Abwehrreflex auf Castorf und Co.?

2. September 2014. In einem lagen Aufsatz für die Neue Zürcher Zeitung (online 1.9.2014) stellt Dagrun Hintze das Erfolgskonzept der Bürgerbühne vor. Zunächst am Beispiel des Staatsschauspiels Dresden, das hierbei eine Vorreiterrolle einnimmt. Bürgerbühnen sollten auf keinen Fall mit Laientheater verwechselt werden, sie müssten sich vielmehr im professionellen Repertoire des Hauses behaupten. Die Aufführungen stünden in der Tradition von Ariane Mnouchkine, Christoph Schlingensief, Volker Lösch und Rimini Protokoll, speisten sich "vom Geist des englischen Community-Theatre und des lange vergessenen Arbeitertheaters". Als "Probebühne des Lebens" wolle die Dresdener Bürgerbühnen-Leiterin Miriam Tscholl ihr Format begriffen wissen, als "Theater als öffentliche Plattform der Menschen in dieser Stadt".

Brutstätten des partizipativen Theaters

Auch in Braunschweig, Mannheim, Karlsruhe, Stendal, Salzburg und demnächst in Rostock werde das Modell Bürgerbühne praktiziert, ebenso in Ålborg und Aarhus in Dänemark. In Freiburg treibe Dramaturgin Viola Hasselberg das Modell voran, die wie die Dresdnerin Tscholl an der Universität Hildesheim Praktische Theaterwissenschaft studiert hat. Hildesheim scheine wie Gießen mit seinem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft eine der "Brutstätten" für "partizipative (und häufig auch dokumentarische) Theaterformen zu sein", so Hintze.

Die Journalistin zieht Parallelen zwischen diesen Ausbildungsstätten und den amerikanischen Cultural Studies. "Hier wie dort werden einzelne kulturelle Erscheinungen auf ihren sozialstrukturellen Zusammenhang untersucht, hier wie dort ist Feldforschung das Mittel der Wahl. Kultur wird nicht als Wahres, Gutes und Schönes begriffen, sondern als (politische) Alltagspraxis – Gegenstand der Recherche ist häufig 'die unbekannte Gegenwart'".

Jenseits der Dekonstruktion

Der Zugewinn an Wissen über Alltagswirklichkeit, der durch Bürgerbühnen ermöglicht werde, mache aber nur einen Aspekt ihres Erfolgsmodells aus. Zugleich ließen sie sich als "Abwehrreflex" auf das hochreflexive Theater "von Castorf und Co." verstehen. "Die Bürgerbühne praktiziert eine neue alte Form von Menschendarstellung, die im Kontrast steht zur Dekonstruktion von Figuren- und Menschenbildern, wie sie in den letzten zwei Jahrzehnten auf deutschen Bühnen üblich geworden ist", zitiert Hintze den Theaterwissenschaftler Hajo Kurzenberger.

Dresdens Intendant Wilfried Schulz hält dagegen: "Das professionelle Theater hat den Kunstbegriff neu geprägt, hat die Momente des Authentischen stärker eingebracht: dass sich die private Person ausagiert und die Unterscheidung zwischen Rolle und darstellender Person obsolet wird. Und das ist natürlich in noch viel extremerer Form bei Laien der Fall."

Die beiden Sichtweisen lässt die Journalistin gleichberechtigt stehen. Abschließend beschreibt sie Bürgerbühnen als Marketinginstrument, als Mittel des "Audience-Development", und führt es statistisch aus: "Nach der Teilnahme an einem Bürgerbühnen-Projekt geht ein Spieler durchschnittlich siebenmal häufiger ins Theater als vorher. Und er bringt 25 neue Zuschauer mit."

(chr)

Kommentare  
NZZ über Bürgerbühnen: Beigeschmack
Na, ob Bürgerbühnen wirklich der große Wurf und das Allheilmittel gegen Zuschauerschwund sind, wie das in diesem Artikel behauptet wird, daran habe ich meine Zweifel. Keine Zweifel habe ich aber daran, dass der Umstand, das die Autorin 2011 einen eigenen Text - der Begriff "Stück" verbietet sich aus meiner Sicht bei Bürgerbühnen - genau bei der in ihrem NZZ-Beitrag so hoch gelobten Bürgerbühne Dresden aufführen ließ und dies im Februar 2015 wieder machen wird, einen merkwürdigen Beigeschmack hat. Unabhängiger Journalismus sieht anders aus.
NZZ über Bürgerbühnen: Darsteller statt Schauspieler
Schon die Bezeichnung Darsteller zeigt, dass die Laien mitnichten auf Augenhöhe mit den ausgebildeten Schauspielern auf der Bühne agieren. Ein Darsteller ist jemand, dem man sagt, was zu tun ist. Ein eigener Rückgriff auf die Dinge, eine eigene Stimme womöglich, wird ihm nicht zugestanden.
NZZ über Bürgerbühnen: lukratives Modell
Zumindest in Deutschland hat sich die so genannte Bürgerbühne zu einem lukrativen Modell für die Theater entwickelt. Bevorzugt, wenn nicht ausschließlich, werden Laien eingestellt, die mit der Agentur für Arbeit eine Wiedereingliederungsvereinbarung abgeschlossen haben. Die dafür zur Verfügung stehenden Bildungsgutscheine in Höhe von bis zu 5Tsd. €/Person werden durch die Theater beansprucht. Diese geben ihrerseits an, sie würden die Arbeitslosen für eine weitere Verwendung auf dem Arbeitsmarkt qualifizieren. Dass diese Arbeitslosen durch die Theater zumeist nicht einmal eine Aufwandsentschädigung erhalten, soll nicht unerwähnt bleiben.
NZZ über Bürgerbühne: Stellungnahme Dresdner Bürgerbühne
Sehr geehrter Herr Gül,

da die von Ihnen oben geschilderten Vorgänge bereits zum wiederholten Mal in diesem Forum als gängige Praxis an deutschen Bürgerbühnen ausgegeben werden, sehen wir uns als Leitungsteam der Dresdner Bürgerbühne zu einer Stellungnahme veranlasst.
Die Bürgerbühne Dresden ist seit der Spielzeit 2009/2010 eine Sparte des Staatsschauspiels und verfügt über ein festes Budget, das Teil des Gesamtbudgets der Sächsischen Staatstheater ist. Zusätzlich bemühen wir uns um Drittmittel, etwa aus Kulturfonds oder Firmenstiftungen. Mittel der Bundesagentur für Arbeit jedoch haben wir zu keinem Zeitpunkt beantragt, abgerufen oder verwendet und planen auch nicht, dies in Zukunft zu tun. Das gleiche gilt für andere Bundesmittel, die der Ausbildungsförderung oder beruflichen Wiedereingliederung dienen. Auch von anderen Theatern und Bürgerbühnen sind uns derartige Vorgänge nicht bekannt.
Gerne sind wir in dieser Sache zu einem persönlichen Gespräch bereit, um bestehende Missverständnisse auszuräumen.

Mit freundlichen Grüßen,
Miriam Tscholl
David Brückel
Silke zum Eschenhoff
NZZ über Bürgerbühne: Regie als oberste Instanz
Der Unterschied zwischen Bürgerbühnen-Inszenierungen und Inszenierung mit Profi-SchauspielerInnen bleibt marginal, solange die Regie als oberste Instanz den Ablauf definiert. Das Theater der 21.Jahrhunderts kann erst Modernität beweisen, wenn die Idee der Regie überwunden wird. Oder sichtbar gemacht wird, als flüssiger Prozess, sichtbar - auf der Bühne. Der Ablauf, d.h. die Einstudierung eines Ablaufs, der in Abwesenheit der Regie reproduziert werden kann, wird nicht tangiert durch den Profi- oder nicht Profistatus des Performers. Die Pro/Contra-Diskussion für oder gegen Bürgerbühnen ist eine Diskussion an der Oberfläche, eine reine Geschmacksfrage, oder eine marktorientierte Diskussion ( die Laien kosten weniger, spielen mehr ein ). Die Theatertheorie tritt seit zehn Jahren auf der Stelle mit dieser sehr oberflächlichen Authentizitätsdebatte, die auch hier geführt wird. Legionen von Theaterwissenschaftlern haben sich mit Rimini Protokoll Forschungen profiliert oder sich in die Chefetagen der Theater gedient. Aber trotzdem bleibt die Theaterkultur gefangen in der immergleichen Regietheater-Form. Letztlich ist diese Diskussion über den Wert des Bürgertheaters eine sehr theaterfremde Diskussion. Das Medium Theater lebt von einer grösseren Komplexität als der Frage, wer nun was spielt.
NZZ über Bürgerbühne: Fragen
@4/Leitungsteam Bürgerbühne Dresden: Welche Bedingungen muss jemand erfüllen, um bei Ihrer Bürgerbühne mitspielen zu dürfen? Bezahlen Sie Ihre Laiendarsteller? Merci!
NZZ über Bürgerbühne: Kunst und soziale Fragen
Ich habe das Bürgerbühnenmodell so aufgefasst, dass die Laiendarsteller_innen weder künstlerisch noch ökonomisch in Konkurrenz zum festen Ensemble stehen. Vielleicht geht es hier ja ausnahmsweise mal nicht ums Geld, sondern um Kunst und wie Kunst soziale Fragen und Lebenswirklichkeiten aufgreifen kann?
NZZ über Bürgerbühne: bei Erich Kästner
Schon Erich Kästner beschreibt die Bürgerbühne in seinem Roman "Fabian". Dort ist sie der Ort einer assimilierten Minorität, die vor allem darin ihr Vergnügen findet, sich über die Laiendarsteller und deren Schau lustig zu machen.
NZZ über Bürgerbühne: Antwort der Dresdner Bürgerbühne
@6:
Sehr geehrter Salif Ibrahim,
seit ihrer Gründung vor fünf Jahren ist die Bürgerbühne ein Ort, der seine Türen für Themen und Impulse aus der Stadt öffnen möchte und Vertreter aller Generationen dazu einlädt, sich und die eigenen Erfahrungen ins Spiel zu bringen. Die Bürgerbühne ist ein offenes Angebot, grundsätzlich sind keine Theatervorkenntnisse erforderlich. Voraussetzungen zur Teilnahme sind vielmehr ein persönlicher Bezug zu den Themen des Bürgerbühnenspielplans, Spielfreude sowie eine gewisse zeitliche Flexibilität, was Proben und Spieltermine anbelangt. Desweiteren legen die Regieteams Schwerpunkte, die von ihren künstlerischen Interessen und der konzeptionellen Ausrichtung des jeweiligen Projekts bestimmt werden.
Die Inszenierungen der Bürgerbühne werden von Seiten des Theaters wie jede andere reguläre Produktion des Hauses konzipiert, organisiert und finanziert. Alle Darstellerinnen und Darsteller der Bürgerbühneninszenierungen erhalten pro Vorstellung eine kleine Vergütung.
Mit besten Grüßen,
die Leitung der Dresdner Bürgerbühne
NZZ über Bürgerbühne: Flexibilität
Das Glaubwürdigkeitsproblem der Bürgerbühne besteht darin, dass die beteiligten Bürger gerade nicht frei sind in dem, was sie als Zeitzeugen zu belegen haben. Entsprechend werden sämtliche Veranstaltungen der Bürgerbühne durch Regisseure und Dramaturgen moderiert. In Dresden wird der Spielplan der Bürgerbühne nicht durch die Bürger der Stadt festgelegt, sondern durch die Leitung des Theaters. Das Leitungsteam der Bürgerbühne Dresden bezeichnet seine Spieler nicht als Spieler oder zumindest als Statisten, sondern als Darsteller. Das Schauspiel Dresden erwartet von diesen Darstellern unter anderem, dass sie „eine gewisse zeitliche Flexibilität mitbringen“. Was die Gruppe der „Bürger“ von vornherein stark einschränkt. Keine Auskunft dazu, wovon die Darsteller in ihrer Zeit der flexiblen Verfügbarkeit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Von der „kleine Vergütung“, die ihnen das Schauspiel Dresden statt einer Gage zahlt, bestimmt nicht.
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