Grüsse von der Insel

von Esther Becker

24. August 2014.

Prolog

Sie kamen in Massen und stiessen nicht überall auf Gegenliebe.

(Dossier: "Deutsche in der Schweiz", Berner Zeitung)

Ja, ich bin eine von denen, die in Massen kamen. Ich kam ohne feindliche Absichten. Es war reiner Zufall, dass ich hier gelandet bin. Beziehungsweise eine Reihe von Zufällen. Beispielsweise, dass das Wetter ausgesprochen schön war, am Tag meiner Eignungsprüfung an der Zürcher Theaterhochschule. Das Gebäude befindet sich direkt an der Sihl, in der fröhlich Hunde und Kinder planschten. Vor der benachbarten Beiz [1] sassen gut gelaunte, entspannte Menschen in der Sonne, tranken Schalen [2] und Stangen [3]. Nett hier, dachte ich. Und bekam den Studienplatz.

I. Akt

Ich war, nicht ohne mir einen eisgekühlten Ovomaltine-Drink am Bahnhofskiosk gekauft zu haben, mit dem Nachtzug nach Hause gefahren, hatte aussergewöhnlich gut in meinem Liegesessel geschlafen, und als ich früh morgens die Tür meiner Schöneberger WG aufschloss, wartete auf dem Anrufbeantworter bereits die Zusage auf mich.

Und da es so nett gewesen war, mit dem Fluss und der Sonne und den gut gelaunten, entspannten Menschen, liess ich die als Nächstes anstehende Prüfung in Stuttgart sausen, und plante meinen Umzug in die Schweiz.

Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich einlasse, war klassischerweise bisher nur als Kind zwecks Skiferien in der Schweiz gewesen. Gemocht hatte ich damals: Das frische Wasser aus Bergbächen und Trinkbrunnen, Mövenpick-Restaurants (in den Gläsern, in denen der Eistee serviert wurde, steckten immer bunte, exotischen Tieren nachempfundene Plastik-Rührstäbchen, mein Liebling: die Giraffe) und eben Ovomaltine. Nicht gemocht hatte ich: Käsefondue, Raclette und das Skifahren (besonders den Bügellift).

2. Akt

Ich hatte also keinen blassen Schimmer, dass ich nicht in eine Art südliches Bundesland ziehe, sondern mich auf eine eidgenössische Insel begebe, mit eigener Kultur, diversen Landessprachen und Dialekten. Und ohne ß.

Meine Rechtschreibung war schon immer sehr intuitiv, ich hatte in der Schule so oft richtig geraten, dass ich mich nie weiter mit Grammatikregeln befasst hatte. Die Deutsche Rechtschreibreform ging relativ spurlos an mir vorüber: Sie verwirrte mich, also ignorierte ich sie.

beiz am sihl zuerich 280 esther becker uGemütlich ankommen: in der Beiz an der Sihl in
Zürich
Jetzt ist alles zu spät, seit ich auf einem in der Schweiz gekauften Laptop arbeite, dem das ß auf der Tastatur fehlt. Aus purer Faulheit unterliess ich es, meine Tastatur umzuprogrammieren. Und jedes Mal die entsprechende Tastenkombination zu erinnern, oder eben immer wieder zu googeln (Alt + S. Die Kombination Alt + Ctrl + S ergibt bei mir ein Fragezeichen in einem Quadrat), war auch umständlich. Der Einfachheit halber schreibe ich nun alles mit ss, und Schluss. Was allerdings auch dazu führt, dass ich das Bedürfnis habe, deutsche LektorInnen wissen zu lassen: Das ist kein Spleen, oder Statement (wie etwa alles kleinzuschreiben oder der Verzicht auf jegliche Satzzeichen), nein, das machen hier alle so.

Wobei: Ich weiss gar nicht, ob die gebürtigen Schweizer DramatikerkollegInnen, die ja mehrheitlich auf Schriftdeutsch schreiben, vielleicht ihrerseits zum ß übergelaufen sind?

In/auf Mundart zu schreiben, habe ich bisher noch nicht probiert. Zwar spreche ich sie gelegentlich und töne [4] dabei angeblich nicht wie eine Deutsche, sondern wie eine Ostschweizerin, die seit einiger Zeit in Zürich lebt, aber viele Berner Freunde hat. Doch das mit der Verschriftlichung ist so eine Sache. Es gibt zwar schweizerdeutsche Wörterbücher, aber keine Orthografie. Ich habe mal ein paar Zeilen für ein Hörspielexperiment auf Mundart notiert, der Sprecher war so nett es auf seinen Dialekt hin anzupassen, denn jeder Kanton schnurrt [5] anders.

Es gibt kaum zeitgenössische Dramatik auf Schweizerdeutsch. Hörspiele, ja.

Aber auf dem Theater sind hauptsächlich Boulevardkomödien oder Kinder- und Jugendstücke in Mundart geschrieben. Seit Annahme der Initiative "Ja für Mundart im Kindergarten" 2011 darf in Kindergärten im Kanton Zürich, sowie einigen weiteren Kantonen, nur noch CH-Deutsch gesprochen werden. Wenn die dann einen Ausflug ins Theater machen, muss auf der Bühne natürlich auch alles schön einheimisch von Statten gehen, um die Kleinen nicht zu verwirren …

3. Akt

Ich selbst bin dialekttechnisch heimatlos, kann weder Bayrisch (geboren in Erlangen), noch Rheinisch (aufgewachsen in NRW), noch wirklich Berlinern (trotz Berlin als immer-wieder-Wahlheimat und jeder Menge Berliner Verwandtschaft). Manchmal finde ich das traurig, auch aus literarischer Sicht. Mit Dialekten ist es wie mit Fremdsprachen und Staatsbürgerschaften: Je mehr, desto besser.

Den Mundartzwang im Chindski [6] finde ich fragwürdig und hätte vermutlich dagegen gestimmt, wenn ich abstimmen dürfte, doch bin ich ja auch, was die Ausübung meiner politischen Rechte angeht, irgendwie heimatlos. Auch nach 11 Jahren auf der Insel darf ich nicht einmal eine Petition unterschreiben. Mein Einbürgerungsverfahren läuft, hoffen wir das Beste. Die Einbürgerungspraxis ist in jedem Kanton anders, die gesetzlichen Anforderungen, wie etwa die Mindestaufenthaltsdauer, haben sich in den letzten Jahren immer wieder geändert.

À propos Gesetze: Wie die Umsetzung der SVP-Masseneinwanderungsinitiative in der Praxis aussehen wird, ist noch unklar. Es wird vermutlich nach wie vor leichter sein, eine Aufenthaltsbewilligung als Cabaret-TänzerIn (per Definition des Bundesamts für Migration: Personen, die sich im Rahmen musikalisch unterlegter Showprogramme ganz oder teilweise entkleiden) zu bekommen, als etwa als KellnerIn. (Von freischaffenden AutorInnen ganz zu schweigen.)

kill your darlings 560 esther becker fotoc olivia suter xFreischaffende Autorin und freischwebende Performerin: Esther Becker in "Kill Your Darlings" von bigNOTWENDIGKEIT © Olivia Suter

Klar ist: Die Personenfreizügigkeit mit der EU wird bei Respektierung von Verfassung und Volkswillen kaum zu bewahren bleiben. Erste Konsequenzen waren beispielsweise mit dem ERASMUS-Ausschluss der Schweiz sowie erschwerten Bedingungen bei der Teilnahme an EU-Kulturförderungsprogrammen spürbar. Es ist nicht leicht, Drittland zu sein …

Die einheimische Kulturförderung auf dieser Insel allerdings, scheint im Gegensatz zu den Nachbarländern paradiesisch, das Verhältnis von Fördergesuchen zu zugesprochenen Beiträgen etwa, zu klein, um wahr zu sein. Die Theaterkommission der Stadt Zürich unterstützt beispielsweise rund ein Drittel der Gesuche nach Produktions- oder Recherchebeiträgen freier Theatergruppen. (In der zweiten Hälfte dieses Jahres waren es 16 von 42 Anträgen.)

Und wie sieht es mit der Dramatikerförderung aus?

Die beiden Programme, an denen ich teilgenommen habe, nämlich die Schreibwerkstatt "Schreiben für die Bühne" der ASTEJ Schweiz (wie z.B. auch Darja Stocker, Simon Froehling, Lorenz Langenegger und Eva Rottmann) und die "Werkstattreihe für junge Dramatik" des Vorstadttheater Basel, wo die qualitativ wie quantitativ (honorartechnisch) beste Werkstattinszenierung meiner Texte bisher stattfand, gibt es heute beide nicht mehr. (Ein ähnliches Honorar habe ich nachher, an deutschen Theatern, für keine Uraufführung mehr gesehen. Auf Schweizer Erstaufführungen warte ich noch …)

Die "Masterclass 6" von SuisseTHEATRE ITI wurde schon vor Längerem eingestellt, der "Preis für das Schreiben von Theaterstücken der Schweizerischen Autorengesellschaft (SSA)" erst vor Kurzem. Es scheint, man schnallt den Gürtel auf der eidgenössischen Insel enger. Etwa auch aufgrund "Übersättigung" des Marktes für neue Autoren, ganz wie im grossen Kanton (Deutschland)?

So direkt habe ich das hier noch nicht läuten hören, ist der "Markt" der Deutschschweiz schliesslich so überschaubar, dass sich jegliche Fütterung schnell als Überfütterung interpretieren liesse. Generell haben die Fördergremien hier dem Viel-hilft-viel Prinzip noch nicht abgeschworen.

Bleiben beispielsweise noch der "Dramenprozessor" und das "Stücklabor Basel". Letzteres hat allerdings einen strukturellen Wandel zum Hausautorenmodell hinter sich, zum "Stücklabor – neue Schweizer Dramatik" mit dem Theater Basel, Konzert Theater Bern und Luzerner Theater. Überraschenderweise war Philipp Löhle 2013/2014 Hausautor in Bern, der ja weder Schweizer oder in der Schweiz wohnhaft ist, so dachte ich, noch "neu" (im Sinne von: zu entdeckender Nachwuchs). Dann lese ich auf der Website des Theaters Bern: Philipp Löhle ist "einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren mit Schweizer Pass". Aha.

Wie hat er das mit dem roten Pass gemacht?

Epilog

Jetzt gehen viele wieder, weil sie sich hier nicht wohlfühlen.

(Dossier: "Deutsche in der Schweiz", Berner Zeitung)

Ist es Zeit zu gehen?

Nicht wirklich. Für eingestellte Workshops, Werkstattreihen und Autorenpreise werden andere entstehen. Das Sommerwetter wird kommen, und mit ihm die gut gelaunten, entspannten Menschen, die in der Sonne sitzen ...

Ich gehe trotzdem. Aber erst im Herbst. Und auch nur für kurze Dauer. Ein Wintersemester lang werde ich die Insel gen Nordosten verlassen, allerdings nicht nach Berlin (wo die Schöneberger WG mittlerweile vermutlich 12 € pro m2 kostet), sondern ins sogenannte neue Berlin: Leipzig.

Hoffentlich mit dem Schwiizerpass [7] im Sack. (Sollte ich Philipp Löhle nach Einbürgerungstipps fragen?!)

Sonst lassen die mich nachher nicht mehr rein.

Beziehungsweise: Rauf.

Um mit der Inselmetapher zu schliessen.

PS:

Ich erlaube mir so zu unken, weil ich hier lebe, und es mittlerweile, obwohl nicht Vaterland, eben doch auch irgendwie meine Schweiz ist. Pass hin oder her. Das ist wie mit den eigenen Eltern, über die man ja auch am besten selbst lästert. Aber wenn Andere etwas Böses über sie sagen, versteht man überhaupt keinen Spass …

[1] = Kneipe/Restaurant

[2] = Milchkaffee

[3] = offenes Bier

[4] = klinge

[5] = spricht

[6] = Kindergarten

[7] = Schweizer Pass


esther becker© Heiko AdrianEsther Becker, geboren 1980 in Erlangen, hat Darstellende Kunst an der Zürcher Hochschule der Künste studiert und den Master in Scenic Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern gemacht. Zurzeit studiert sie Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel. Sie verfasst Theaterstücke, Prosa sowie kulturjournalistische Beiträge. Ihr Stück "Supertrumpf" war für den Autorenwettbewerb beim Heidelberger Stückemarkt 2013 nominiert (siehe die Festivalseite von nachtkritik.de) und wurde mit dem Kathrin-Türks-Preis 2014 ausgezeichnet. Momentan beendet sie die Arbeit an einem neuen Stück  "fortune cookie (AT)" und packt die Koffer, um das Herbstsemester am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zu verbringen. Esther Becker ist Mitglied der Theaterformation bigNOTWENDIGKEIT.

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