Die Melkkuh des Wiener Kultursektors

7. Juli 2014. Die nach nur einer Spielzeit scheidende Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen Frie Leysen hat in einem Offenen Brief an den Aufsichtsratsvorsitzenden Rudolf Scholten zum Rundumschlag ausgeholt und grundlegende Kritik an der Struktur des Festivals geübt. In dem Brief, den das Nachrichtenmagazin Profil am heutigen Montag veröffentlichte, heißt es: "Nach mehreren Monaten ständigen Konflikts bei der Vorbereitung der letzten Spielzeit der Festwochen stellte ich fest, dass das Hauptproblem des Festivals das grundlegende Fehlen einer Vision ist. Nie gab es im künstlerischen Leitungsteam eine Grundsatzdiskussion und ein Nachdenken darüber, was ein Festival heutzutage bedeuten könnte oder sollte".

Frie Leysen äußert den Verdacht, dass solche Grundsatzdebatten "von den Führungsgremien des Projekts nicht gewünscht werden". Das Fehlen einer Vision sorge dafür, dass entscheidende Fragen unbehandelt blieben: "Welche Art künstlerischer Arbeit sollte das Festival produzieren oder koproduzieren, welche Künstler sollte es unterstützen? Beteiligt es sich nur an der Zusammenarbeit mit großen, reichen Häusern, Festivals oder Produzenten - oder kann es auch eine wichtigere Rolle für jüngere, talentierte, unabhängige Künstler und Truppen spielen. Welche Künstler sollten präsentiert werden? Die anerkannten Namen oder die nächste, oft unbekannte Generation?"

Leysen übt auch ganz konkret Kritik an der Organisation des Festivals, die sie als ein "feudalistisches System" beschreibt. Schon die gemeinsame Leitung des Geschäftsführers und des Intendanten sei problematisch. "Die Begrenzung der Amtszeit des Intendanten auf drei oder fünf Jahre ist ebenfalls ungünstig. Im Führungsteam wird somit nur durch den Geschäftsführer Kontinuität gewahrt. Bislang kümmerte sich der Intendant nicht wirklich um die Geschäftsgebarung der Festwochen, doch ich meine, dass die künstlerischen und geschäftlichen Aspekte eines Festivals untrennbar miteinander verknüpft sind."

Weiter heißt es: "Mit etwa 70 Prozent des Programms betraut zu sein, ohne finanzielle und organisatorische Fragen, den Arbeitsstil oder die Organisation der internen Kommunikation mitbestimmen zu können, macht es unmöglich, verantwortungsbewusst und konstruktiv zu arbeiten. Schließlich ist der Umstand, dass die Wiener Festwochen als subventionierte Veranstaltung das MuseumsQuartier, eine gewinnorientierte Organisation, als hundertprozentige Tochtergesellschaft betreiben, problematisch. Wessen Interessen genießen Vorrang?"

Auch die "Belegschaftspolitik", die oft nur "politischem Druck und privaten Interessen" folge, wird von Leysen hart kritisiert. Mitglieder verschiedener Teams bildeten "ihren eigenen Staat innerhalb des Staates. Die Sachkenntnis der Belegschaft ist ungleich verteilt, mangelnde Kompetenz wird durch die Anstellung weiterer Leute gelöst, was zu Doppelbesetzungen führt, sodass das Team – im Vergleich zu anderen Kunstprojekten – viel zu groß und das Arbeitspensum der einzelnen Mitglieder zu gering ist."

Infolgedessen würden lediglich fünf Millionen Euro des "gigantischen Budgets" von 13 Millionen Euro "für das Kerngeschäft aufgewendet: die Produktion, Koproduktion und Präsentation künstlerischer Projekte." Zudem gebe es "hinsichtlich der finanziellen Prioritäten nicht genügend Zusammenarbeit oder Diskussion. Die Erstellung des Budgets und die Art, in der finanzielle Entscheidungen getroffen werden, sind nicht transparent." Leysens Ausführungen gipfeln in dem Vorwurf, "dass die Wiener Festwochen als Melkkuh des Wiener Kultursektors gesehen werden".

(profil.at / wb)

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Kommentare  
Frie Leysens Offener Brief: Link zu Scholtens Reaktion
http://kurier.at/kultur/buehne/wiener-festwochen-scholten-vorwurf-der-visionslosigkeit-ungerecht/73.790.980
Frie Leysens Offener Brief: sehr wienerisch
Die Reaktionen sind ja geradezu lächerlich. "Embrace the tiger" heißt die Strategie. Man tut so, als verstünde man gar nicht, wo das Problem liegt. Ist doch alles gut gelaufen, liebe Frie Leysen! Sehr perfide! Sehr wienerisch!
Frie Leysens Offener Brief: für Vision zuständig
Der guten Frau die gut verdiente Rente. Der ganze Brief eine Offenbarung an Anmaßung und Hilflosigkeit. Schlicht ein Bankrott. Für die Vision war doch bitte die gut bezahlte Dame zuständig oder?

Ansonsten, viel gereist und mal wieder nix mit den Leuten vor Ort geregelt bekommen. Hatten wir schon in Mülheim und Essen und Berlin.
Frie Leysens Offener Brief: autistisch
Ihr Nachtreten, Servus, ist ebenso autistisch wie der Brief von Frie Leysen.
Frie Leysens Offener Brief: tiefer verwurzelt
Warum wienerisch? Leysen hat selbst erfahren, dass man auch mit einem unüberschaubaren, scheinbar unlogischen Organisationsvehikel ein gutes Festival machen kann. Und dass das Wiener Publikum Ihr Programm sehr mochte. Aber sie hat ja schon vor den Festwochen bekannt gemacht, dass sie geht.
Und dass man in Wien immer nur ein Drittel des Budgets für die künstlerische Produktion verwenden kann, und der Rest der K & K Administration gehört sollte sich besonders in diesem Jahr international herumgesprochen haben. Das tut freien Theatermachern zwar weh, ist aber so. Auch deshalb ist die Kulturproduktion tiefer verwurzelt in der Stadt - weil sie einige Mäuler mehr satt macht als anderswo.
Frie Leysens Offener Brief: weitere Kulturbaustelle
Klingt sehr glaubwürdig in ihrer Analyse!
Neben dem Burgtheater sind die Festwochen eine weitere Wiener Kulturbaustelle.
Und ihre Vision einer idealen Festivalleitung sollten Ansporn sein.
Frie Leysens Offener Brief: Wiener, schaut auf Salzburg...
Salzburg ist dieses jahr schon von der Oberfläche der Kulturlandschaft verschwunden. Dort hat man das bürgerliche, vollkommen unpolitische, uninspiriert, konservative Programm, dass man in Wien auch bald bekommen wird, wenn man die Kritik von Leysen nicht versteht. Es ging gut und wird auch noch ein paar Jahre weiter gut gehen. Dann werden die verkrusteten, feudalen Strukturen aber ihre Früchte tragen und ein Festival generieren, dass mit der Gegenwart nichts mehr zu tun hat. Servus Wien!
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