Wovon sie noch nie erzählt hat

von Elske Brault

Amsterdam, 8. Mai 2014. Vor dem Anne-Frank-Haus in Amsterdam stehen Menschen zwei Stunden an, um einen Blick zu werfen auf jene Zimmer, in denen die Familie Frank sich ab 1942 vor den Nazis versteckte. Ähnlich lang war die Schlange gestern Abend vor dem neu erbauten Theater Amsterdam: Dort wurde "Anne" uraufgeführt, das Theaterstück über das bekannteste Holocaust-Opfer der Niederlande. Dresscode: Black Tie. Die Damen in bodenlangem Abendkleid, bitte! Schließlich kam auch König Willem Alexander zur Premiere.

Angesichts des strömenden Regens verzichteten die Veranstalter gnädigerweise auf alle Sicherheitskontrollen, sogar auf Kartenvergabe und -kontrolle: Der rote Teppich warf bereits Schaumblasen. Einem der modernsten Theatersäle Europas ist zu verdanken, dass dennoch alles reibungslos über die Bühne ging: Das Theater Amsterdam ist eher ein Multimedia-Stadion als ein Theater im herkömmlichen Sinne, dafür muss sich aber auch niemand beschweren über eingeschränkte Sicht oder schlechten Ton, ganz gleich, wo er sitzt.

Zu kommerziell?

Bereits im Vorfeld hatte es Ärger gegeben: "Anne" als Show, in einer Art Musicaltheater, mit Bootstransfer vom Hauptbahnhof aus oder kombiniert mit einem Dinner-Arrangement, das verurteilten die Betreiber des Anne-Frank-Hauses als "zu kommerziell". Für die Qualität des Stückes bürgten andererseits die Autoren Jessica Durlacher und Leon de Winter: Sie hatten im Anne-Frank-Zentrum in Basel bisher unveröffentlichte Schriften von und über Anne Frank eingesehen und mitverarbeitet. Vor allem auf ihre sexuelle Entwicklung wollte das Stück  stärker eingehen.anne1 560 kurt van der elst uGut gemeint, gut gemacht: "Anne" in Amsterdam © Kurt van der Elst

Am Ende haben beide Seiten Recht behalten. "Anne" ist in manchen Momenten ein sehr berührendes Kammerspiel über eine frühreife Jugendliche. Und in anderen ein Spektakel zur Massenbeeindruckung. Auf der halbrund die ganze Bühne überspannenden Videoleinwand sind anfangs schemenhaft KZ-Wachtürme zu sehen. Dann öffnet sich dieser Projektionsvorhang und gibt den Blick frei auf ein Restaurant im Nachkriegsparis: Dort trifft Anne einen Peter, von dem sie, wie sie dem Publikum mitteilt, noch nie erzählt habe. Ein Junge, für den sie schwärmte, bevor sie im Versteck untertauchte.

Typhus-Fieberträume

Dieser Liebhaber oder auch Verleger begleitet in das Stück hinein und schafft zugleich die Brücke zwischen dem Publikum von heute und der Anne von damals, zwischen uns in der eleganten Abendgarderobe und dem Mädchen, dessen Schicksal stellvertretend steht für ein ganzes Volk. Diese Rahmenhandlung ist ein sehr gelungener Kunstgriff: Am Ende erst wird aufgelöst, dass Anne sich in ihren Typhus-Fieberträumen in Bergen-Belsen in eine bessere Nachkriegszeit hineinphantasiert hat.

Rosa da Silva verkörpert glaubwürdig die temperamentvolle, frühreife Jugendliche. Der ideale Peter des Beginns und jener leicht stotternde, mit dem Anne im Versteck ein Liebesverhältnis beginnt, wirken wie zwei Seiten ihrer Persönlichkeit: Annes glühender Idealismus geht einher mit einer praktischen Lebensfreude, die sie zur Not auch nach dem Mann greifen lässt, der eben als einziger da ist.

Aufforderung an die Touristenmassen

In allem Übrigen beschränkt sich das Stück auf eine mehr oder minder brave Nacherzählung des sattsam Bekannten: Im Hinterhaus streiten und versöhnen sich die Eingeschlossenen auf engstem Raum. Und weil eben dieser Raum nicht die riesige Bühne zu füllen vermag, müssen die Videoprojektionen ein Übriges tun, flimmern Faksimiles der Tagebuchseiten links und rechts vorüber. Die Bühne selbst mit ihrem Querschnitt durch die drei Etagen des Hinterhauses dreht sich auch noch kräftig, oder die Stockwerke heben und senken sich, um die ausgeklügelte Technik des neuen Theaters vor Augen zu führen.

Letztlich ist ein Besuch von "Anne" wohl ebenso lässlich wie einer im Anne-Frank-Haus. Es würde genügen, das Tagebuch der Anne Frank einfach mal wieder zu lesen. Aber dieses Tagebuch verdankt seine Rezeptionskarriere einer erfolgreichen Broadway-Version Mitte der 50er Jahre. Und ähnlich ist das jetzt mit "Anne": Wenn dieses gut gemeinte und handwerklich gut gemachte Stück Touristenmassen dazu bringt, sich mit der begabten Schriftstellerin Anne Frank erneut zu beschäftigen, kann man dem Produktionsteam nicht böse sein.

 

Anne
von Jessica Durlacher und Leon de Winter
Uraufführung
Regie: Theu Boermans, Musik: Paul M. van Brugge, Bühne: Bernhard Hammer, Kostüme: Catherine Cuykens, Licht: Gerhard Fischer, Produzenten: Robin de Levita, Kees Abrahams.
Mit: Rosa da Silva, Paul R. Kooij, Barbara Pouwels, Chava voor in't Holt, Debbie Korper, Wim Bouwens, Jason der Ridder, Christo van Klaveren, Eva Damen, Rob Das, Daniel Cornelissen, Job Bovelander, Sjoukje Hoogma, Liliana de Vries, Marike Mingelen, Margo de Geest, Bas Heerkens, Martin van Tulder, Wouter Zweers, Denise Rebergen, Caya de Groot, Freerk Bos.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theateramsterdam.nl

 

Kritikenrundschau

"'Anne' ist ein Ereignis", so Dirk Schümer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.5.2014). "Die multimedialen Mittel dieses Neubaus mit halbrunder Screenbühne und einem genau abgestimmten Mix aus hyperrealistisch nachgebauter Szenerie, gefilmten Zeitdokumenten, Fotos und der geisterhaft aus dem Nichts überblendeten Mädchenschrift ziehen das Publikum förmlich in dieses Schicksal hinein". Die achtsame und nie gehetzte Inszenierung von Theu Boermans gebe das herkömmliche Schauspielertheater trotz aller Videotricks niemals auf, "im Gegenteil: Gerade durch die Einbettung in Film und Ton (...) steht Rosa Da Silva mit ihrem frühreifen, kecken und dann doch wieder melancholischen Kindskopf vollkommen im Mittelpunkt." De Winter und Durlacher haben aus dem Tagebuch nicht nur zahlreiche philosophische und humanistische Aperçus klug in Annes gesprochene Binnenmonologe hineingeschnitten, sie arbeiten auch die bühnenreifen Minidramen im Hinterhaus genial heraus.

Eva-Elisabeth Fischer hat für die Süddeutsche Zeitung (12.5.2014) die dritte Vorstellung von "Anne" besucht, bei der sich "hauptsächlich junge Leute eingefunden" haben. "Am Schluss stehen sie geschlossen auf, um leicht beklommen einem großartigen Schauspielerensemble zu applaudieren, das bereits drei Stunden später abermals mit demselben Stück antreten wird." Die Hauptlast trage Rosa da Silva, die "mit natürlicher Selbstverständlichkeit die Kratzbürstigkeit des bisweilen enervierend lebhaften Mädchens Anne Frank um die ihr ebenso eigene reflexive Tiefe bereichert." Alle im Vorfeld geäußerten Vorwürfe entkräfteten "die Qualität des Theaterstücks wie auch die diskrete, bewusst an der Realität orientierte Inszenierung von Theu Boermans". "Anne" versuche sich "nicht als Theaterexperiment, sondern arbeitet bewusst mit konventionellen Mitteln. Die Schauspieler des Holländischen Nationaltheaters sollen, nach Typ besetzt, den wirklichen Personen möglichst ähnlich sein."

Die Rahmenhandlung diene "als Bindeglied" zwischen verschiedenen Szenen und erfülle gleichzeitig Anne Franks Träume vom Schriftstellerdasein, schreibt Elsbeth Gugger in der Neuen Zürcher Zeitung (13.5.2014). In sämtlichen nachgebauten Räumen stecke "viel Liebe zum Detail". "Anne" sei ein "manchmal überbordendes und überforderndes multimediales Spektakel auf einer Spanne von 180 Grad. Gut möglich, dass dies eine Konzession ist an die Playstation-Generation". Auch sei das Drama "einfach gestrickt, aber ziemlich packend inszeniert" und von Rosa da Silva überzeugend gespielt. Allerdings habe das Stück Längen, "besonders bei den vielen Szenen im Hinterhaus, wo sich Beklemmung und Angst wiederholen und der Mutter-Tochter-Konflikt etwas gar oft und breit thematisiert wird. Auf Dauer wirkt auch störend, dass Anne ständig von der Spielszene in die Rahmenerzählung rennt. Und es mutet befremdend an, wenn sie plötzlich mit ihrem Verleger am Bühnenrand tanzt."

"Der Erfolg ist garantiert. Sentimentalität ist der Preis", resümiert Elisabeth von Thadden den Abend in der Zeit (15.5.2014). Der Widerspruch zwischen Texttreue, vom Anne-Frank-Fonds in Basel gefordert, und den erfundenen Passagen, die das Tagebuch ins Heute holen soll, bleibe "zum Zerreißen gespannt: Mit vollem Einsatz spielt die Amsterdamer Inszenierung gegen das Vergessen an und erfindet doch einen Rahmen, von dem Anne einst nur geträumt hat".

Man müsse dem Ensemble um die Schauspielschülerin Rosa da Silva, die die Rolle der Anne Frank spielt, große Könnerschaft attestieren, "so überzeugend bringen sie den lähmend-klaustrophobischen Alltag im Unterschlupf auf die Bühne – durchaus auch mit jüdischem Witz", schreibt Tobias Müller in einer Reportage über die Entstehung des und die Kontroverse um das Anne-Frank-Musical(s) in der Jungle World (22.5.2014). "So spottet Otto Frank über mögliche Fluchtwege, sollten die Deutschen auf der Flucht vor den Alliierten die Niederlande unter Wasser setzen: 'Wir ziehen uns die kippot als Bademützen über die Ohren und schwimmen mit den Nasen nach unten, damit niemand sieht, dass wir Juden sind.'" Eindringlich werde geschildert, "wie die bürgerlichen deutschen Juden, die nach 1933 in die Niederlande emigrierten, nach und nach alles verlieren, und sie sich in der Öffentlichkeit kaum zeigen dürfen, wie sie erst zu Ausgestoßenen, zu Untergetauchten, schließlich zu Todgeweihten werden". Begleitet werde das Bühnenspiel von Bildern, die auf riesige Leinwände projiziert werden. "Es sind Originalpassagen aus dem Tagebuch, aber auch Filmsequenzen von marschierenden Nazis, Amsterdam zur Zeit der Besatzung, Bombenangriffe und antisemitische Hetzreden." Der Reporter findet das schlüssig: "Bloßes Beiwerk ist das nicht, vielmehr will man offenbar den Sehgewohnheiten der multimedial sozialisierten Jugend entsprechen."

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