Hinkemann - Ernst Tollers Kriegsheimkehrerdrama von Milos Lolic bei den Salzburger Festspielen inszeniert
Krüppel im Karussell
von Michael Laages
Salzburg, 31. Juli 2014. Nicht nur dem zweiten weltumspannenden Krieg des vorigen Jahrhunderts folgte in Deutschland der Epilog auf der Theaterbühne – mit Wolfgang Borcherts bis heute wirkungsstarkem Heimkehrerdrama "Draußen vor der Tür". Dem Beckmann des Uraufführungsjahres 1947 war ein Vierteljahrhundert zuvor, nach dem Ersten Weltkrieg, aber schon "Hinkemann" voran gegangen – im Drama des kriegsfreiwilligen Frontkämpfers Ernst Toller, aus großbürgerlich-jüdischer Familie stammend, kommt der Krieger mit dem sprechenden Namen nicht nur mit der Gasmaskenbrille zurück aus dem Schlachten. Ihn hat es körperlich schlimmer getroffen. Der Mann ist "kein Mann mehr", ihm sind die Genitalien weggeschossen. Überlebt immerhin hat er, und Toller macht kenntlich, warum das Leben kein Leben mehr sein kann.
Der Stoff blieb stark, die Sprache greift wortmächtig aus im Ton des Expressionismus. Tollers Weg aus der Erfahrung des Krieges in das Abenteuer der politischen Einmischung zu Zeiten der linken Münchner Räterepublik (das auch Toller mit Festungshaft bezahlte) ist im Stück nachgezeichnet. Neben "Masse Mensch", "Maschinenstürmer" und "Hoppla, wir leben!" (Erwin Piscators legendär revolutionärem, stilsprengenden Eröffnungsstück an der Berliner Volksbühne des Jahres 1927) markiert "Hinkemann" ein literarisches Profil von außergewöhnlicher Kraft – nur dass es leider fast vergessen ist.
Kriegs- und Geschlechtsbeschädigt
Auch jetzt im Salzburger Festspielsommer (in Kooperation mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus, wo es zum Saisonstart übernommen wird) kommt es vor allem (und wahrscheinlich nur) zur Erinnerung an den Beginn des Weltkrieges wieder auf den Spielplan. Und der junge serbische Regisseur Milos Lolic, der mit "Hinkemann" die Talentprobe im absehbar letzten Salzburger "Young Directors Project" abliefern könnte, beweist nicht unbedingt, dass und inwiefern das Stück die Regie-Phantasie eine jungen Theatermachers befördert, der sich immerhin dezidiert zum Attentat des Befreiungskämpfers Gawrilo Princip vom Sommer 1914 bekennt, dem die serbische Heimat zum Kriegsgedenken gerade Denkmäler setzt, hundert Jahre danach.
Eugen Hinkemann erlebt die Welt nach der Heimkehr als Rummelplatz-Karussell, Sabine Kohlstedt hat darum eins auf die Salzburger republic-Bühne gebaut. Herunter gekommen ist es, Lampen müssen erneuert werden; und mit Menschenkraft wird es in Bewegung gesetzt. Nur hier, auf dem Rummel, findet der kriegs- und geschlechtsbeschädigte Hinkemann noch Arbeit: ausgerechnet als "Homunkulus, der stärkste Mann der Welt", der Ratten und Mäusen auf offener Bühne die Kehle durchbeißt – wie die deutsche Kriegsmacht den eigenen Umgang mit den Feinden beschworen hatte: Jeder Schuss ein Russ', jeder Stoß ein Franzos', jeder Tritt ein Brit' – jeder Biss eine Ratte.
Kein Weg ins Glück
Die treue, aber vom besten Freund verführbare Gattin sieht ihn dort im Einsatz, so zerbricht alles Vertrauen. Auf der Flucht in die Arme der Mutter und wie in Fieberphantasien erlebt Hinkemann das gleiche Schicksal wie das seine, nur dass es der Mutter widerfuhr. Dazwischen führt er lange, kluge Dialoge mit all jenen, die zu wissen vorgeben, wie es für einen wie ihn weitergehen könnte, auch mit dieser (speziell für damalige Macho-Verhältnisse) extrem traurigen Behinderung. Das sind die stärksten Passagen – mit Anarchisten, Kommunisten, Klerikern und anderen Radikalen. Keiner hat ihm jetzt noch einen Weg zum Glück zu bieten. An Eugen Hinkemanns Leidensweg wird eine ganze Menge handelsüblicher Heilslehren auf den Müllhaufen der Geschichte geschmissen.
Noch einmal: Was für ein starkes Stück! Und was für eine mutlose Veranstaltung in Salzburg – Lolic lässt das mäßig animierende Ensemble um den Hinkemann von Jonas Anders all diese Worte und Sätze voll heilig-tollem Toller-Furor vor allem brav und ordentlich vortragen. Und das Karussell tut seinen Dienst, Hinkemann hängt dran zum Schluss; wie der emigrierte Autor Toller 1939 im Mayflower Hotel am Central Park in New York.
Durchgetaucht
Nie und nirgends aber gelangt die Inszenierung an jenen Punkt, von wo aus die große politische Debatte der ersten großen Nachkriegszeit fundamentale Größe und Schärfe erreichen könnte. Immerhin: Es geht um die Revolution. Und um die Frage, warum nichts aus ihr wird.
Im Düsseldorfer Spielplan wird die Inszenierung als Pflicht-Stück zum Jahrhundert-Event durchgehen, ohne allzu viel Aufsehen. Unter den Ansprüchen, wie sie an das Salzburger Festival gestellt werden müssen, taucht sie unauffällig hindurch. Der Groß-Sponsor für die Talenteschau des "Young Directors Project", von Jürgen Flimm kurz nach der Jahrtausendwende ins Salzburger Boot geholt, zieht sich, das heißt: zieht viel Geld aus dem Festival zurück. Und im Ernst – für Harmlosigkeiten wie diesen "Hinkemann" muss niemand den Montblanc erklimmen.
Hinkemann
von Ernst Toller
Regie: Milos Lolic, Bühne Sabine Kohlstedt Kostüme Jelena Miletic, Komposition: Nevena Glusica, Dramaturgie Almut Wagner.
Mit: Jonas Anders, Daniel Christensen, Markus Danzeisen, Christian Ehrich, Jakob Ernst, Rainer Galke, Irene Kugler, Frank Seppeler, Katharina Schmidt.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, ohne Pause
www.salzburgfestival.at
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
Politisch wie künstlerisch ein harmloser Hallodri, attestiert Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.8.2014) dem jungen serbischen Regisseur Miloš Lolić. "Hinkemann" könne man, müsse man aber nicht mehr spielen. "Wir haben heute andere Heimkehrer, womöglich schlimmere. In Salzburg aber sind die Heimkehrer von damals von belangloser Liebenswürdigkeit." Der junge Regisseur spendiere ihnen, wohl weil er den Ersten Weltkrieg so super findet, süße Jahrmarktszuckerwatte, an denen die Schauspieler wacker schlecken. "Lolić lässt das Stück weniger spielen als unterspielen. Der Regisseur zeigt, dass er die Figuren richtig lieb hat, sanft rückt er ihnen auf die Pelle." Hier sehe man aber nicht Toller, sondern eine Verpackung. "Man tut hier nicht einmal so, als spiele man ein böses Drama. Man arrangiert nette Leute in einem Ringelreihen."
"Den Schauspielern wie dem Regisseur gelingt es besser, die lichten oder grellen Oberflächen - Liebe, Lachen, Freundschaft oder Schreien und Zanken - darzustellen als die hervorblitzende und herausquellende zweite Schicht an Scham, Schmach, Verrat, Verzweiflung", schreibt Hedwig Kainberger in den Salzburger Nachrichten (2.8.2014). Und es gebe noch eine zweite Schwäche, "für jene, die das Stück nicht gelesen haben, ist vieles schwer verständlich. Einiges ist undeutlich gesprochen, einige Schlüsselstellen sind zu stark abstrahiert." Doch trotz einiger Schwächen sei zu würdigen, dass Miloš Lolić und die Schauspieler nicht Horváth oder Tschechow wählen, sondern sich des spröden, schwierigen, für seine Entstehungszeit - 1923 - beachtlich hellsichtigen Texts Ernst Tollers annehmen."
Milos Lolic besitze Augenmaß, die genaue Lektüre führt ihn zu scharf umrissenen Ideen, findet Margarete Affenzeller im Standard (2.8.2014). In seinem "Hinkemann" klinge die ganze Welt der Horváth'schen, Büchner'schen und Brecht'schen Außenseiter an. "Und ist doch neu: entschlackt vom Lokalkolorit der Weimarer Republik, befreit von der puren Imitation des Leids." Lolics Inszenierung sei viel klüger: "Sie legt vor allem in choreografischen Manövern die Prozesse des kleinen Angriffs offen, des kleinen Verrats, der kleinen Heuchelei, die allesamt im Tod eines Individuums münden.
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Kann sich wirklich niemand mehr an dieses Stück und diese fabelhafte Inszenierung erinnern?
2007 inszenierte Christof Nel das Stück in Frankfurt während der Intendanz von Elisabeth Schweeger. Eigentlich stand "Kasimir und Karoline" auf dem Spielplan, aber bei der Vorbereitung auf Horvath stieß Nel auf "Hinkemann" und tauschte die Stücke aus. Er sah in "Hinkemann" nicht nur ein Heimkehrerdrama, er wollte "diese Männerfigur tiefer und fundamentaler entdecken", so in einem Interview. Der Mann (Christian Kuchenbuch) konnte in Nels Deutung seine Verletzung nicht eingestehen, er sah sich nur als Opfer. Seine Frau (Sabine Waibel) ist dem Druck nicht gewachsen. Sie nimmt sich das Leben, der Mann lebt weiter.