Generation im Wartestand

von Steffen Becker

Schwäbisch Hall, 17. Juli 2014. Sein oder Nichtsein? Die entscheidende Frage stellt Hamlet in Johanna Schalls "Hamlet"-Inszenierung auf der Großen Treppe der Freilichtspiele Schwäbisch Hall gleich zu Beginn. Sebastian Kreutz wendet sie auf den Stufen der Kirche St. Michael hin und her. Seine Wort-Sinn-Suche macht er nicht allein mit sich aus: Bettina Storms Ophelia bringt – auf gleicher Stufenhöhe – immer neue formal grammatikalische, aber inhaltlich bedeutsame Vorschläge zur Ausgestaltung des Shakespeare'schen Schlüsselmonologs ein.

Der totale Absturz

In ihrem Blog erklärt Regisseurin Schall den Ansatz, der sich darin zeigt, ex negativo: Hamlet, das sei eine Selbstdarstellungsgelegenheit für von Midlife-Krisen geschüttelte deutsche Groß- und Mittelregisseure. Hamlet, das seien sie selbst, verkannt, einsam, unverstanden, weit tiefer, größer, verzweifelter, als es ihre Umwelt begreifen kann.

hamlet-560-uHamlet (Sebastian Kreutz) im Wartestand
zwischen Stief-Papa und Mama
© Jürgen Weller

Bei Schall ist Ophelia im Gegensatz dazu mehr als ein dekoratives Traummädchen, ein Gegenentwurf zur Hamlet-Figur – beide sind hier Vertreter einer Erbengeneration, die eigentlich nur abwarten müsste, bis ihr der Reichtum zufällt. Jenny Schall steckt sie in die Abendgarderobe der Goldenen Zwanziger – ein geschicktes Bild, weiß man doch um den totalen Absturz, der den rauschenden Partys folgte (Ist es Zufall, dass der letztendliche Sieger, Norweger-Prinz Fortinbras, zum Finale mit gestutztem Schnauzer und in brauner Uniform auftritt?).

Die Jungen leiden an ihrem Wartestand. Während König Claudius (Jochen Neupert) Realpolitik betreibt, quält Hamlet eine ziellose Moral. "Overthinker" und "Underachiever", also als Zuviel-Denker und Zuwenig-Erreicher charakterisiert Schall ihn im Programmheft. In Sebastian Kreutz hat sie eine passende Verkörperung gefunden. Sein Hamlet steht unter Strom, aber mit Ladehemmung. Sein Körper vibriert vor raumgreifender Aggression, die mühsam gezügelten Hass und Ekel ausdrückt. Der Spielort auf einer steilen bemoosten Treppe kommt dieser Burn-Out-Darstellung sehr zupass. Umherstürmen, den Turm besteigen, um mit einem Megafon den berühmten Fluch auf die Schwachheit des Weibes herabzuschleudern, erschöpft am Fuß des Abgangs das eigene Leid beklagen – die Kulisse spielt bei Schall eine eigene dominante Rolle. 

Sommerspektakel mit Ironie

Ophelias Entwicklung ist da stringenter. Die Liebelei verpufft schnell und erbarmungslos. Aus dem naiven Mädchenglück gerissen entwickelt Bettina Storm eine mitreißende gesangliche Selbstzerstörung. Von Herzschmerz ("Big girls don't cry") über Wut ("Whatever happened to the heroes") bis zur düsteren Verzweiflung ("Sweet dreams are made of these"). Dabei zeigt sie eine große Wandlungsfähigkeit wie Energieleistung. In einem Drama der kompletten Hoffnungslosigkeit gibt ihre dem eigenen Ende zielbewusst entgegenstrebende Ophelia das sympathischere Rollenmodell ab als der eher zufällig aus dem Umherspringen gefällte Hamlet. Auch sie spricht den Sein oder Nichtsein-Monolog. Aber bei ihr ist es nicht intellektuelles Spiel, sondern bitterer Ernst.

hamlet 560 fsh juergenweller uTheater im Theater: Die Mausefalle-Szene © Jürgen Weller

So sehr Johanna Schall mit dieser Interpretation des Stoffes ungewöhnliche Akzente setzt, so kann sie sich doch Seitenhiebe auf den Theaterbetrieb nicht verkneifen. Als die Schauspieler auftreten, die Hamlets Onkel durch ihre Darbietung zu einem Geständnis des Brudermords bewegen sollen, werden sie als Allzweckwaffen vorgestellt: Modernes Regietheater haben sie genauso drauf wie "pastorale-tragikomödiantische Klassiker". Hamlet gibt ihnen den Ratschlag, auf eine exaltierte Gestik zu verzichten (deren sich Sebastian Kreutz in seiner Rolle bedient, auch wenn er in dieser deklamiert, dass man nicht noch auf dem letzten Platz verstanden werden muss). Botschaft: Es sind Freilichtspiele. Da macht man halt manche Sachen, für die man sich im Kammertheater zu schade ist, aber wir ironisieren die wenigstens.

Mit solchen Anspielungen fischt Schall nach Lachern, die sie auch bekommt. Die Albernheiten erreichen jedoch ein Maß, das der Inszenierung nicht gut tut. Und auch der gelungenen Darbietung tieftrauriger Hoffnungslosigkeit, die ihre Arbeit von der Treppe auf die Zuschauer hinunterstürzen lässt, nicht gerecht werden.

 

Hamlet
von William Shakespeare
Übersetzung von Georg Herwegh
Regie: Johanna Schall, Bühne: Horst Vogelgesang, Kostüme: Jenny Schall. Mit: Bärbel Schwarz, Bettina Storm, Stephanie Theiß, Shantia Ullmann, Vilmar Bieri, Nils Buchholz, Tobias Dürr, Sebastian Kreutz, Maximilian Löser-Hügel, Jochen Neupert und Hendrik Schall.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.freilichtspiele-hall.de

 

Bitte beachten Sie: Versehentlich ist hier nicht die Premiere, sondern die Voraufführung besprochen worden. Siehe auch Kommentar 5! (wb für die Redaktion)

 

 

Kritikenrundschau

Johanna Schall nehme den "Hamlet" persönlich, schreibt Richard Färber auf dem Online-Portal der Südwest-Presse (21.7.2014). "Ihre Inszenierung wird ein Kampf sein, Destruktivität gegen Destruktivität, der Versuch, das Unaufhaltsame aufzuhalten, und sie wird Ratlosigkeit bewirken, Zorn und schließlich, wenn man das Erlebnis lang genug bedacht hat, ein breites Grinsen – und das nicht nur, weil Shakespeare sich als der Stärkere erwiesen hat." Notgedrungen gehe "dieses inszenatorische Konzept auf Kosten der Schauspielerei. Die Regie regiert, streicht und kegelt Szenen durcheinander, fügt zusammen, was nicht zusammen gehört, kehrt das Innere nach außen, petzt." Wie aber, fragt Färber, "soll man diesen Charakter auch durchleben, wenn man ständig ausgebremst wird und sich den Schrullen der Regie fügen muss? Gar nicht. Die Irritation der Schauspieler ist Konzept, und sie spielen mit."

Im Zollern-Alb-Kurier (21.7.2014) schreibt Jürgen Kanold, es sei "faszinierend, wie Johanna Schall (…) ganz exakt in Hall mit den Schauspielern und der Sprache (ein Totengräber ist Schwabe) gearbeitet hat und viele Interpretationsgedanken ins Spiel bringt. Ihre Kritik am Klassiker aber bleibt spielerisch, freilichttheaterbunt." Wer in Schwäbisch Hall an der Welt zweifele, das seien nicht nur Hamlet und Ophelia, "es ist auch die Regisseurin, die mit dem weltberühmtesten Schauspiel nicht einfach schnöde das Sommerpublikum befriedigen will." Sebastian Kreutz als Hamlet sei herausragend: "Virtuos, wie er den vor Aggressionen kochenden Hamlet unter Kontrolle hält, aber jederzeit Einblick gewährt ins Seelenkraftwerk der Rolle."

 

Kommentare  
Hamlet, Schwänisch Hall: vor der Premiere 1
Herr Becker schreibt eine Kritik bevor überhaupt die Premiere stattgefunden hat?
Hamlet, Schwäbisch Hall: vor der Premiere 2
Wenn ich das richtig sehe, wurde hier die Voraufführung besprochen. Das ist doch eigentlich nicht gerade üblich. Oder?
Hamlet, Schwäbisch Hall: vor der Premiere 3
Wieso gibt es heute schon eine Kritik, obwohl heute Abend erst Premiere ist? Versteh ich nicht.

narzisse
Hamlet, Schwäbisch Hall: vor der Premiere 4
Das nenne ich aktuell, Kritik vor der Premiere.
Hamlet, Schwäbisch Hall: Entschuldigung der Redaktion
O je, jetzt haben Sie die nachtkritik und vor allem mich als den Planer dieses Termins bei einer echten Panne erwischt. Ich hatte nur auf die Liste der Daten geschaut und einfach den ersten Termin beauftragt - das hätte so nicht passieren dürfen! Ich bitte bei allen um Entschuldigung, nicht zuletzt beim gesamten Haller Produktionsteam! Wir lassen die Kritik nun trotzdem stehen, da wir den Vorgang ja nicht mehr rückgängig machen können und sonst keine Kritik des Abends hätten - was auch unschön wäre. Allen Lesern sei aber noch einmal ausdrücklich gesagt: Es handelt sich hier versehentlich um die Kritik einer Voraufführung! Es soll nicht wieder vorkommen.
Hamlet, Schwäbisch Hall: Bereicherung
Und bitte lesen Sie doch gern den Blog von Frau Schall noch einmal etwas gründlicher, wenn Sie sich schon daraus bedienen. Ich als regelmäßige Leserin des Schallschen Blogs finde es immer interessant, was Frau Schall schreibt, besonders ihre Reflexionen über ihre Arbeiten. Früher konnte man, wenn man Glück hatte, Notizen der Regisseure lesen und sich dadurch weitere Möglichkeiten der Interpretation erschließen, heute sind es eben Blogs, die einen schneller erreichen. Das empfinde ich als große Bereicherung!
Hamlet, Schwäbisch Hall: klüger als Shakespeare
Na klar Mireille Adieu,
das kann ja nur eine kolossale Bereicherung sein, wenn man klüger ist als Shakespeare selbst und seine Dramaturgie endlich verbessert
Hamlet, Schwäbisch Hall: richtig machen
Vieleicht sollten andere ihre Arbeit erst mal richtig machen, bevor sie anderer Arbeit kritisieren.
Hamlet, Schwäbisch Hall: sich unterhalten
@genauer leser: shakespeare meinte seine zeit, ich die meine. ihn verbessern? quatsch. klüger sein? noch quatscher. sich mit ihm unterhalten, würde ich es nennen.
Hamlet, Schwäbisch Hall: Unterhaltungsliteratur
Tschuldigung Frau Schall,
hab alles falsch verstanden. Der große Fünfsterneautor stand bisher bei mir bisher im falschen Regal.Ich werde ihn umordnen zur Unterhaltungsliteratur. Nach dem Motto: Frau Wirtin hatt' auch einen Coriolan....
Hamlet, Schwäbisch Hall: Duden und Knigge
@genauer Leser
Vielleicht sollten Sie nicht Ihre ein bis zwei Bücher ständig umsortieren, sondern sich besser einen Duden und einen Knigge dazu kaufen, Sie großer Fünf-Sterne-Flegel.
Hamlet, Schwäbisch Hall: selber
Sie sind selber hier oft reichlich flegelhaft-eingebildet.
Hamlet, Schwäbisch Hall: Reminder
"Die Kommentare. Von Anfang an wesentlicher (und immer wieder heftig attackierter) Bestandteil dieser Seite und des hier praktizierten Verständnisses von Kritik. Inzwischen aber längst nicht nur auf nachtkritik.de journalistischer Standard. Journalismus und seine Adressaten stehen sich durch die Kommentarfunktion auf Augenhöhe gegenüber." Teaser der nachtkritik-Redaktion am 14. Juli 2014.
COMMENT_TITLE_RE Hamlet – Bei den Freilichtspielen Schwäbisch Hall teilt Johanna Schall gegen die Kollegen aus
Sehr geehrter Herr Rothschild,
ich verstehe nicht, warum Sie immer wieder auf den Kommentaren bei Nachtkritik herumreiten müssen. Auf den Seiten des Freitag und von Faust-Kultur, wo Sie ja auch veröffentlichen, gibt es diese Möglichkeit ebenso, nur wird sie dort seltener oder auch gar nicht genutzt. Was für den Freitag jetzt natürlich weniger zutrifft. Aber wo liegt der Unterschied? In der von ihnen unterschwellig in Zweifel gezogenen Augenhöhe? Ihre Höhe werde ich mit Sicherheit nie erreichen, auch wenn ich Sie um Kopfeslänge überragen sollte.
In diesem Thread geht es dabei noch verhältnismäßig gesittet zu. Es ärgert mich nur, wenn jemand auf unterstem Witz-Niveau die Leistung einer Regisseurin kritisiert, die er gar nicht beurteilen kann, weil er vermutlich nicht einmal gesehen hat, worüber er da abschätzig befindet. Dass hier immer wieder rein anhand eines vorliegenden Textes über eine Aufführung spekuliert wird, ohne dass überhaupt jemand das Kritisierte selbst gesehen hat, ist sicher ein Problem. Aber nicht der Untergang des Abendlandes.
Sie sollten Ihre Kompetenz nutzen, um sich zum Thema zu äußern, oder an anderer Stelle über das Niveau der Kommentare lamentieren.
Hamlet, Schwäbisch Hall: auf Augenhöhe
Sehr geehrter Stefan,
eigentlich bezog sich meine Wortmeldung auf den genauesten Leser, weil mir nicht so recht einleuchtet, was Ihre Flegelhaftigkeit, wenn sie denn existieren sollte, mit Hamlet oder Johanna Schall zu tun hat. Ich habe lediglich einen Text der nachtkritik-Redaktion zitiert und kein Wort hinzugefügt. Was missfällt Ihnen an diesem Text? Es ging weder um Sie, noch um mich, und ich habe keinen Grund zu bezweifeln, dass wir einander auf Augenhöhe begegnen können, selbst wenn Sie mich um mehrere Kopfeslängen überragen. Dann schaue ich eben zu Ihnen hinauf. Ich sehe nur wenig Sinn in einer Diskussion des kindlichen "das bist du und was bin ich", an der ich übrigens nicht beteiligt war. Mein Thema war bei dem Zitat einzig das Thema des Zitats: die Bedingung von Kommentaren. Warum soll ich an anderer Stelle darüber lamentieren? Sie äußern sich, wenn und weil Sie etwas ärgert. Warum wollen Sie mir dieses Recht vorenthalten? Aber jetzt haben Sie mich dazu gebracht, meinen Vorsatz zu brechen und mich an diesem Spiel zu beteiligen. Damit ist von meiner Seite alles gesagt. Bitte, Stefan, Ihr Auftritt!
Hamlet, Schwäbisch Hall: Schuh anziehen
Na das ist ja merkwürdig, noch bevor mein Kommentar erscheint, gibt es schon eine Antwort. Wie machen Sie das nur, Herr Rothschild? Und vielen Dank für den roten Teppich. Den Auftritt überlasse ich aber berufeneren Akteuren. An Ihrem Kommentar störte mich lediglich, dass er sehr allgemein und polemisch auf das Kommentarwesen insgesamt abzielt. So sah ich das jedenfalls in dem Moment. Aber Dank auch dafür, dass Sie mich da nun ausdrücklich ausnehmen. Aber das tut nicht Not. Ich teile gerne selbst und halte es daher auch aus, wenn man mich des überheblichen Herumflegelns bezichtigt. Ich kann darüber gnädig hinwegsehen. Aber bevor das in eine Sommerloch bedingte Kommentardebatte mündet und da ich leider zum Thema Hamlet in Schwäbisch Hall (der hoffentlich nicht nur Schall und Rauch ist) auch nichts weiter Essentielles beitragen kann, trolle ich mich wieder in meine Schmollecke.
Und da heute Wedekind-Geburtstag ist, hier noch ein PRAKTISCHER RAT:

Die Kunst mußt du verstehn,
Soll dich die Welt verhimmeln:
Wie Goethe auszusehn
Und Schiller zu verstümmeln.

Wer sich den Schuh anziehen will, er passt bestimmt immer.
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