Alles verblüht

von Sascha Westphal

Recklinghausen, 28. Mai 2014. Blütenkelche, die sich im Zeitraffer öffnen. Zunächst noch in beschaulichem Tempo, dann immer schneller und schneller. Etwas Verzweifeltes scheint in diesen Videobildern zu liegen, die auf eine milchige Plastikfolie im Zentrum der Bühne projiziert werden. Ein Weltlauf gegen die Zeit und die Natur. Im Anfang liegt schon der Keim des Endes. Auf das Aufblühen folgt das Verblühen. Also löscht ein hell strahlender Scheinwerfer schließlich die Blütenvideos aus. Sie verschwinden im Licht. Dann wird die Folie weggerissen und ein sich nach hinten verjüngender schwarzer Kasten sichtbar, dessen Boden, Decke und Seitenwände der Bühnenbildner Beni Küng mit Silberfolie bedeckt hat.

Ein Spiegelraum hinter den Blüten, eine in sich geschlossene Welt, die kein Außen kennt. In ihr gefangen, aber zumindest eine kurze Zeit lang auch in ihr geborgen: die von Linda Schlepps gespielte Molly Sweeney. Als sie zehn Monate alt war, ist die Tochter eines irischen Richters erblindet. Seither lebt sie in einer Welt, die sie sich vor allem mit den Händen und ihrem Geruchsinn erschlossen hat. Schon als kleines Mädchen konnte sie mehr als 70 Blumen und Kräuter identifizieren.

Partitur der Erinnerungen

Mittlerweile ist Molly fast Vierzig und eigentlich zufrieden mit ihrem Leben und ihrer Welt. Doch ihr Ehemann Frank (Franz Xaver Ott) kann nicht aufhören, an ein Wunder zu denken. Und wenn Frank einmal für etwas, einen Menschen, eine Idee oder eine Sache, entbrannt ist, kennt sein Enthusiasmus keine Grenzen. Und nun will er seine Frau unbedingt "retten". Also stellt er ihren Fall Dr. Rice (Oliver Moumouris) vor. Der war einmal ein überall auf der Welt gefragter Augenarzt, ein moderner Ikarus, wie er sich selbst nannte. Doch dann hat ihn seine Frau für einen seiner Freunde und Kollegen verlassen. Er ist daraufhin abgestürzt und äußerst unsanft in der irischen Provinz aufgeschlagen. Dabei sind ihm nicht viel mehr als ein paar hochfliegende Phantasien von neuem Ruhm und später Genugtuung geblieben.

molly sweeney1 560 richard becker uAlles plötzlich blau: Linda Schlepps in "Molly Sweeney" © Richard Becker

Nichts als Erinnerungen. Dazu gehören auch die Videobilder der aufblühenden Blüten, mit denen Philipp Becker seine ansonsten meist sehr zurückhaltende, den Text und die Schauspieler bewusst in den Vordergrund stellende Inszenierung eröffnet. In dem Moment, in dem die Folie fällt und Linda Schlepps mit den Gartenlektionen aus Mollys Kindheit einsetzt, sind nicht nur alle Blumen, sondern längst auch alle Hoffnungen verblüht. Molly, Frank und Dr. Rice ist nichts mehr geblieben, außer ihrer Geschichte. Und die erzählen sie nun jeder für sich aus ihrer eigenen Perspektive.

Hölle aus guten Absichten

Brian Friel verzichtet in "Molly Sweeney" auf jeden Dialog und jegliche dramatische Aktion. Er schneidet einfach nur die Erzählungen ineinander. Bruchstücke dreier Monologe, die Puzzleteilchen gleichen und sich am Ende zu dem Bild einer von den Männern in ihrem Leben erdrückten Frau zusammensetzen. Rechts und links grenzen an Mollys Spiegelsaal zwei kleine schwarze Kammern, in ihnen stehen Dr. Rice und Frank. Nur können Oliver Moumouris und Franz Xaver Ott anders als Linda Schlepps nach vorne ins Freie treten.

Doch selbst, wenn die beiden vor dem Kasten stehen, wirft keiner von ihnen auch nur einen Blick auf Molly. Philipp Becker inszeniert diese Partitur der Erinnerungen als Choreographie von Nicht-Blicken. Frank und Dr. Rice sprechen zwar immer wieder von Molly, aber nicht wirklich als Mensch mit eigenen Ideen und Träumen. Sie ist für beide eher ein Projekt, etwas worauf sie sich stürzen und ihre eigenen Hoffnungen gründen können. Dabei meinen sie es durchaus gut mit ihr. In Franz Xaver Otts immer wieder ironisch gebrochenen Schwärmereien und in Oliver Moumouris stoisch vorgetragener Beichte eines gescheiterten Lebens offenbaren sich zwei tragische Egoisten. Wie heißt es doch: Der Weg in die Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Nur nehmen sie dabei gleich Molly mit.

Angriff auf die Sinne

Zunächst bewegt sich Linda Schlepps mit einer fast schon traumwandlerischen Sicherheit und Selbstverständlichkeit in dem spiegelnden Kasten. Gerade, wenn die beiden Männer sprechen und sie ganz in sich und dem Moment zu ruhen scheint, versteht man, dass Molly, auch ohne sehen zu können, Herrin ihrer Welt ist. Doch das ändert sich in dem Augenblick, in dem ihr Dr. Rice durch zwei Operationen einen Teil ihres Augenlichts zurückgibt.

Das erste Sehen wird in Philipp Beckers Inszenierung zu einem überwältigenden Angriff auf die Sinne. Farben und Worte flackern über die hintere Wand des Kastens. Mit einem Trick teilt er zudem noch Dr. Rice in zwei Teile, die räumlich nicht zusammenkommen können. Auch Linda Schlepps ist danach eine andere. Unsicher und verschlossen, von Angst und Überforderung gezeichnet, liegt sie auf dem Boden. Aus dem Dunkel ist sie in ein alles auslöschendes Licht gefallen. Ein tragischer Moment tiefer Erkenntnis: Sehen kann auch das Gegenteil von Verstehen sein.

Molly Sweeney
von Brian Friel, Übersetzung von Ingrid Rencher
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen und des Theater Lindenhof, Melchingen Regie: Philipp Becker, Bühne: Beni Küng, Musik: Johannes Hofmann und Anna Katharina Bauer.
Mit: Linda Schlepps, Oliver Moumouris, Franz Xaver Ott.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.theater-lindenhof.de

 

Kritikenrundschau

"Behutsam, mit feinem Humor, eindringlichen Bildern, einem starken Schauspieler-Trio, dabei kein bisschen rührselig" erzähle Philipp Becker Brian Friels "Fabel von der rastlosen Suche nach Glück, die viele Menschen treibt", schreibt Tina Brambrink in der Recklinghäuser Zeitung (31.5.2014). Mit einer ausgefeilten Lichtregie und klug eingesetzten Videosequenzen verstärkt Philipp Becker jede Emotion und hält über 105 Minuten mühelos die Spannung."

Unter die Haut gehe der Abend nicht, dafür sei Philipp Beckers Inszenierung zu statisch und zäh, urteilt Kai-Uwe Brinkmann in einer Kurzkritik in den Ruhrnachrichten (30.5.2014). Auch das Bühnenbild könne nicht kompensieren, "was diesem steifen Erzähl-Theater an Sinnlichkeit fehlt".

 

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