Was ist und was sein wird

von Martin Krumbholz

Recklinghausen, 5. Juni 2014. Etel Adnan, 1925 in Beirut geboren, hat eine faszinierende Biografie. Die Tochter eines syrischen Offiziers studierte an der Sorbonne und in Harvard Philosophie, unterrichtete dieses Fach in den USA, arbeitete vor dem Bürgerkrieg im Libanon als Feuilletonredakteurin, ging erneut nach Frankreich und in die USA; sie schrieb und malte, fand spät Anerkennung als Künstlerin, auf der Documenta 2012 war ihr eine beeindruckende Retrospektive gewidmet – eines der herausragenden Ereignisse dieser Ausstellung. Der Tanzabend, den Corinna Harfouch in Kooperation mit dem Berliner HAU bei den Ruhrfestspielen zur Aufführung brachte, basiert auf Adnans Text "In einer Kriegszeit leben" aus dem Buch "Im Herzen des Herzens eines anderen Landes".

Energie, Vitalität, Willen

Es ist ein eigener, eigensinniger Abend geworden, unprätentiös, suggestiv, berührend. Seine Botschaft, wenn man es so nennen kann, besteht in dem schlichten Appell, trotz der andauernden Erfahrung des Krieges – die "Drei" im Titel bezieht sich auf das Jahr 2003 und den zweiten Irakkrieg – sich nicht entmutigen zu lassen. Sie sei ein pessimistischer Mensch, schreibt Adnan, denn sie stamme aus einem Raum, in dem seit einem Jahrhundert fast ununterbrochen Krieg herrsche. Trotzdem erneuere sich das Leben, "und die Sonne scheint verschwenderisch für alle, die sich von ihr wärmen lassen".

dreizehn 560 dieter hartwig uImmer in Bewegung: die Tänzer vor ihren Bretterwänden @ Dieter Hartwig

In dieser Überzeugung wurzelt Adnans farbintensive abstrakte Malerei, die auf jede Abbildung des Schreckens verzichtet, und hier knüpft auch der Tanzabend an, der – bei allem durchaus spürbaren Pathos – mit einer einzigen Ausnahme auf jegliche plakative Mittel verzichtet und stattdessen den Lebensmut, die Energie, die Vitalität und den Willen fordert und feiert.

Keinen Augenblick zur Ruhe kommen

Es beginnt damit, dass sieben Tänzer, zunächst langsam, dann das Tempo rasant forcierend, scheinbar unsystematisch ein Baukastensystem aus schlichten Bretterwänden immer neu formieren. Kaum ist eine Ordnung erstellt, wird sie wieder verändert, umgebaut, neu formiert – eine einleuchtende Metapher für die Suche nach Schutz in einer Lebenswelt, die keine Beständigkeit kennt. Dann werden die weißen Bretter als Projektionsflächen genutzt für einen Video-Schnelldurchlauf durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute. Die teilweise schön laute Musik speist sich aus vielen Quellen, von elektronischer Popmusik bis zu sakraler Vokalmusik.

Corinna Harfouch sitzt in der ersten Reihe im Publikum und trägt einen Text vor, der – zunächst im dezidiert trockenen Infinitivstil – einfache Vorgänge beschreibt, die sich auf den Morgen des Kriegsbeginns im März 2003 beziehen. Dann erhebt sich eine alte Dame (es ist nicht Etel Adnan, der lakonische Programmzettel teilt nichts über die Akteure mit), wird von den Tänzern durch den Raum geführt und behutsam in die Performance einbezogen. In ihrer Schlichtheit und unschuldigen Anmut ist diese Dame von nun an ein Blickfang: Einmal tanzt sie allein, später, wenn es um sie herum immer virtuoser zugeht, nimmt sie Bewegungen sparsam auf und imitiert sie. Sie könnte durchaus die Stellvertreterin Etel Adnans auf der Bühne sein: eine würdevolle Person, Schutz und Geborgenheit suchend in einem Kreis von Menschen, die ihrerseits umgetrieben sind, keinen Augenblick zur Ruhe kommen in einem Ablauf von Aktivitäten im Auge des Sturms, der der Krieg ist.

Die permanente Veränderung einer Anordnung im Raum

"Der Körper verliert seine Unversehrtheit", heißt es in dem Text, den Harfouch fast im Stakkato, ohne große Gestaltungsabsicht, sitzend vorträgt. Das ist das Thema des Abends: die Verletzlichkeit des Menschen in einer Welt, die ihre zerstörerischen Kräfte nicht unter Kontrolle hat. Ordnungen werden ersonnen – die Verfassung des Libanon mit ihren ausbalancierten christlichen und muslimischen Koordinaten ist ein Beispiel dafür – und wieder in Frage gestellt.

"Unsere Existenz ist das stets veränderliche Ergebnis all dessen, was ist und was sein wird", sagt Etel Adnan. So ist die Bewegung, die permanente Veränderung einer Anordnung im Raum auch das prägende physische Ereignis dieser beeindruckenden Performance.  

 

Dreizehn Drei Dreizehn
von Corinna Harfouch. Nach "In einer Kriegszeit leben" von Etel Adnan.
Künstlerische Leitung: Corinna Harfouch, Mitarbeit: Anna-Luise Recke, Bühne und Video: Julia Oschatz, Kostüme: Lane Schäfer, Musik: Hannes Gwisdek, Peter Bartz.
Von und mit: Ruth Bickelhaupt, Benjamin Coyle, Corinna Harfouch, Rainer Müntinga, Caroline Meyer-Picard, Anna-Luise Recke, Anke Retzlaff, Catherine Stoyan, Angelika Thiele.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Die Folie bildet ein Tanzensemble, das ein Gegengewicht zu Adnans Worten sein soll, "doch ein Zuviel an Assoziationsketten erdrückt Adnans Leitgedanken", findet Anke Schwarze im Westfälischen Anzeiger (7.6.2014). Als Projektionsfläche dienen weiße Rigips-Stellwände, "sie bilden den optischen Leitfaden. Wege und Räume entstehen und verschwinden." Dem Fließen hafte etwas Friedliches an, dann wummern und treiben Bässe den friedlichen Rhythmus des Schaffens und Häuslebauens auseinander. Die einzelnen Szenen seien stark und eingängig. "Nur bleibt es bei einer Aneinanderreihung, wie in der Bilderschau, die als buntes Kaleidoskop auf die Stellwände projiziert wird: Willy Brandt, Fidel Castro, Kriegsbomber, Bilder von Picasso." Adnan komme am Ende selbst zu Wort. "Aus dem Off appelliert sie an das Glück des Augenblicks. Es ist wieder ein starker Moment. Aber einer zuviel."

 

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