Das falsche Leben der anderen

von Esther Slevogt

Berlin, 7. Mai 2014. Das verunsichert natürlich schon. Einer sympathischen, jungen Regisseurin wird ein Preis verliehen, ihre Inszenierung bejubelt und beim Sektempfang gefeiert. Die Kollegen strahlen, und man möchte eigentlich gerne mitstrahlen. Geht aber nicht. Denn die Kunstanstrengung der vorangegangenen hundert Minuten, Susanne Kennedys an den Münchner Kammerspielen entstandene Inszenierung "Fegefeuer in Ingolstadt", für die sie nach der Theatertreffen-Premiere gestern im Hebbel Theater auch den 3sat-Preis bekam, hat Spuren hinterlassen.

Alles Kalkü(h)l

Der kahle Raum mit dem Kruzifix in der rechten Ecke ist schon auf den Eisernen Vorhang projiziert, also schon da, wenn man in den Zuschauerraum kommt. Bedrohlich flackert manchmal auch die an den Rängen angebrachte Saalbeleuchtung. Huch, gibt's technische Probleme? – denkt man noch. Alles Kalkül, merkt man dann aber bald. Das schöne Jugendstil-Theater wird auf seine Rolle als Haunted House eingestimmt. Untote Kleinbürger werden hier bald ihr Unwesen treiben: verklemmte, gottverlassene Menschenwürmer. Und wir Zuschauer sollen offenbar auch nicht verschont sein. Wir Theaterbürgerinnen und -bürger, die wir so gern das Elend der anderen begaffen. Die Nase rümpfen über unwirtliche Räume wie diesen, dessen Umrisse wir jetzt schon erkennen können. Und die Botschaft, die so ein Raum augenblicklich an uns sendet, erkennen wir sofort natürlich auch: Ein lebenswertes Leben ist in solchem Ambiente nicht zu führen.

Auf der Bühne wird es später ebenfalls flackern, Licht- und Toneffekte werden Menschen und Erscheinungen seltsam voneinander isolieren. Wie Untote werden die Schauspieler Fleißers Texte sprechen, für diese Fassung heruntergekühlt und radikal auf das Notwendigste für den Handlungstransport reduziert. Sie sprechen auch noch nicht einmal selber, sondern wir hören ihre Stimmen nur vom Band, während die sieben Akteure stumm die Lippen dazu bewegen. Formale Brillanz und Konsequenz, wohin man blickt.

fegefeuer tt 560 sle uDer Theatertreffen-Schlussapplaus © sle

Wissen, was das falsche Leben ist

Über die Figuren der 1924 in Berlin uraufgeführten Kleinstadtteenagertragödie hat die Ästhetik das Urteil schon gesprochen, bevor der erste Satz gefallen ist: bleichgeschminkte Mädchen in ultrakurzen Röcken und Highheels. Insofern folgerichtig, dass unter dem silbernen Fummel der einen ein nicht mehr kaschierbarer Babybauch pulsiert. Die Jungs haben kurze Hosen und alberne Frisuren, sehen manchmal wie animierte Playmobil-Figuren aus. Nur Roelle, der Außenseiter, posiert wie ein aus einem Kreuzigungsbild herausgefallener Jesus. Die Alten dagegen sehen aus wie sie in Stücken wie diesem schon immer ausgesehen haben. Eisgraue, vertrocknete und verbiesterte Ungeheuer.

Und so spult sich die Geschichte von der ungewollten Schwangerschaft und den verzweifelten Erhebungsversuchen der versammelten Unglücksmenschen gegen ihre Verurteilung zum Unglück wie ein Schweizer Präzisionsuhrwerk vor uns ab. Nach zwei Bildern hat man das Prinzip dieser sich im Lichtwechsel stakkatohaft verändernden Arrangements verstanden. Keine Entwicklung. Ans Existenzielle wird hier auch nicht gerührt. Denn die Verhältnisse bleiben gesichert. Die Unglücklichen, das sind immer die anderen. Die mit der falschen Ästhetik und dem falschen Leben, von dem das Theater immer so selbstsicher Heilung verspricht, indem es vorführt, was es für dieses falsche Leben hält. Es liegt, finde ich, auch eine Arroganz darin.

 

Zur Nachtkritik der Münchner Premiere von Fegefeuer in Ingolstadt im Februar 2013.

ZurTheatertreffen-Festivalübersicht mit Nachtkritiken und Kritikenrunschauen zu allen Premieren sowie Shorties zu den TT-Gastspielen.

Kommentare  
TT-Shorty Fegefeuer: Monotonie
wie schwach ist das denn? eine theatertreffen-einladung ist für fegefeuer noch zu rechtfertigen, weil der stil vielleicht originell ist. aber was slevogt hier beschreibt, trifft genau zu: man hats nach fünf minuten verstanden, und die inszenierung zieht sich auf ihre eigene konsequenz zurück. das ist uninteressant, und dafür den 3satpreis zu verleihen, ist nicht nachvollziehbar. wann entdeckt das theater mal wieder, dass einen reichtum an mitteln hat, und dass es nicht genügt, ein mittel zu isolieren und dann zwei stunden lang durchzuprügeln?
TT-Shorty Fegefeuer: langweilig
Konsequent kann nun wirklich jeder!!
Wieso das im deutschen Sprachraum als so hohe Qualität gilt ist mir ein ewiges Rätsel.
Es war unendlich durchschaubar und vor allem LANGWEILIG!
Und Slevogt hat sehr Recht, wenn sie schreibt es liege auch eine Arroganz darin zu wissen und vorzuführen wie das falsche Leben so sei.
TT-Shorty Fegefeuer: atemberaubend
Ich fand es fantastisch. Handwerklich atemberaubend!
TT-Shorty Fegefeuer: warum sich die Theater leeren
Danke für das Wort Arroganz!
Ja, es steckt eine absoult arrogante Haltung in der Kopflastigkeit dieser Inszenierung. "Mir ist egal, wie langweilig mein konsequenter Theaterabend für euch dumme Zuschauer ist." - so in etwa. Und genau das ist der Grund, warum die Schauspielhäuser sich leeren. Regietheater sich wirklich überlebt!
TT-Shorty Fegefeuer: zutreffende Kritik
Bald ist auch wieder Handwerksmesse, dafür sollten Sie sich mal Tickets sichern, dann sehen Sie auch was gutes Handwerk ausmacht, u.a. Abwechslung in der Bearbeitung des Materials. Im Fegefeuerfall hat man sich nach 15 Min. am Kunsthandwerk sattgesehen. Und ganz nebenbei: habe selten eine zutreffendere Kritik gelesen, als die obige von Frau Slevogt.
TT-Shorty Fegefeuer: nicht den Zuschauer unterschätzen
Wo sehen Sie denn sich leerende Theater? Ich habe eine Theaterfrequenz von durchschnittlich 3 Vorstellungen pro Woche und ich sehe das Gegenteil. Und einer Inszenierung Kopflastigkeit vorzuwerfen, spricht eigentlich für sich. Ich persönlich sehe Unterschätzung des Zuschauers nicht als Königsweg des Theaters.
TT-Shorty Fegefeuer: den ganzen Menschen ansprechen
aber herr krieger, genau das tut doch diese inszenierung: sie unterschätzt den zuschauer. sie kümmert sich nur um ihren eigenen kopf und nicht um den des zuschauers (dem ja nach 5 minuten dämmert, daß da nichts wesentliches mehr kommen wird). und außerdem: menschen haben noch mehr als den kopf. im theater kann schon auch mal der ganze mensch angesprochen werden.
TT-Shorty Fegefeuer: kein Abklatsch
@5 - ich habe nichts gegen Kunst und Handwerk einzuwenden - davon fehlt den meisten Theaterleuten eine ganze Menge. Abwechslung in der Bearbeitung des Materials ist ein Verlangen, dass mich nicht interessiert. Darauf beruht unsere ganze westliche Konsum-Kultur der letzten Jahrzehnte. Ich bin fürs Fade. Langsamkeit. Gleichförmigkeit. Da muss man sein Material eben sehr gut bearbeiten, dass es spannend bleibt. Das kann nicht jeder. Die Kritik von Frau Slevogt halte ich in diesem Zusammenhang für gefährlich. Sie ist einseitig, ideologisch, kunstfeindlich. Für mich ist es erstaunlich, dass man auf dieser Seite eine Kritik veröffentlichen kann, die die offensichtlichen Vorzüge der Inszenierung unterschlägt, oder nur polemisch anreist. Kunstanstrengung - was soll das sein? Wieso ist das zu einem modischen Schimpfwort verkommen? Fegefeuer ist eine Ausnahmeinszenierung im deutschen Theaterbetrieb. Kein Dokumentartheater und kein Volksbühnenabklatsch. Darüber bin sehr glücklich.
TT-Shorty Fegefeuer: keine ideologische Kritik
@8 - Gut, akzeptiere ich. Sie sind für das Gleichförmige, ich fürs Vielfältige. Aber bitte, wenn Sie der Kritikerin Ideologie vorwerfen, dann begründen Sies auch. Nur weil sie in der Inszenierung nicht die vermeindlichen Vorzüge sieht, die Sie darin gesehen haben, ist ihre Beschreibung des Abends noch lange nicht ideologisch oder kunstfeindlich. Ich persönlich habe auch nur Playmobilwesen gesehen - soviel zur Konsum-Kultur.
TT-Shorty Fegefeuer: inspirierend
@7: Also mich hat die Inszenierung 100 Minuten lang gefordert, inspiriert und zum Denken gebracht. Vielleicht bin bin ich ja ein schlichteres Gemüt. Oder ich habe einfach hingehört und hingesehen.
TT-Shorty Fegefeuer: kurz geschlossenes Urteil
Schon im ersten Satz fällt das Wort "Kunstanstrengung", ohne das etwas beschrieben wurde. Dann "silberner Fummel" und "alberne Frisuren". Stilisierung wird als Playmobil Effekt entwertet. "Sie sprechen auch noch nicht einmal selber" - ja, das hat man wohl so gewollt. "Die Ästhetik spricht das Urteil" - usw ... Das führt bei Frau Slevogt nicht zu einer Reflektion über die gewählte Ästhetik oder die Absicht der Regie sondern nur zu einem sehr kurz geschlossenem Urteil: Alles was künstlich ist, ist Scheiße! Das halte ich für ideologisch.
TT-Shorty Fegefeuer: unter Beobachtung
@11 - Aha, das sind ja derbe Unterstellungen, die ES da vom Stapel lässt. Na dann lasse ich Sie mal mit Ihrer Bewertung der Bewertung alleine toben. Aber lassen Sie sich noch gesagt sein, Theater ist per se künstlich, sobald ein Mensch die Bühne betritt, ist er nicht mehr natürlich, er steht unter Beobachtung, das verändert ihn. Ich fand die Szene mit dem Staubsauger am besten (ohne Ironie). MfG
TT-Shorty Fegefeuer: Gewalt über Blicke
Gewalt entsteht hier ausschließlich über Blicke und Positionierungen. Kennedy schafft präzise Aufstellungen, in denen die Ausgrenzung sichtbar wird, die Blicke des Publikums werden gebündelt und gerichtet auf die Opfer, die Vernichtung geschieht durch Sichtbarmachung. Man kann hierin einen Verweis auf den oft beschworenen gläserenen Menschen sehen, auch wenn die dahinter liegenden Mechanismen beileibe keine neuen sind. Vor allem ist es keine anonyme Gesellschaft, der hier die Täterrolle zukommen, sondern dem einzelnen, dem potenziellen wie tatsächlichen Opfer selbst, der die eigene Selbstbeschränkung - vor diesem Hintergrund gewinnt die aktuelle Debatte darüber, wie viel wir von uns im Netz preisgeben, wie sehr wir unser Verhalten also selbst beschneiden, uns selbst zensieren und in ein enges Image-Korsett einzwängen sollen, eine wahrlich erschreckende Dimension – als Hass und Gewalt nach außen kehrt. Der Blick, den wir nach innen kehren, werfen wir als richtenden, spottenden, diskriminierenden und vernichtenden in unsere Umwelt, wie die Figuren den unseren in eine tödliche Waffe verwandeln. Und plötzlich hat das ganz viel mit uns zu tun.

Ganz am Ende versammelt Kennedy das Ensemble zu einem gemeinsamen Gebet. Das hat nichts Tröstliches oder gar Erlösendes. Mit jeder Wiederholung der die Leiden Christi und mit ihnen die eigenen beschwörenden Litanei, wandert das Register einen Ton hinauf, um am Ende in einem schrillen Schmerzensschrei zu enden, der durch Mark und Bein fährt. Das Tröstende, das einst in der Religion lag, ist pervertiert, weil seiner Bedeutung entzogen, wie die Geborgenheit der Familie, die Erlösung durch Liebe. Das Abtöten des Selbst, das Folge ist der Selbstbeschränkung auf das, was dem Blick von außen stand hält, lässt alles erstarren, was wir einst Leben nannten. Der prüfende, wertende, strafende Blick, saugt das Leben aus uns wie Clementines Staubsauger die Bühne von allem nicht zu Ordnenden leert. Am Ende bleibt eine schroffe, kalte, umgemein zwingende Dystopie, die mehr Spiegel ist, als uns lieb sein kann.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/05/10/der-strafende-blick/
TT-Shorty Fegefeuer: logisch statt moralisch
@ Sascha Krieger: Herrjemine, was ist denn das für eine Inszenierung! Meinen Sie wirklich, dass es da um die Leiden Christi geht? Ich schaue jedenfalls NIEMALS mit strafendem Blick auf die Welt und die Menschen. Bin ich Gott oder was. Ich plädiere für logisch, statt moralisch. Das Pervertierte der Religion ist doch genau dieser anachronistische Bezug auf angeblich "ewige Werte der Tradition". Genau damit hat Marieluise Fleißer doch auch gekämpft. Mit dieser kleinbürgerlichen Erstarrung des Denkens in den Köpfen dieser Menschen.

"Das Stück ist aus dem Zusammenprall meiner katholischen Klostererziehung (sechs Jahre Internat im Institut der Englischen Fräulein in Regensburg) und meiner Begegnung mit Feuchtwanger und den Werken Brechts entstanden. Das hat sich nämlich nicht miteinander vertragen." (Marieluise Fleißer, "Briefwechsel 1925 - 1974")
Fegefeuer, Shorty TT14: emotiophobe Neurotiker
Ich habe mir gerade - durch gute Kritiken positiv vorgeprägt - ca. 15 Min. der 3sat-Aufzeichnung angesehen, aber dann musste ich leider umschalten (zum ESC-Songconetst, was nicht nur deutlich unterhaltsamer ist, sondern mir auch ungleich mehr Erkenntnisse über conditio humana verschafft, ich meine, nur so im Vergleich...), weil es schlicht redundant war. Und sehr gewollt. Und die prätentiösen Form-Zitate wie die immergleichen Godard-Cuts haben mich auch abgestoßen. Kalter Kaffe aus dem Leichenkeller der Film-Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Irgendwie strebermäßig und auch ein bisschen einfach, sich den Godard da für das Eigene einzuspannen. Genauso wie das mit den Stimmen vom Band. Das macht natürlich Atmosphäre, ist aber letztlich doch nur eine 1:1 Illustration der Lynchsen Minimalverschiebung... na ja ich fand das mit 16 auch mal interessant.
Und die Grundaussage finde ich dabei hochproblematisch, weil sie so furchtbar selbstgewiss und selbstvergewissernd ist, und dabei doch so frappierend schlicht und noch dazu sehr gestrig.
Um z.B. die versteckte gesellschaftliche Gewalt zu enthüllen, wie sie sich heute zeigt, bräuchte es meiner Meinung nach ganz andere Mittel: Da kommt man mit diesen alten Schablonen (das Wort vom "Kleinbürger" dient hier doch allein der Denunziation und Distinktion für die, die es nötig haben) und dem Allgemeinen und Modellhaften nicht mehr zu großartigen Einsichten. Das war zu Brechts dogmatischen Zeiten (und zu Zeiten der ideologischen 68er) vielleicht mal der Bringer. Aber mittlerweile hat sich das doch überlebt. Man muss einfach genauer hinsehen. Und da kommt man um individuelle Figuren, seelische Zustände und - in meinetwegen in Artifizielles eingebettete - Authentizität nicht herum. Aber davor scheint es einem großen Teil der theatertreibenden Kollegen zu grauen, und sie winden sich in Entwertungen des So-als-ob-Wirklichen und anderer psychischer Abwehr wie emotiophobe Neurotiker auf der Couch des Analytikers in einer der ersten Sitzungen.
Ich finde der Abend ist was für Formfetischisten, aber nicht für mitdenkende, mitfühlende Menschen. Und damit gesellschaftlich irrelevant. Aber genau darum soll es hier doch gehen oder? Um die Gesellschaft. Aber hier dreht sich das Theater mal wieder nur um sich selbst; und ins selbstgefällige Abseits.
Vielen Dank, Frau Slevogt, für Ihre persönliche Kritik.
Ich empfinde das sehr, sehr ähnlich.
TT-Shorty Fegefeuer: 15 Minuten Fernsehen
Toll, fünfzehn Minuten Theater im Fernsehen anschauen, und dann eine so fundierte Meinung. Voll von klugen Anspielungen und Hintergrundwissen. Offen, sympathisch, interessiert, und dem Theater von Herzen zugewandt. Da steht einer Karriere als professionellem Kritiker unserer Tage nichts im Wege.

Mit freundlichen Grüßen an den talentierten Elliot.
TT-Shorty Fegefeuer: planetarisches Kleinbürgertum
@ T.S.: Eliot: Kennen Sie den Begriff des "planetarischen Kleinbürgertums" nach Agamben? Kleinbürgertum heisst demnach, soweit ich ich es verstanden habe, dass sich der Konsumkapitalismus mittlerweile durch alle gesellschaftlichen Schichten bewegt. Alle wollen einen BMW, einen (Flachbildschirm-)Fernseher, ein iphone, Golfspielen und Voll-Porno. Keiner mehr will kritisch-humanistisches Denken, Glaube, Liebe und Hoffnung (auch) im nicht-religiösen Sinn.
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