Das Glas wird nicht leer

von Eva Biringer

17. Juni 2014. 2500 Jahre nach seiner Geburt müssen wir uns das Theater als Greis in Kindergestalt vorstellen. Oder ist das Theater schon tot?

In seinem Buch "Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos" umreißt Rüdiger Schaper die Geschichte der darstellenden Kunst anhand einzelner Künstler, Strömungen, Theaterereignisse, natürlich höchst selektiv und nicht auf Vollständigkeit bedacht. Hierzu bemüht er die Metapher eines alten Mannes, der sich verjüngt, anstatt zu welken, wie die Filmfigur Benjamin Button.

Am Anfang waren also die greisen Griechen, Aischylos, Sophokles, Euripides. Von da geht es über Umwege (Tschechow, Ibsen, Strindberg) zum "sechzehnjährigen" Shakespeare ("rücksichtslos und zart, wankelmütig und explosiv, geil und verliebt") und weiter zu Christoph Schlingensief, einem Trotzkopfkind, das partout nicht zu Bett gehen will. Das Theater steht heute demnach am Anfang seines Lebens – und zugleich an seinem Ende, denn mit Schlingensief stirbt laut Schaper der letzte Bühnenberserker.

Die Stimme des Enttäuschten

Als Leiter des Kulturressorts des Tagesspiegels kennt Schaper das Who is Who der Theaterwelt, da mischen sich zwangsläufig Beruf und Privates. Unklar bleibt, warum sich ein ganzes Kapitel der Liebesbeziehung zwischen Sonja Wiberg und Alexander Moissi widmet, mit Sätzen wie diesen: "Einmal meinte er zu ihr: 'Du bist nicht sinnlich genug.' Sie war ein großes Mädchen, ein Meter vierundsiebzig. Das naive Hascherl war sie nie." Vielleicht, weil er vor 14 Jahren ein Buch über die "Schauspielerlegende" Moissi veröffentlicht hat? Oder weil auch Feuilletonisten einmal Klatschblattluft schnuppern wollen?

cover schaper spektakel 140Auch mit dem Anfang des Jahres verstorbenen Dimiter Gotscheff war Schaper offenbar in quasi-freundschaftlicher Beziehung verbunden ("Da wurde das Glas nicht leer"). Wie viele Gläser Journalisten und Regisseure gemeinsam leeren sollten, steht auf einem anderen Blatt.

Oft spricht die Stimme des Enttäuschten, der mitunter die Museen den Theatern vorzieht, da sich ihm zufolge hier eher kathartische Momente ergeben. Nicht jedoch bei experimentellen Künstlern wie dem großartigen Tino Sehgal, dessen komplexes Werk in einem Nebensatz abgefrühstückt wird, sondern beim Anblick eines nackten Putten im Louvre. Deren dramatische Entsprechung sind die antiken Tragödien, an deren Vollkommenheit schwerlich etwas heranreicht. Werktreue steht für den Autor denn auch an oberster Stelle. Dass das Theater auf eine Form der Regie nicht ganz verzichten kann, wird als lästiger, aber leider nicht zu ändernder Umstand akzeptiert.

Ein bisschen Rock, ein bisschen Glück

Als man schon glaubt, der Autor sei irgendwo in den hinteren Reihen in einen immerwährenden Theaterschlummer versunken, blind für das Potential der Gegenwart, stolpert man über treffliche, schöne Formulierungen angesichts des Volksbühnenkrawalltheaters der 90er. Über Christoph Marthalers Inszenierung "Murx den Europäer" heißt es: "Plötzlicher Aufbruch aus somnambuler Grundstimmung und Rückfall in den Mustopf." Frank Castorf sei ein "Jim Morrison der Nachwendezeit", und dass er den Ideen des wilden Pop und Rock nicht abgeneigt ist, hat Schaper einige Kapitel zuvor am Beispiel der Schallplatte belegt. Auch Herbert Fritsch mit seiner "Pflicht zum Glücklichsein" kommt ins gute Töpfchen.

Anders verhält es sich mit der zeitgenössischen Dramatik, die Schaper als "einsilbig, sprachverdreht, handlungsarm" bezeichnet. Elfriede Jelineks Textmassen sind ihm suspekt, ebenso das Performancekollektiv Signa, "die vorerst letzte Schwundstufe des Performativen." Schapers Logik ist so einfach wie radikal: Theater hat dem Text zu dienen, und da das zeitgenössische Theater kein relevantes Textmaterial hervorbringt, verspielt es jegliches Potential. Dabei gibt es sie doch, die talentierten Nachwuchsschreiber! Anstatt die Toten zu beklagen (Sarah Kane in allen Ehren), sollte der Autor vielleicht einmal bei einem der zahlreichen Stückemärkte vorbeischauen.

Muss das sein?

Entsprechend der Haltung des gebildeten, erfahrungssatten Theatergängers plaudert Schaper mitunter am Leserverständnis vorbei. Ellipsen, nicht nachvollziehende Gedankensprünge, zielloses Mäandern – diese Abruptheit der Gedanken ist prätentiös. Zudem wirken einige Formulierungen pathetisch und, mit Verlaub: aus der Zeit gefallen. Über Jürgen Gosch etwa heißt es: "Seine Aufführungen atmeten den unergründlichen Geist einer Theaterprobe, wenn ein Moment entsteht, wenn die Zeit steht wie ein tiefes Wasser und ein Engel durch den Raum geht."

Dass uns Nachgeborenen solche metaphysischen Erfahrungen nicht mehr vergönnt sind, schiebt Schaper wenig überraschend auf die "das Zeitgefühl verändernden digitalen Medien." Muss Historie von einem derart reaktionären, dem Kulturpessimismus Tür und Tor öffnenden Standpunkt aus gedacht werden? Ging es seit den antiken Stoffen wirklich stetig bergab? Verläuft Theaterhistorie nicht wie jede andere nicht-teleologisch?

Das Theater ist nicht mit Schlingensief gestorben. Es lebt, es spielt, es tobt, es erobert neue Räume. Es ist vielleicht gerade in seinen Flegeljahren. Wir sollten nachsichtig sein.

 

Rüdiger Schaper
Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos
Siedler, München, 2014, 352 Seiten, 24,99 Euro

 

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