Lebensleistungsbewegt

von Wolfgang Behrens

Berlin, 13. Mai 2014. Ich will ehrlich sein: Ich hätte diesen Abend lieber in einem anderen Rahmen erlebt. Nicht in dem des Theatertreffens. Denn natürlich ertappe ich mich dabei, wie ich hier – bei einem Festival, das noch immer als die Leistungsschau des Theaters im deutschsprachigen Raum gilt – nach den ästhetischen Qualitäten der Inszenierung suche, die ja zu den zehn bemerkenswertesten der Saison gehören soll. Doch Matthias Hartmann hat mit vier Schauspielern des Burgtheaters nicht viel mehr als eine Lesung mit Dias eingerichtet, eine Lesung in Anwesenheit derer, um deren Erinnerungen es hier geht. Sehr schlicht und kunstlos ist das. Und da, wo die Inszenierung doch ein wenig auf sich aufmerksam macht – wenn etwa eine in der Mitte der Bühne platzierte Frau in Großaufnahme Sätze aus den Erinnerungen auf einer Endlospapierrolle mitkalligraphiert –, da streift sie sogar schnell das Geschmäcklerische.

zeugen1 560 reinhard werner uKraft der realen Gegenwart in der Begegnung mit den "Letzten Zeugen" © Reinhard Werner

Doch Inszenierung ist an diesem Abend Nebensache. Es geht einzig und allein darum, den Geschichten dieser sechs Menschen zuzuhören, die da im hinteren Teil der Bühne sitzen, sowie der Geschichte einer während der Vorbereitung des Projekts bereits Verstorbenen. Wahre Geschichten von Entrechtung und Demütigung, von Verfolgung und Deportation, von Tod und Überleben in den Jahren nach 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das Nazi-Reich. Und da die "Letzten Zeugen", nach denen dieser Abend heißt, ihre Erinnerungen – ca. 70 Jahre nach den ungeheuerlichen Vorgängen – nicht mehr lange durch ihre persönliche Präsenz werden beglaubigen können, ist jeder Moment, den man mit ihnen verbringt, wertvoll, jeder Moment mit Lucia Heilmann, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard und Ari Rath (von Ceija Stojka bleiben ihr Bild und ihr Gesang).

Wenn am Ende jedes Erinnerungsstrangs der jeweilige Zeitzeuge nach vorne geführt wird und ein paar Worte ans Publikum richtet, dann wird die stille Bewegung im Raum zur fast körperhaften Erfahrung. Und wenn sich zum Schlussapplaus der ganze Saal spontan und geschlossen erhebt, um die Lebensleistung dieser Menschen zu ehren, dann wird schnell klar, dass das Theater genau der richtige Ort ist, um noch einmal möglichst vielen die persönliche, die durch die Kraft der realen Gegenwart geadelte Begegnung mit ihnen zu ermöglichen. Wenn aber das Theater der richtige Ort ist, warum nicht auch das Theatertreffen?

 

Die Nachtkritik der Wiener Premiere von Die letzten Zeugen im Oktober 2013.

Unsere Theatertreffen-Festivalübersicht mit Nachtkritiken und Kritikenrundschauen zu allen Premieren sowie Shorties zu den TT-Gastspielen.

Kommentare  
TT-Shorty Letzte Zeugen: Wieso?
Wieso sollte der Theaterraum der richtige Raum sein, um die Lebensleistung eines Menschen zu ehren? Und wieso das Theatertreffen?
TT-Shorty Letzte Zeugen: Text lesen
@1: Würden Sie den Text lesen, könnte Ihnen klar werden, dass dies gar nicht behauptet wird.
TT-Shorty Letzte Zeugen: wortwörtlich
@2 - steht da wortwörtlich! Der Text fängt anders an, kommt aber zu dem Ergebenis. (Ihr Ton ist übrigens so arrogant altklug, warum?)
TT-Shorty Letzte Zeugen: Ort der Begegnung
Ich kann nur eine ganz persönliche Antwort geben: Das Theater ist, wenn man es ernst nimmt, einer der letzten Orte einer öffentlichen Auseinandersetzung, die auf persönlichen Begegnungen basiert und eine größere Menge Menschen ein Erlebnis, eine Geschichte, eine Erinnerung teilen lässt. Insofern wüsste ich keinen besseren Ort, sich den Leben dieser Menschen zu widmen. Es wird ja auch keine "Lebensleistung" geehrt - wo wird das denn behauptet? Es wird erlebte Geschichte erzählt und weitergegeben. Und nachdem sich das Burgtheater - trotz allem - ja immer noch als Nationalbühne versteht, finde ich es den richtigen Ort, diese bestimmenden Themen zu behandeln und ihnen im wahrsten Sinne des Wortes eine Bühne zu bieten. Vielleicht ist der Ton von Herrn Krieger deshlab so arrogant, weil es angesichts dieses Abends eben etwas wenig ist, einfach Fragen herauszuhauen, deren Hintergrund Sie weder begründen noch ausführen.
TT-Shorty Letzte Zeugen: große Kollektiverfahrung
Ich möchte kurz zu schlichten versuchen. Wortwörtlich steht da, dass "das Theater genau der richtige Ort ist, um noch einmal möglichst vielen die persönliche, die durch die Kraft der realen Gegenwart geadelte Begegnung mit ihnen zu ermöglichen."
Das Theater ist meines Erachtens einer der größten öffentlichen Räume, in dem man die Anwesenheit von anderen Menschen erfahren kann, ohne dass eine gewisse Intimität oder Intensität der Begegnung verloren geht. Will sagen: im Kino fehlt die reale Präsenz, im Stadion mit 80.000 Zuschauern die Intimität/Intensität. Was der Abend "Die letzte Zeugen" leistet, haben ähnlich auch schon viele Abende in Literaturbuchhandlungen oder in Schulen oder an anderen Orten geleistet. Aber das Theater zielt eben auf eine größere Öffentlichkeit, in der dann momentweise so etwas wie eine große Kollektiverfahrung entstehen kann. Die Stille beispielsweise beim Verlassen des Zuschauersaals gestern war überaus ungewöhnlich. Solche Erfahrungen zu ermöglichen, dafür ist das Theater der richtige (oder, defensiver formuliert: ein richtiger) Ort. Und warum dann nicht auch das Theatertreffen?
TT-Shorty Letzte Zeugen: Chance und Karten
Dieses musserlaubtsein erinnert mich fatal an ein daswürdmandochnochsagendürfen. Hier dürfen Sie in erster Linie mal zuhören. Konkrete Fragen kann man danach immer noch stellen. Also hingehen. Es gibt noch zweimal die Chance und sogar Karten.
TT-Shorty Letzte Zeugen: unreflektierte Diashow
Ich merk schon, jetzt geht es in die Richtung des Kritikverbots angesichts des ungeheuren Schicksals dieser Menschen. Glauben sie mir, ich habe und würde ihnen gern stundenlang zu hören, um zu erfahren, was sie erlitten haben. Auch aus dem Grund, um dieses Geschichte weiter erzählen zu können. Herr Hartmann macht daraus aber nur eine Diashow, die die Mittel der Repräsentation nicht reflektiert. Und das gehört nicht ins Theater. Schon mal gar nicht zum Theatertreffen

- bzgl. der Lebensleistung enmpfehle ich ihnen nun den Text noch einmal zu lesen.
TT-Shorty Letzte Zeugen: Argumente gefragt
- Nein, kein Kritikverbot. Aber nach Argumenten wird man schon fragen dürfen.

- Von welchen Mitteln der Repräsentation reden Sie überhaupt? Und in welcher Art und Weise sind diese für sie hinterfragenswert? Das müssten Sie schon genauer ausführen - sonst bleibt das ein etwas verquaster Vorwurf, der alles und nichts heißen kann.

- "Lebensleistung": Keine Angst, das habe ich schon gelesen; aber es steht eindeutig, dass der Applaus (!) offenbar als Ehrung gedacht war - und das werden Sie einem Publikum schwerlich absprechen können. Das bezog sich ja dezidiert nicht auf die Aufführung selbst, sondern eben auf die Reaktion der Zuschauer. Genauer lesen.
TT-Shorty Letzte Zeugen: aufzählen?
Fragen sie mich jetzt in der Tat, ob die Mittel der Repräsentation auf dem Theater hinterfragenswert sind? Oder möchten sie, dass ich diese ihnen einzeln aufzähle?
TT-Shorty Letzte Zeugen: Inhalt wichtiger als Form
Ich denke, hier kommen schon bewusst, aber eben auch sehr dezent Theatermittel zur Anwendung. Das Licht ist die ganze Zeit im Saal gedämpft und auf der Bühne fokussiert. Es wird in einem fast emotionslosen Ton gelesen. Die Videobilder werden mit den Bildern der Zeugen immer wieder überschnitten. Es wird an einer langen Papierrolle geschrieben. Was eine Thora ist, muss man, glaube ich, nicht erklären. Das alles dient dem in Szene setzen der Lesung und hat auch einen performativen Charakter. Zum Thema Theaterraum hat Wolfgang Behrens schon einiges gesagt. Ich denke, man kann über Angemessenheit diskutieren, aber man muss nicht darüber streiten. Hier ist der Inhalt wesentlich wichtiger als die Form, und auch der ist sehr gezielt dramaturgisch bearbeitet. Hier werden sehr geschickt die einzelnen Berichte zu einem dramatischen Ganzen verwebt. Für mich hat das inhaltlich wie künstlerisch funktioniert. Und die angesprochene Lebensleistung ist nicht allein das Überleben, sondern das bewusste leben und darüber berichten.
TT-Shorty Letzte Zeugen: auf Betroffenheitsniveau
Ok, ich gebe auf! Dämpfen sie weiter das Licht auf Betroffenheitsniveau! Glauben sie weiter an den Inhalt und die Wahrheit, die sich mit diesem Inhalt transportiert. Lassen sie die letzten Zeugen auch weiterhin von denen inszenieren, die nur ihre eigenen Interessen inszenieren. Lassen sie die Machtverhältnisse so wie sie sind. Das Theater hat mir andere Einsichten verschafft.
TT-Shorty Letzte Zeugen: seltsam didaktischer Wunsch
Ja, das ist durchaus eine ernsthafte Frage - Sie scheinen Sie aber nicht verstanden zu haben. Es geht nicht um eine Aufzählung. Es geht um eine Begründung, wo dieser ZWANG herkommt, der ZWANG, die Mittel der Repräsentation immer und überall und jederzeit zu hinterfragen - wo man diese Hinterfragung doch die letzten Jahrzehnte dauernd um die Ohren geschmissen bekam. Das hat etwas seltsam didaktisches.

Und ganz konkret ginge es doch darum, welche in der konkreten Inszenierung verwendeten Mittel Sie hinterfragenswert finden - das Lesen der Geschichten durch Schauspieler, die Ergänzung durch Bilder, das Aufschreiben der Geschichten auf einem langen Blatt papier? Was daran wurde ihrer Meinung nach unreflektiert verwendet, und inwieweit hat das die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Abend gestört; also wo hätten Sie ihre Kritik konkret eingehakt?

So bleibt das ein allgemeines Geraune, das keine Diskussionsgrundlage ist, sondern nur ein nichtssagendes Nörgeln.
TT-Shorty Letzte Zeugen: in Details dick aufgetragen
Lieber ok, Sie müssen nicht aufgeben. Ich habe Sie gar nicht angegriffen. Sagen Sie doch endlich, was Ihnen nicht passt. Ich habe die Mittel doch gar nicht über den Klee gelobt. Auch mir erscheinen sie in einigen Details etwas dick aufgetragen. Und dass Matthias Hartmann sich vor allem auch selbst gut in Szene zu setzen weiß, konnte man bei der Preisübergabe erleben. Die Person Hartmann hat aber auch diese Produktion mit ermöglicht. Wäre schön, wenn Sie mehr von den erwähnten Interessen und Machtverhältnissen erzählen würden.
TT-Shorty Letzte Zeugen: Konkretes erwünscht
"Lassen sie die letzten Zeugen auch weiterhin von denen inszenieren, die nur ihre eigenen Interessen inszenieren." - Inwieweit wird das denn an der Inszenierung sichtbar? Es kommt zwar wahrscheinlich wieder nichts Konkretes, ich frag aber trotzdem nochmal nach ...
TT-Shorty Die letzten Zeugen: bemerkenswert?
Also, über die Frage, ob dieser Abend als solcher wertvoll und auch wichtig ist, lässt sich wohl kaum streiten. Ich konnte ihn nicht sehen, kann diesen Eindruck also nicht persönlich verifizieren, finde es aber schwer, mir Argumente vorzustellen, weshalb eine solche Veranstaltung nicht in ein Theater gehört . Das Burgtheater scheint mir auch ein Raum zu sein, der es nötig hat, diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (und ihren Überlebenden) zu betreiben.

Eine andere Frage ist es aber doch wohl schon, ob dieser Abend auch zum Theatertreffen gehört. Ist die Inszenierung qua Theater so bemerkenswert, dass sie es verdient hat, hier zu laufen? Und das ist eine Frage, die man m. E. eigentlich nur formal beantworten kann -- da kann es doch dann nicht mehr nur um Inhalt und politischen oder moralischen Anspruch gehen.
TT-Shorty Die letzten Zeugen: Geht bemerkenswert nahe
Lieber Holger, ich glaube, niemand, der den Abend erlebt hat, wird ihn nicht als bemerkenswert erfahren haben. Dass das nicht im künstlerisch-ästhertischen Sinne zu verstehen ist, ist keine Frage, nur ist davon in der Definition des Theatertreffens nicht die Rede, ich denke das ist auch kein Zufall. Es ist ein Theaterabend, der so nahe geht, wie kaum ein anderer. Und ich denke schon, dass das unter "bemerkenswert" fällt und das wir gut daran tun - und das gilt auch für die Jury - diesen Begriff so weit zu fassen, wie er hier gefasst wurde.
TT-Shorty Letzte Zeugen: Moment des Innehaltens
Als der Applaus endet, ist es ganz still. Ohne ein Wort zu sprechen, bahnen sich die Zuschauer den Weg zu den Saalausgängen. Es ist ein seltener Moment des Innehaltens, des Sich-Fassens, des Mit-seinen-Gedanken-Alleinseins. Vielleicht ist es der Schlüsselmoment dieses Abends, der sich mit den herkömmlichen Maßstäben der Theaterkritik nicht fassen und schon gar nicht bewerten lässt, der sich nicht rezensieren lässt. Ob diese zwei Stunden, in denen vier Burgschauspieler aus Lebenserinnerungen von Überlebenden der Shoah lesen, während jene, deren Geschichten, die auch Geschichte sind, hier zu Gehör kommen, im Bühnenhintergrund sitzen, großes Theater, ja, überhaupt Theater sind, darüber ließe sich sicher streiten. Wichtig ist es nicht. Das Theater ist der Raum, in dem diese Erzählungen erklingen, in dem sie erfahren, erspürt, kaum begriffen werden, in dem sie auf ihre Weise – und gehört das nicht seit jeher zu den Grundaufgaben des Theaters? – lebendig werden. Und so hat dieser Abend seinen Platz beim Theatertreffen 2014, jener Begegnung der, wie es heißt, „bemerkenswertesten Inszenierungen“ der vergangenen zwölf Monate, und er verdient diesen Platz vielleicht mehr als alles, was in diesen gut zwei Wochen sonst in Berlin zu sehen ist.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/05/16/zeugnis-geben/
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