Lob der Freikörperkultur

von Frauke Adrians

Weimar, 24. August 2014. Mit dem Theater ist es wie mit dem richtigen Leben: Gut, dass man nicht weiß, was einen erwartet. Sonst würde man vielleicht von vornherein wegbleiben.

Obwohl: "Theater" wäre schon eine recht große Bezeichnung für das, was Jörg Lukas Matthaei unter dem Titel "Diesseits vom Kulissenpark" nach Weimar und ins Programm des 25. Weimarer Kunstfestes gebracht hat. Er selbst nennt das Ganze "Ein flüchtiges Museum der Abweichungen". Gesetzt, ganz Weimar wäre ein Museum (Außenstehende und Goethe-Schiller-Pilger vermuten dies ja ohnehin); gesetzt obendrein, man könnte eine Inszenierung mit den Lebensgeschichten derjenigen füllen, die hinter den Kulissen der bekannten Weimarer Kulturstätten arbeiten. Und könnte dann noch aufzeigen, dass diese Geschichten auch ganz anders hätten verlaufen können, wäre die DDR nicht gewesen oder wäre die Wende nicht gekommen.

Das wären schon sehr viele Wenns für einen einzigen Abend. Aber Matthaei & Konsorten als Urheber und Produzenten dieses Experimental-Events setzen noch mehr voraus: ein Publikum mit Engelsgeduld, ausgeprägter körperlicher Fitness und der Bereitschaft, sich zu Fuß und per Fahrradrikscha auf eine überlange Tour durch den von Industriebrachen geprägten Weimarer Norden zu begeben.

Vorfröhliche Idylliker und umsichtige Eckengucker

So ein Publikum kriegt man nur per Überrumpelung. Keiner der Zuschauer, die sich an der Schrebergartenkneipe "Zum Alten Herrmann" einfanden (Info für Auswärtige: Hänselweg 31; der Gretelweg liegt gleich um die Ecke), wusste, was ihn erwartete. Alles fing sehr lustig an, spielerisch, mit einem Fragebogen, der über die Zuordnung der Gäste zu einem von drei Besuchertypen entschied; neben den "vorfröhlichen Idyllikern" gab es die "beharrlichen Aufwirbler" und die "umsichtigen Eckengucker". Letztere mussten auf die zweisitzigen Rikschas klettern und ohne weitere Vorbereitung losstrampeln. Wohl dem Theatermacher, der seinen zum Teil älteren Zuschauern zutraut, eine solche Herausforderung ohne Gefahr für Leib, Leben und Gegenverkehr zu meistern.

kulissenpark 3 560 thomas mueller uIn Rikschas durch Weimar: mit Jörg Lukas Matthaei © Thomas Müller

Bei der Premiere am Sonntagabend ging mit den Rikschas alles gut. Alles Übrige ging ziemlich in die Binsen. Der Abend, laut Programm auf 100 Minuten terminiert, dauerte, je nach Gruppe, mindestens 160. Die "Audioguides", die eigentlich die Lebensgeschichte einer Weimarerin übertragen sollten, sendeten das Abendprogramm eines Thüringer Privatradios. Die "Museums"-Führerinnen, die weitere Lebensgeschichten vorzutragen hatten, lasen die Texte unbeholfen und stockend ab – wohl auch deshalb, weil sie in lichtundurchlässigen Kostümen steckten, die vermutlich an U-Boot-Periskope erinnern sollten und wie riesige silbrige Röhrennudeln aussahen. Die Ganzkörper-Verhüllungen waren typisch für den gesamten Abend: Sie machten was her, waren aber ganz und gar unpraktisch und offensichtlich nicht genügend erprobt.

Vom Weimarwerk zum Gebrauchtwagenhandel für FKK-Freunde

"Diesseits vom Kulissenpark" hatte, wie man so sagt, "seine Momente". Etwa die gruselige Besichtigung der Katakomben des einst stolzen, jetzt zum Ersatzteillager verkommenen "Weimarwerks" im Schein funzelnder Taschenlampen – Blick in die Halle des "Oberen Werks" inklusive. Oder die lange, scheinbar ziellose Wanderung durch Hinterhöfe, Bahnanlagen, Kleingärten. Oder ein unverhofftes Studentenchorkonzert auf einer Baustelle im Gewerbegebiet.

Aber das, worum es eigentlich gehen sollte – Lebensentwürfe, Weimarer Geschichte und Geschichten, ein (O-Ton Programmheft) "begehbares Panorama der Stadt und ihrer Bewohner voller Überraschungen" –, das kam zu kurz, kam viel zu unbeholfen daher und erschöpfte sich über weite Strecke in holprig verlesener DDR-Nostalgie. Zumindest einmal aber bewies Jörg Lukas Matthaei Sinn fürs Schräge: Im Hof eines Gebrauchtwagenhandels durften sich die "umsichtigen Eckengucker" auf drei Luxuswagen verteilen und bekamen via Autoradio ein hinreißend fürchterliches Lob auf das FKK-Wesen in der DDR vorgetragen ("Da wussten wir wenigstens, was wir aneinander hatten"). Alle Zuhörer waren froh, wieder aussteigen zu dürfen.

"Diesseits vom Kulissenpark" ist geeignet für Menschen mit viel Freizeit und gutem Schuhwerk. Keine der Aufführungen im Rahmen des Weimarer Kunstfestes wird sein wie die andere; einige werden ohnehin an anderen Orten in Weimar stattfinden, im Westen oder im Süden der Stadt. Vielleicht gehören derlei Text-Theater-Musik-Performance-Erlebnis-Wanderungen ja zu den letzten Abenteuern unserer Zeit, als Schnitzeljagden für Große. Nur sollten sie sich, bitte, wenigstens halbwegs an ihren Zeitplan halten.


Diesseits vom Kulissenpark
von Matthaei & Konsorten
Inszenierung: Jörg Lukas Matthaei, Ausstattung: Dorothea Ronneburg, Audiogestaltung: Maria Antonia Schmidt, Produktion: matthaei & konsorten und Kunstfest Weimar.
Mit: Helene Engler, Lydia Fleischer, Svea Geske, Daniel Gracz, David Hampel, Jugoslav Hamza, Cornelia von Kloch-Cornitz, Antonia Kühn, Chriseldis Langbein, Christel Schöne, Lilian Schulz, Yasmin Schulz, Isabella Schwaderer, Karolin Schwarz, Ulrike Tabor, Lena Vogel u.a.
Dauer: unklar

www.kunstfest-weimar.de

 

Nach Überprüfung des LeserInnen-Kommentars Nr. 1 wurde eine Änderung im Abschnitt über das Weimarwerk vorgenommen. Die Redaktion (13. September 2014).

Kritikenrundschau

In einem Gespräch für das Deutschlandradio (25.8.2014, hier in der Audio-Datei) über die ersten drei Tage des Weimarer Kunstfests erwähnt Hartmut Krug "Diesseits vom Kulissenpark" als eine der für das aktuelle Festival (unter Leiter Christian Holtzhauer) charakteristischen Arbeiten, die auf Erkundungen der Stadt abseits der Goethe-und-Schiller-Trampelpfade der Touristen abzielten. Matthaeis Inszenierung habe einen an "andere Orte" geführt, wo man "die Menschen kennenlernte". Im Ganzen würdigt der Kritiker, dass er auf dem diesjährigen Kunstfest "zu vielen kleinteiligen, nicht spektakulären, aber nachhaltigen und informativen und, ich würde sogar sagen, zum Denken anregenden Produktionen eingeladen war".

"Diesseits vom Kulissenpark" ist für Michael Helbing von der Thüringer Allgemeinen (9.9.2014) "das außergewöhnlichste Theatererlebnis der Kunstfestsaison". Zwar "mischt sich etwas viel Larmoyanz unter die Erinnerungen an diesem zum Ende hin etwas länglichen Abend". Dennoch: "Auf den Wegen gibts Überraschungen, mitten im Alltagsgeschehen; bisweilen bleibt absichtsvoll unklar, welche Wirklichkeit inszeniert ist, welche nicht".

Kommentare  
Kulissenpark, Weimar: Schatzsuche
Der Kommentar von Frau Adrians hat mich irritiert. Mehrere benutzte Begriffe sind überraschend abwertend, z.B. "Gebrauchtwagenhändler" für ein renommiertes weimarer Autohaus oder "Katakomben" für den Keller des Weimar-Werks, als ob da Leichen lägen.

Mein Eindruck der Veranstaltung war völlig anders. Der Hinweis auf festes Schuhwerk machte klar, dass es kein Kuschelspaziergang werden würde. Ich war einfach neugierig, was auf uns zukommen würde und war für alles offen. Ich hatte ebenfalls den „Nordeingang“ gewählt und zwar zusammen mit meiner halbwüchsigen Tochter.
Der Auftakt mit den zweisitzigen Fahrrädern war tatsächlich grenzwertig, da vor allem Mattstädter Weiden eine viel zu schlechte Wegqualität dafür aufweist. Ich war froh, dass diese Fahrräder dann verschwanden.
Der Weg führte weiter bis nach Weimar-Nord und dann Schritt für Schritt wieder zurück zum Ausgangspunkt. Diese Tour wurde keinen Augenblick langweilig, weil man nicht wusste, wo es als nächstes hingehen würde und man erkannte auch nicht immer sofort, was gehört zum Spiel und was geschieht nur zufällig.
Das Gebiet zwischen Weimar-Nord und dem Weimar-Werk kenne ich eigentlich wie meine Westentasche. Trotzdem liefen wir Wege, die ich noch nicht kannte oder die man üblicherweise gar nicht gehen könnte.
Die zwischendurch eingespielten oder vorgetragenen Lebenserinnerungen waren inhaltlich zwar interessant, aber gar nicht so wichtig. Sie animierten mich eher, eigene Erinnerungen hervorzuholen: die Wäscherei und das Heizwerk mit den riesigen Kohlestaubbergen, wo jetzt das Autohaus ist; Schlittenfahren und Blümchenpflücken, wo jetzt alles mit Parkplatz und Hotel zubetoniert ist; die verschwundene Hetzer-Villa; das teilweise abgerissene „Blechbüchsenviertel“; meine ebenfalls schon abgerissene Berufsschule beim Weimar-Werk …
Besonders gefreut hat es mich, dass wir in die große Halle im ehemaligen „Oberen Werk“ des Weimar-Werks hineinkamen. Die „Hausmeisterin“ führte uns durch die verwinkelten Kellerräume und wir hofften, dass sie sich nicht verläuft. In der Halle kamen dann alle Erinnerungen wieder, die ich damit verbinde: der Geruch nach Maschinenöl, der Lärm, das hektische Treiben, die vielen Menschen…
Die Darbietung einer Bauchtanzgruppe auf dem Dach der Feuerwehr bildete dann einen überraschenden und würdigen Abschluss.

Ich denke, diese Veranstaltung wird jeder für sich anders empfunden haben. Für meine Tochter war es eher wie eine lehrreiche Entdeckungstour und Schatzsuche, wobei die gefundene Schätze flüchtig waren (ein ungewöhnlicher Ausblick, das einsame Bild im Speisesaal des Weimar-Werks, der Chor…).
Für mich war es wie eine Reise in meine persönliche Vergangenheit.

Dies war wirklich eine Veranstaltung von Weimarern für Weimarer. Vielen Dank an alle, die mitgewirkt haben.

PS: Eine Sache muss ich noch berichtigen. Die Halle „Roter Oktober“ befand sich im sogenannten „Unteren Werk“ und war daher nicht die Halle, die wir besichtigt haben.

(Anm. Liebe Weimarerin, unsere Autorin Frauke Adrians ist Ihrem Hinweis nachgegangen und Sie stimmt Ihnen zu, dass die Halle "Roter Oktober" zwar in der Führung erwähnt wurde, die Besichtigung aber in der Oberen Halle stattfand. Wir haben den Abschnitt über das Weimarwerk entsprechend geändert. Vielen Dank für die Korrektur! Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Diesseits vom Kulissenpark, Weimar: Augenblicksgeschenk
beim googeln/googlen eben und auf den artikel gestoßen, spannend, mein "diesseits vom kulissenpark" war ein ganz anderes diesseits: zugegebenermaßen zum ersten mal auf zwischenbesuch in weimar mit klassischem (goethe-schiller) zentrumsnachmittag hab ich mich gefreut, am abend einen gänzlich anderen, unverbrauchten (und untouristischen) blick auf weimar und die lebenswelten seiner bewohner und bewohnerinnen zu bekommen: mit weimar nord als bühne und den weimarern als akteuren, die mich/uns publikum-seiende (mini-mitakteure: beharrliche aufwirbler) auf eine kleine reise-im-besten-sinne (magisch-sinnlich) mitnahmen, mit – neben intellektuellen und ästhetischen reizen ohne ende – vor allem menschlicher wärme, witz und charme. bekam einen grandiosen abend geschenkt: habe überraschende ecken entdeckt, die ich sonst nie gesehen hätte, lebensgeschichten von menschen erzählt bekommen, die ich sonst nie gehört hätte.. genial-witzig: ein feuerwehreinsatz für einen baum, die bauchtänzerinnen am dach der feuerwache, der singende chor in der brache vor sonnenuntergangskulisse, einfach himmlisch. für einen moment. und nur für uns. großes augenblicksgeschenk. dazwischen ästhetiken des verfalls, leere hallen im ehemaligen weimarwerk, spazieren und 4-rad-fahren durch suburban weimar. loved it und hätte mir sehr gern auch noch die beiden anderen weimarer himmelsrichtungen angesehen. wie gut, dass man nicht weiß, was kommt, sonst wüsste man ja, was man verpasst hätte.

isabelle gräfchen, wien
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