhaben.

Die Message, die der amerikanische Regisseur Tim Burton in seiner schwarzhumorigen Satire aus dem Jahr 1996 an allen Gesellschaftsgruppen durchexerziert, ist überdeutlich: Für Sehnsüchte gibt es keine bessere Projektionsfläche als das Fremde.

Gesteigertes Interesse

Viele Theater, deren Ensembles sich aus geistig behinderten Schauspielern zusammensetzen, sehen sich derzeit mit einem ähnlich geballten Öffentlichkeitsinteresse konfrontiert. Seit das Zürcher Theater Hora am Berliner Theatertreffen 2013 für sein mit dem französischen Starchoreografen Jérôme Bel erarbeitetes Stück Disabled Theater ausgezeichnet wurde - und der Alfred-Kerr-Preis für das Ensemblemitglied Julia Häusermann gleich noch einen draufsetzte - diskutiert man sich am Theater von und mit geistig behinderten Schauspielern den Mund fusselig.

Diese öffentliche Beachtung kann schnell in Verklärung abdriften. Leider. Ziemlich schlau also vom Zürcher Hora-Theater, sich für die Zusammenarbeit mit dem trashigen Berliner Puppentheater Helmi bei Tim Burton zu bedienen. Der Vergleich mit dem Marsmensch hinkt mitnichten: Im Theaterbetrieb werden Schauspieler mit Behinderung auch nach Bel vor allem als extraterritoriales Phänomen wahrgenommen. Ausschließlich für ihre schauspielerische Leistung anerkannt werden sie selten.

Mars2 560 FrancesdAth xWer spielt die Guten? Wer spielt die Bösen? Wer heimst die Sympathie ein? Wer Abscheu?
© Frances d'Ath

Weg mit der Regieidee!

Am Premierenabend im Zürcher Fabriktheater kam's dann zu Beginn erst einmal zu einer kleinen Revolution: Von der klaren Rollentrennung in böse und verblendet - die Horas sollten die Marsmenschen spielen, die Helmis die Erdenbewohner - hatten die Hora-Ensemblemitglieder schon während der Proben die Schnauze voll gehabt. Schließlich sind Aliens keine Sympathieträger. Deshalb schoben sie Helmi-Mann Florian Loycke, gefesselt und geknebelt, als Symbol für ihre Selbstermächtigung auf die Bühne. Weg mit der Regieidee! Danach war das Kräfteverhältnis am Premierenabend, der mit einer von allem Bibel-Pathos entrümpelten Genesis begann - geklärt, und der Groove zwischen den sieben Hora-Schauspielern und den Helmis - die Alienrolle wurde demokratisch unter allen aufgeteilt - stimmte.

Einend wirkte - wie schon bei Jérôme Bel - die Musik, deren Rhythmus die behinderten Schauspieler mit ihren Körpern so unmittelbar aufnahmen, dass es einen umhaute. Während die Horas als Marsmenschen die Hochhäuser hinunterfausteten, haute der tieffrequentierte Beat von Solène Garnier voll in die Magengrube. Wer ältere Arbeiten des Hora-Theaters gesehen hat, musste anerkennen: Seit Jérôme Bels "Disabled Theater" hat sich das Ausdrucksspektrum vieler Ensembleschauspieler - etwa das von Matthias Brücker und Gianni Blumer - massiv erweitert.

Mars3 560 FrancesdAth xSchmachten, kuscheln, nötigen. © Frances d'Ath

Beide Lager übertrafen sich mit durchgeknallten Einfällen, die sich an Burtons Marsfilm anlehnten, oft aber auch von einem ganz anderen Planeten kamen. Statt Gräben zwischen Mensch und Alien aufzuwerfen, oder zwischen behindert und nicht behindert, schütteten die Gruppen den nicht minder brisanten Gender-Graben zu. In der verkehrten Welt von "Mars Attacks!" schmachtete Hora-Schauspieler Nikolai Grahak im blassrosa Hängerchen als Schweizer DSDS-Schlagersternchen Beatrice Egli vom brennenden Herz, brachten Männer knuffige grüne Helmie-Alienpuppen zur Welt, und nötigte Dasnyia Sommer die männlichen Hora-Schauspieler als maskiertes Killer-Alien mit schulterfreiem Seidenkleid und blondem Haarturm. Florian Loycke kuschelte mit Hora-Mann-Matthias Brücker. Die raubeinige Sängerin und Schauspielerin Cora Frost intervenierte: "Schwult hier nicht rum!"

Ist's Ironie? Ist's ernste Haltung?

So herrlich ironisch können Schauspieler mit Behinderung also sein! Oder war Grahaks Egli-Parodie etwa doch eine ernst gemeinte Liebeserklärung an die Sängerin? Dass man bei behinderten Schauspielern nie entscheiden kann, ob die Ironie eine Haltung ist, oder ihnen als Rolle aufgepfropft wurde - damit spielt dieser Abend ebenso schillernd wie seine Filmvorlage.

Am besten wusste Julia Häusermann diese Uneindeutigkeit für sich zu nutzen: Eben noch vergoss sie rührselig Tränen über den Kriegstoten. Doch als Florian Loycke ihr einen Kaffee anbietet, lässt sie vom Trauern auch ebenso schnell wieder ab. Erst jetzt fühlt man sich vage an Burtons Alien erinnert, der beim pathetisch vorgetragenen Friedensangebot des US-Präsidenten Krokodilstränen kullern lässt - und den Würdenträger dann niederstreckt - der wunderbaren Julia Häusermann sind wir in diesem Moment ebenso blind auf den Leim gegangen.

 

Mars Attacks!
Frei nach dem gleichnamigen Film von Tim Burton
Choreografie, Regie, Bühne, Puppen, Musik: alle, Einrichtung: Florian Loycke, Cora Frost, Tanztraining und Development: Dasnyia Sommer, Sound System: Solène Garnier, Puppen(bau)training: Florian Loyke, künstlerische Mitarbeit: Nele Jahnke, Michael Elber, Bühne und Licht: Burkhart Ellinghaus, Produktion: Theater HORA, Produktionsleitung: Ketty Ghnassia.
Mit: Remo Beuggert, Gianni Blumer, Matthias Brücker, Cora Frost, Solène Garnier, Nikolai Gralak, Matthias Grandjean, Julia Häusermann, Florian Loycke, Tiziana Pagliaro, Dasnyia Sommer.
Eine Zusammenarbeit zwischen dem Theater Hora, Zürich, und dem Helmi Puppentheater, Berlin.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.hora.ch
www.rotefabrik.ch

 

Mehr zu der Diskussion um Inklusionstheater gibt es hier.

 

Kritikenrundschau

"Es ist die glückliche Vermählung zweier eigenwilliger Theatergruppen, ein rauschendes Fest der fein choreografierten Anarchie", schwärmt Isabel Hemmel in Der Bund (7.5.2014). Es sei eine Art grüner Virus, der sich im Laufe des Abends auf der Bühne ausbreite und die Darstellenden vereine, statt sie in Gut und Böse, gesund und krank zu trennen. Heraus komme "eine kleine, glückliche Marsmännchen-Kommune, ein Hort der Andersdenkenden jenseits von Vorurteilen und Berührungsängsten". Und "als der Virus gegen Ende des Abends in Form von giftgrünen Puddingportionen das Publikum erreicht, sind wir denen auf der Bühne längst verfallen."

Auf dem Schweizer News-Portal watson.ch schreibt Simone Meier (6.5.2014), es gebe "viel kreatives Chaos, viel Musik, viel Tanz" und "die Berliner" seien "nur Handlanger der Zürcher", was auch anders gar nicht sein dürfe, "schliesslich sind die Horas Helden und ihnen gebührt Verehrung." Auch eine "zauberhafte Massenorgie" werde gefeiert, ein "Bacchanal im Märchenwald", so "fein gespielt" und so "geschickt inszeniert", dass man nicht mehr wisse, "ob man noch wach ist oder schon in einen Traum entglitten". Was "die Horas mit den Berlinern zusammen machen", habe eine Kraft, die an "den Meisterbefreier des Theaters" Christoph Schlingensief erinnere. "Reinkarniert im Theater Hora."

Auf der Online-Seite des Schweizer Radios srf.ch schreibt Theateredaktorin Dagmar Walser (7.5.2014): Gegenüber "Disabled Theater" sei diese Arbeit "ästhetisch ein Richtungswechsel um 180 Grad". Es sei ein "beglückendes Zusammentreffen, das unbändige archaische Energie freizusetzten scheint". Anstatt die Welt zu zerstören, werde sie im Theaterstück neu erschaffen. Da dürfe geträumt werden: "wenn alles, was einem einfällt, möglich wäre. Wenn die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern, zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten, zwischen Traum und Wirklichkeit, Adaption und Erfindung gar nicht (mehr) wesentlich sind?" Dabei werde nicht so getan, als wären alle gleich. "Im gemeinsamen Spiel aber fordern sich die Horas und die Helmis gegenseitig derart heraus, dass sie sich dabei übertreffen." Eine "schräge, berührende Produktion", die zeige, "was alles möglich ist, wenn man sich traut"".

 

 

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