Mario und der Zauberer - Regisseur Tilmann Köhler und Solo-Virtuose Paul Schröder manipulieren das Stuttgarter Publikum nach Thomas Mann'schem Strich und Faden
Die weichen Lippen des Faschismus
von Steffen Becker
Stuttgart, 22. Mai 2014. Konformität! Danach streben wir. Fast alle. Immer. So legt es jedenfalls das Begleitheft zur Inszenierung der Novelle "Mario und der Zauberer" von Thomas Mann nahe und fordert zu einem Gedankenexperiment auf. Weil wir Menschen uns nicht von Moral leiten lassen, sondern viel stärker von dem Gedanken, Normen nicht zu verletzen, soziale Anerkennung nicht zu riskieren – würden wir also als Soldaten in ein Dorf einmarschieren und Einwohner selektieren, wenn wir nur so vor anderen gut dastehen? Der Text des Soziologen Harald Welzer sagt Ja. Das Zuschauer-Ego wehrt sich. Ist zu sehr vom Ende her gedacht. Und das, bevor der Abend begonnen hat.
Vom Schauspieler herumkommandiert
In Manns Parabel auf das Aufkommen des Faschismus (aus dem Jahr 1930) befinden wir uns erst im Italien der Zwischenkriegsjahre, als Faschismus noch eine Sache theatralischer Südländer war und der Schnurrbart im eigenen Land nur eine Splitterpartei führte. Also setzen wir uns entspannt an die Vierertische, die Regisseur Tilmann Köhler hat herrichten lassen, blättern in den ausliegenden Ausgaben des Mann'schen "tragischen Reiseerlebnisses" und begutachten uns von oben in den Kameraprojektionen auf den Vorhängen rund um die Bühne. Aber nur kurz, denn wir werden aufgescheucht vom einzigen Schauspieler dieses Abends: Paul Schröder. Sie setzen sich lieber dahin, kommen Sie hierher, ja, so passt es. Man kennt das von Hotels und ihren Animateuren. Niemand mag sie, aber wir lassen uns herumkommandieren – um nicht aufzufallen.
Dieses Prinzip zieht sich durch. Regisseur Köhler hat die Erzählung von Mann nicht dramatisiert, er inszeniert "Mario und der Zauberer" als Dialog zwischen einem Schauspieler und seinem Publikum. Das heißt, Schröder bleibt in der Prosa von Thomas Mann, zwingt sie seinen Zuhörern auf, zwingt sie zum Vorlesen, und erweckt die etwas peinliche, kränkende Atmosphäre zum Leben, die der Dichter beschreibt. Mit seinen jüngsten Kindern gastiert Manns Erzähler in der Hauptsaison am Tyrrhenischen Meer – unter ungastlichen Italienern, die die Fremden durch kleine Gesten ausschließen und eine Stimmung "eigentümlicher Bösartigkeit" verbreiten. Noch nichts direkt Bedrohliches, eigentlich ist es sogar interessant.
"Der Aufenthalt war uns merkwürdig geworden"
"Hätten wir nicht abreisen sollen?", fragt Manns Erzähler im Buch und fragt auch die Inszenierung ihre Zuschauer. "Der Aufenthalt war uns merkwürdig geworden und Merkwürdigkeit bedeutet ja in sich selbst einen Wert", steht gelb markiert in den Heften. Stimmt: Da ist dieser Typ in goldenen Reebok-Schuhen und einem altertümlichen cremefarbenen Sommeranzug (mit Strohhut), macht Illusionistentricks mit uns, ist dabei schmierig und doch faszinierend. Das erzeugt diese nervös-gute Laune, die man bekommt, wenn man auf Kosten anderer lacht, aber jederzeit befürchten muss, selbst getroffen zu werden.
Es beginnt harmlos – mit erzwungenem Kellnern, Kamera-Halten und Handy-Benutzen. Haha, guckt mal, wie ungeschickt manche Leute sich anstellen, wie peinlich berührt sie sind. Haben die sich nicht informiert, was das für eine Inszenierung ist? Trotzdem: alles easy, die Situationen gehen schnell vorbei. Die (verschonten) Frauen an meinem Tisch gehen richtig mit, rufen dazwischen – endlich mal Action und alles so transparent, man kann mitlesen, im Schwarzlicht leuchten die markierten Passagen grell, die Eingang in die Inszenierung gefunden haben. Viele sind es nicht, Regisseur Köhler strebt rasch zum Kern – zum Jahrmarkt-Auftritt des Cavaliere Cipolla, "in dem sich das eigentümlich Bösartige auf menschlich sehr eindrucksvolle Weise zusammenzudrängen schien".
Der vollendete Scharlatan
Diese Mann'sche Vorgabe erfüllt Paul Schröder mit Bravour. So unsympathisch und doch begeisternd, der vollendete "Typus des Scharlatans, des marktschreierischen Possenreißers", wie ihn Mann beschreibt. Ein Zauberer, der ein situiertes, in der Masse eher unwilliges Publikum führt (oder besser: treibt). Stellvertretend für eine Frau, die Cipolla bei Mann durch pure Behexung auf die Bühne zieht, führt er alle anwesenden Damen nach draußen, "die Arme steif, die schönen Hände etwas aus dem Gelenk erhoben", so viel Texttreue muss sein. Es gibt Sekt. Sie müssen rezitieren. Eine beugt sich vor die Kamera und sieht daher in der Projektion im Zuschauerraum grotesk aus. Lacher. Konsumieren Sie auch das Selfie, das auf der Seite des Schauspielhauses eingestellt ist. Da glotzen sie alle voll beknackt. Köstlich! Gut gemachte Unterhaltung.
Zurück im Raum schieben wir die Tische beiseite für die Tanzszene. Cipolla macht die weniger Vornehmen in seinem Publikum lächerlich, indem er sie zu Zuckungen zwingt. Schröder hingegen lässt sich an die Decke ziehen, Elektro-Mucke ertönt und sein Alter ego zappelt als Projektion an der Wand. Das ist ein bisschen enttäuschend, die Vorstellung, dass ein (vorwiegend älteres) Premierenpublikum zu Clubmusik durch den Raum getrieben wird, hatte was. Aber es fehlt ja noch das "Ende mit Schrecken": die Demütigung des Kellners (von Mann als Erscheinung von eher unvorteilhafter Statur beschrieben). Der blasse Enkel an dem Tisch hinten rechts, das würde passen. Schröder schwebt herab – und wählt mich.
Mein Moment im Scheinwerferlicht
Ohhh, blöd gelaufen. Mit wackligen Knien im Scheinwerferlicht. Sitzt im Publikum jemand, der mich kennt? Und zurück zu Mann: Warum bin ich nicht gegangen? Absurde Frage. Das macht man einfach nicht. Konnte man ja vorher nicht wissen. Schröder macht sich über meinen Pulli lustig. Ich sage nichts. Ich könnte nur verlieren. Du darfst jetzt nicht blöd aussehen! Lies meine Gedanken, Drecksack: Ich kündige das Abo, das ich nicht habe, wenn ich bloßgestellt werde. Gott sei Dank. Ich höre nicht mehr auf den Text, bekomme aber mit, dass wir die Rollen tauschen. Mario sehnt sich nach einem Mädchen – das einen anderen liebt, der auch im Publikum sitzt. Schröder ist Mario, ich bin Cipolla, Mario in Trance glaubt, dass Cipolla das Mädchen ist und nähert sich. Hoffentlich macht keiner ein Handy-Foto. Unsere Lippen treffen sich. Noch mehr Text rauscht vorbei. Die letzte Regieanweisung lautet: Buch zerreißen. Das hat etwas sehr befreiendes. Uff. Erwartungshaltung der Inszenierung erfüllt.
Wenn man gut mitläuft, geht es. Ich musste den Faschismus nur küssen. Er hat weiche Lippen. Er sieht eigentlich ganz sexy aus. Der Premierenfeier-Sekt schmeckt auch gut. Jetzt, beim Nachlesen, fällt mir auf, dass ich in meiner mir zugewiesenen Rolle mein Gegenüber getötet habe. Ist mir im Scheinwerferlicht gar nicht aufgefallen, obwohl ich Bruchstücke der entscheidenden Stelle vorgelesen habe. War zu sehr darauf fixiert, welche Figur ich mache. Lese den Soziologen-Text über Soldaten im Krieg noch mal. Ups.
Mario und der Zauberer
nach der Novelle von Thomas Mann
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Lasse Schwanck, Video: Tobias Dusche, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Paul Schröder.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Tilmann Köhler habe Thomas Manns "fulminante Prosa nicht, wie befürchtet, zu einem Drama verarbeitet", sondern lasse im Monolog "die Sprache zu ihrem Recht" kommen, schreibt Jürgen Holwein in den Stuttgarter Nachrichten (24.5.2014). Schön sei, wie Paul Schröder stets die Überdeutlichkeit vermeidet, zu der Manns Text ja auch verleitet." "Statt flirrender Virtuosität" bringe er "leise Qualitäten" ein. "Nicht grelle Lautheit, ein nach innen projizierter, leichthändiger Ton steht im Raum." "Höhepunkt der Show" sei der schwebende Schröder, den das Video als "gefangen in der marionettenhaften Breakdance-Mechanik seiner Körpermaschine" zeigt. Der Schlussteil wirke hingegen "angehängt, allzu ausgedacht." Es sei "kein politisches Statement", aber auch nicht bloß technische Finesse, wenn hier "die totale Kontrolle der Zuschauer durch Kameraüberwachung (und grenzenlose Datenspeicherung) sichtbar" gemacht würden. Man könne "über Schröders aufblitzendes Improvisationsgenie amüsiert sein, aber irgendwann ist es nicht mehr lustig, permanent bespielt zu werden. Mal im Ernst: Hätte das Publikum sich verweigern, im Theater den Spielverderber geben sollen? Was passiert, wenn keiner mitspielt?"
"Eine schlüssige Idee", den Abend "wie eine Zaubervorstellung zu inszenieren", findet Tim Schleider von der Stuttgarter Zeitung (24.5.2014). "Ein Teil des Abends ist tatsächlich Zauberei, (...) was wie nebenbei demonstriert, wie leicht wir uns dirigieren und dressieren" lassen. Wer Manns Novelle nicht kenne ("ein Zustand, den sich Theaterdramaturgen (...) offenbar nicht mehr vorstellen können"), bleibe "wahrscheinlich lange ratlos". "Nichts zieht in diesen Theaterabend hinein, keine Atmosphäre, keine Dichte, kein Erzählstrang. Alles, was uns die erste halbe Stunde lang beschäftigt, ist die Frage, wen sich Paul Schröder aus der Zuschauerschar wohl als Nächstes herauspickt". Wem vor "derlei Mitmachtheater" nicht bang sei, könne seine Freude an Schröders Improvisationen haben. Letztlich schaue man bei alldem aber "nur dem Theater bei der Arbeit zu." Der Novellentext wirke bisweilen wie ein "Fremdkörper oder schlimmer: wie ein Pausenfüller bis zur nächsten Nummer." Dichte, Konzentration und Spannung bekomme der Abend "erst beim Finale", das "einige unglaublich intensive Minuten" entwickele – "entschieden zu spät".
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