Seelenfänger mit Störgeräuschen

von Julia Stephan

Zürich, 28. Mai 2014. Dass Gregor Alexandrowitsch Petschorin "Ein Held unserer Zeit" (1841) ist, behauptet der Titel von Michail Lermontows einzigem vollendeten Roman nicht ohne Ironie. Einen genauso ironischen, aber auch tödlichen Seitenhieb hat dem Autor später die eigene Lebensgeschichte verpasst: Ein Jahr, nachdem er seinen Roman fertiggestellt hatte, duellierte sich der Russe nach dem Vorbild seines Romanhelden mit einem Offizierskameraden. Anders als Petschorin hatte er Pech. Lermontow starb – 27-jährig – einen Tod, wie ihn viele seiner literarischen Figuren nicht besser hätten vorsterben können. (Auch) aus dem Pathos dieses Endes speist sich bis heute sein Nachruhm.

einheldunsererzeit2 560 raphael hadad uEin Antiheld und sein weibliches Objekt: Dagna Litzenberger Vinet als Prinzessin
und Johannes Sima als Petschorin © Raphael Hadad

Es ist derselbe Pathos, mit dem der Romanheld Petschorin seinen bohrenden Selbsthass verkleidet. Mitten im Leben hat der junge Petersburger Offizier bereits die Bilanz eines alten Mannes gezogen: "Aus dem Sturm des Lebens rette ich nur einige Ideen – aber kein einziges Gefühl." Dafür zieht Petschorin wie ein Raubritter durchs russische Zarenreich, stopft sein langweiliges Leben unersättlich mit "fremden Freuden und Leiden" aus, schneidert sich auf Kosten anderer neue Possen und Alltagsdramen.

Sturm im Plastikbecher

Doch dieser Gefühlsvampir hat auch ein Gewissen. Das macht ihn so ungeheuer spannend. In Petschorins Tagebucheinträgen, die das Kernstück von Lermontows multiperspektivischem Roman ausmachen, bekennt "der moralische Krüppel" sich bis zum Abgrund zu seiner Bosheit. Darin wirkt er sympathischer als manches seiner Opfer, wie etwa der aufrichtig liebende, aber im Hassen inkonsequente Militärkumpan Gruschnitzkij oder sein bester Freund Doktor Werner (Gottfried Breitfuss).

Für Petschorin sind Leidenschaften nur ein Sturm im Wasserglas. Einmal geschüttelt, sind die Wogen bald geglättet. Einem Sturm im Plastikbecher gleicht die erste Inszenierung der 1988 in Kiev geborenen Regisseurin Kateryna Sokolova. Sokolova, die am Zürcher Schauspielhaus bisher als Regieassistentin gearbeitet hat, verengt den multiperspektivischen Roman auf ein Kammerspiel. Auf die Romanstellen, die Petschorin aus der Außenperspektive beschreiben, hat sie fast komplett verzichtet. Den explosiven Gefühlsstoff bezieht sie aus den Tagebucheinträgen Petschorins, in denen der Offizier von seinen amourösen Verwicklungen in einem kaukasischen Kurort berichtet.

Kasernendrill und pseudo-mondäne Kurortstimmung

Doch am Quellwasser erfrischen sich die Damen und Herren der feinen Gesellschaft in der Studiobühne Kammer des Schauspielhauses Zürich nicht. Hier bedienen sie sich am prosaischen Wasserspender moderner Großraumbüros. Ihre fürstliche Haltung nimmt dabei keinen Knicks. Und die weiße Spitze der umschwärmten Prinzessin Mary und ihrer verheirateten Kontrahentin, bei der Petschorin an ein vergangenes Techtelmechtel anknüpfen will – Dagna Litzenberger Vinet spielt beide mit herrlich treudoof aufgerissenen Rehaugen – nimmt sich merkwürdig deplatziert aus auf einer Bühne, die mit ihren Betonwänden, Stahlspinden und ein paar verlorenen Gartenstühlen aus Plastik Marmorwerk, Kasernendrill und pseudo-mondäne Kurortstimmung in einem Bild vereint (Bühne: Michela Flück).

einheldunsererzeit4 560 raphael hadad uKostümschinken zwischen Marmor, Beton und Stahl © Raphael Hadad

In diesem Setting versteckt der im dunklen Militär-Zweireiher steckende Petschorin (Johannes Sima) hinter dem Rücken die Hände – und die böse Absichten mit dazu. Seinem liebestollen Kumpel Gruschnitzkij (Milian Zerzawy) will er die Angebetete Mary wegschnappen. Aus Langeweile. Der watschelt seiner Traumfrau als sentimentaler Barde mit Gitarre hinterher. Für Petschorin dagegen kommt nur die Heldenrolle in Frage. Mit einem Kuss bei der gemeinsam getanzten Mazurka, der im Roman lediglich die Hand streift und auch bei Sokolova in Marys Worten ein Handkuss bleibt, siegt der Seelenfänger Petschorin.

Manierierte Hüpfer und Drehungen

Kateryna Sokolova hat viele solcher Gesten in ihre Inszenierung eingebaut. Sie orchestrieren die seelische Annäherung. Doch die manierierten Hüpfer und Drehungen machen aus dem komplexen Roman - der auch die Frage stellt, ob ein Lebensweg vom Schicksal vorherbestimmt ist, oder lediglich eine zufällige Ereigniskette - einen harmlosen Reigen. Lediglich Becky Lee Walter sorgt mit ihrer E-Gitarre aus dem Off ab und zu für Störgeräusche.

Schade, dass dabei ausgerechnet Petschorin zum Langweiler wird – seine Gegner fesseln da mehr. Johannes Sima gesteht seinem Helden einen arg limitierten Ausdruck zu. Dieser Petschorin ist dauerhaft angepisst. Wo ist die Verzweiflung, wo die ab und zu aufblitzende Reue, die den Anti-Helden auf seinem kompromisslosen Lebensweg begleitet?  
Ein bisschen mehr sprudelndes Quellwasser hätte der Inszenierung dieser jungen Regisseurin dann doch gut getan.

 

Ein Held unserer Zeit
Nach dem Roman von Michail Lermontow, Bühnenfassung von Kateryna Sokolova
Regie: Kateryna Sokolova, Bühne: Michela Flück, Kostüme: Noelle Brühwiler, Musik: Becky Lee Walters, Dramaturgie: Karolin Trachte.
Mit: Gottfried Breitfuss, Dagna Litzenberger Vinet, Johannes Sima, Milian Zerzawy.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

In der Neuen Zürcher Zeitung (30.5.2014) schreibt Claudio Steiger: Auf Michela Flücks "schön simpler Bühne" sei die "Episodenvielfalt der Vorlage (...) auf die Dreiecksgeschichte" zusammengeschrumpft. Aber auch wenn "die komplexe Erzählstruktur des Romans" nur angedeutet werde, gewinne der Abend "doch immer weiter an Intensität und lässt die vier Schauspieler sich in einen regelrechten Taumel spielen. Packende achtzig Minuten junges Theater."

Kateryna Sokolovas Bühnenfassung wirke "wie ein schnell angekurbelter Leierkasten mit sehr feinen Tönen", schreibt Adrian Schräder im Tagesanzeiger (30.5.2014). "Rasantes Schauspiel, in dem weder die sprachlichen Finessen noch die gesellschaftlichen Lähmungserscheinungen untergehen".

"Allzu unverblümte Seitenhiebe auf das aktuelle Russland darf man von dieser Inszenierung nicht erwarten", schreibt Stephan Reuter in der Basler Zeitung (30.5.2014). Kateryna Sokolova verlasse sich in ihrer Bühnenfassung völlig auf das Herz von Lermontows novellistischem Roman, auf Petschorins Tagebuch, auf das Porträt einer kaltblütigen Epoche. "Sie arrangiert die Figuren solide, arbeitet zielstrebig auf das Duell unter ehemaligen Freunden hin, huscht aber auch über manche Schlüsselszene hinweg, etwa als Petschorin Mary vor einem peinlichen Tanz mit einem volltrunkenen Hauptmann bewahrt."

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