Der Aff ist Soldat

von André Mumot

Berlin, 6. September 2014. Es können nicht nur die Erbsen schuld sein. Diesmal nicht. Auch dieser Woyzeck bekommt sie eingeflößt, in grüner Suppenform, und an seiner Unterhose kann man die blutigen Durchfallspuren sehen, die das nach sich zieht. Nein, das ist nicht schön, aber es gibt noch andere Gründe für seinen Amoklauf. Und man muss auch nicht sehr lange nach ihnen suchen auf der Bühne des Berliner Ensembles.

Denn während Franz Woyzeck, Füsilier im zweiten Regiment des zweiten Bataillons irgendeiner vierten Kompanie, noch einmal splitterfasernackt über seine untreue Marie herfällt, sie vergewaltigt und mit dem Messer absticht, wieder und wieder, erwacht die traute Mooslandschaft um ihn herum zum Leben. Was eben noch grüner Untergrund war, entpuppt sich als Ansammlung seiner perfekt getarnten Kameraden, und was eben noch die fatale Privatangelegenheit eines Einzelnen war, ist schon im nächsten Moment die zügellose Eskalation einer ganzen Truppe.

Gut bezahlte Verrohung

Was hier geschieht, wird man so schnell nicht vergessen: Wie alles ineinander greift, Drill und Mord, wie das "Subjekt Woyzeck" eintaucht ins Heer, in die Waffenübungen, dann zurückkehrt zur Marie und weiter auf sie einsticht, dann Liegestützte macht, dann wieder der längst Toten zu Leibe rückt, und wie sich schließlich die anderen um ihn herumstellen und ihn anfeuern, "Woyzeck!" rufen, immer wieder "Woyzeck" – zu jedem Stich.

Nichts ist leichter, nichts gedankenfauler, als Büchners "Hirnwütigen" heute noch zum simplen Opfer einer menschenverachtenden, ausbeuterischen Elite zu machen. Bei Leander Haußmann aber sind Hauptmann (Boris Jacoby) und Ärztin (Traute Hoess) keine knarzenden, bösartigen Autoritätsfiguren, sondern hilf- und planlose, traurig-komische Melancholiker. Nein, es sind nicht bloß die Erbsen, es ist die innere Logik des Soldatenberufs, die hier ihre ungewünschten Konsequenzen entfaltet – die kalkulierte, gut bezahlte Verrohung, die Notwendigkeit, nie ganz man selbst, immer Teil des größeren Ganzen sein zu müssen, die verordnete Gewaltbereitschaft.

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Um dies zu illustrieren, stehen dann auch tatsächlich rund dreißig Soldatinnen und Soldaten in authentischer Bundeswehrmontur auf der Bühne, marschieren mit donnernden Schritten, absolvieren ihre Übungen, umkreisen Johanna Griebels schluchzende, verzweiflungslüsterne Marie, treiben ihr den Tambourmajor (Luca Schaub) zu und nehmen immer wieder den Woyzeck in ihre schützende Mitte.

Lachen und Wegschauen, Weinen und Haareraufen

Subtil ist das nicht, ganz und gar nicht, aber es hat eine Wucht, die immer wieder den Atem raubt. Dass Leander Haußmann, bekanntlich arrivierter Filmerfolgsregisseur, nach längerer Abstinenz doch wieder beschloss, fürs Theater zu inszenieren, stellt sich nach einem unrühmlichen Ibsen-Desaster 2011 an der Volksbühne mehr und mehr als gute Idee heraus. Der kürzlich im Berliner Ensemble entstandene Hamlet hat bereits größere Hoffnungen geweckt, dieser Büchner-Abend aber ist nun endgültig zur triumphalen Vitalitäts- und Ideenexplosion geworden. Kein grüblerisches, schon gar kein ironisch distanziertes Gedankentheater ist die Folge, stattdessen eine furios aufregende Verlebendigung, ein ungebremstes Zeigen-, Fühlen-, Auskosten-Wollen von Figuren, Szenen, von Musik und Nebel und Tricks, von sich selbst aufblasenden Zelten, die Taschenlampen-Augen haben, von Körpern, Tränen, Schüssen, von allem, was sich selbst erklärt, weil es einfach da ist. Und wie es da ist!

Keinen kleinen Anteil daran hat Peter Miklusz, dessen Woyzeck jung und staunend in den Untergang stolpert, ein verlorener Schütze Arsch, der panisch, aber aufmerksam auf die Stimmen seiner Schizophrenie lauscht und sich schließlich mit fliegenden Fahnen in den eigene Wahnsinn stürzt. Dann umtänzelt er zu Rossinis obligatorischer "Figaro"-Arie seinen Hauptmann, rasiert ihn nicht bloß, sondern macht ihn, wo er schon mal dabei ist, gleich noch einen Kopf kürzer, erwürgt und zerhackt ihn, was er aber achselzuckend überlebt, sodass auch der Zuschauer nicht mehr weiß, wo ihm in dieser grotesken Alptraumvision der Kopf steht, weil alles gleichzeitig zum Lachen und zum Wegschauen, zum Weinen und zum Haareraufen ist.

Wiedergänger im Affenkostüm

Haußmann hat das unbarmherzige, gänzlich illusionslose Büchner-Fragment aufmerksam studiert und stets beim Wort genommen. Deshalb gehen in den stärksten Momenten auch Militär und Jahrmarkt fließend ineinander über. Deshalb saufen und lottern und prügeln sich die Soldaten, deren Seelen "nach Branndewein" stinken, und lassen sich zu den Peitschenschlägen von Marktschreierin Traute Hoess auf der schwarz-schlichten Bühne wie dressierte Pferde im Kreis herumführen. Um noch eins draufzusetzen, hat sie den kleinwüchsigen Schauspieler Peter Luppa dabei, der in einem täuschend echten Affenkostüm steckt – ein hinreißend unbeeindruckter Wiedergänger Woyzecks, der gleichmütig aus seiner Bierdose trinkt, seine Banane isst, später auch in Uniform steckt und stolz sein Gewehr präsentiert, vor allem aber das Glück hat, sich nicht zu viele Gedanken machen zu müssen: "Geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein' Säbel! Der Aff ist Soldat."

Grob und vordergründig kann das sein – aber auch das hat seine guten Gründe, da uns die Kriegseinsätze immer näher kommen und zwar in recht grober und vordergründiger Weise. Doch es geht auch anders, immer wieder: Dann steckt in diesem Abend eine Zärtlichkeit, die tiefer gar nicht gehen könnte. Ein ewiges, schmalzdickes "Blue Bayou" fällt über die Welt, und die Soldaten besteigen bunte Ballontiere zu einer Karussellfahrt in Slow Motion – eine derart perfekt choreografierte Slow Motion hat das Theater selten, vielleicht noch nie gesehen. Die Marie jedenfalls lässt sich mit dem Tambourmajor davontreiben, und Woyzeck bleibt zurück. Und während ihm die Windmaschine seine zwei Portionen Zuckerwatte erbarmungslos zerfetzt, dreht sich im Berliner Ensemble die Bühne weiter, dreht sich auf die Katastrophe zu und macht großes, ja, wirklich großes Theater.

 

Woyzeck
von Georg Büchner
Regie und Bühne: Leander Haußmann, Kostüme: Janina Brinkmann, Dramaturgie: Steffen Sünkel, Ausbilder der Soldaten: Rainer Clemens.
Mit: Peter Miklusz, Johanna Griebel, Luca Schwab, Raphael Dwinger, Antonia Bill, Traute Hoess, Peter Luppa, Boris Jacoby, Marko Schmidt, Matthias Mosbach, Marvin Schulze, Felix Lüke, Hannes Lindenblatt; und den Soldatinnen und Soldaten: Sharon Joy Liedke, Carmen Romero Velasco, Heidrun Schug; Rainer Clemens, Riccardo Drews, Mario Erbherr, Oliver Gabbert, Thomas Göhing, Marcus Hahn, Raik Hampel, Bjoern Jarkowski, Franz Jarkowski, Carsten Kaltner, Robert Landschek, Marc Lippert, Paul Marwitz, Detlef Matthes, Haiko Neumann, Valentin Olbrich, David Pino Moraga, Alexander Petau, Michel Podwojski, Nils Rech, Benjamin Schwarweit, Thomas Schenk, Mathias Schlicht, Ralf Tempel, Christian Tiedge, Dietmar Lukas Treiber, Jan Wirdeier.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Mehr Theater-Inszenierungen von Leander Haußmann: Die Möwe (2014), Hamlet (2013), Rosmersholm (2011), Der kleine Bruder (2009)

 

Kritikenrundschau

In der Berliner Morgenpost (7.9.2014) schreibt Georg Kasch: "Starke, oft eigenwillige Setzungen sind das, die merkwürdig mit Woyzecks Liebesdrama kontrastieren, in denen der Aus-Versehen-Philosoph zum braven GI und freundlichen Idioten schrumpft." Die Schauspieler würden mit Büchners "dialektgefärbter, expressionistischer Sprache" eher fremdeln: "Offensichtlich will Haußmann den Ton runterkühlen ins Heute. Aber das geht schief." Der Brecht'sche Schluss sei dann wieder toll, "nach einigen Durststrecken in den zwei pausenlosen Stunden, weil sich Büchner mit tollen Bildern allein nicht erzählen lässt".

"Leider nicht so richtig gelungen" findet Ulrich Seidler Haußmanns Woyzeck in der Berliner Zeitung (8.9.2014). Es gebe schon "rührende und kraftvoll-pathetische Momente", aber im großen und ganzen würden sie überdeckt von cooler Verhaltenheit, lockerer Ausinszenierung von Um-die-Ecke-Denkereien, Ironie. "Je weniger Haußmann dem Kitsch und dem Pathos ausweicht, desto näher rückt er der Verzweiflung über die menschengemachte Barbarei, die aus den Woyzeck-Fragmenten Büchners schreit, aus den Abgründen der Sprachlosigkeit", so Seidler. "Wie schnell sind sie zugeplappert, verdrängt und vergessen!"

Haußmann deute das Drama "ziemlich plausibel" aus dem militärischen Stückaspekt heraus und finde Woyzecks Aktualität im zeitlos-gegenwärtigen Kriegszustand, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (8.9.2014). Die Inszenierung sei "deutlich und plakativ", stehe aber sympathischerweise auch völlig dazu und entwickele tatsächlich eine emotionale Kraft, "die bessere Hollywood-Assoziationen weckt".

Haußmann liefere "das Psychogramm des gedrillten Soldaten", schreibt Michael Laages in der Welt (8.9.2014), der die Arbeit über weite Strecken "sehr ansehenswert" findet; "gröber und frecher und rabiater als übliche BE-Kost ist sie in jedem Fall". Haußmann tue sich zwar schwer mit Büchners Material in der, nach Ansicht des Kritikers bei der Premiere, "noch ziemlich unfertigen" Aufführung. Doch die Grundidee sei "komplex und überzeugend". Die Inszenierung "kommt einigen der ewigen Rätsel in Büchners sperrigem Klassiker ernstlich auf die Spur".

"Leander Haußmann, der wahrlich auch anders kann, setzt sich diesmal sehr sanft mit allen Figuren, vor allem aber verständnisvoll mit dem Dichter auseinander", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.9.2014). Heraus komme eine Inszenierung, "so komisch wie virtuos und trotz der famosen Verrücktheit eng am Drama entwickelt". "Trotz ein paar Popsongs und Details wie Mickymaus-Ballons auf dem Jahrmarkt dürfen Büchners 'arme Leu' fern bei sich in ihrem Schmerz bleiben – und kommen uns doch auf erstaunlich heutige Weise nahe."

"Eindrucksvoll" findet Ute Büsing vom Inforadio des rbb (7.9.2014) Haußmanns martialische Bilder für Woyzecks Psychogramm. "Haußmann folgt dem Woyzeck-Fragment, in dem er die einfachen Leute gelegentlich Dialekt sprechen lässt und er teilt durchaus deutlich Büchners Sympathie für die geschundene Kreatur und schafft ihr hier in einem zweistündigen Bilderbogen eine poetische Gegenwelt."

"Militärgetue", das kaum mehr als "aufgesetzter Effekt" sei, hat Peter Hans Göpfert vom Kulturradio des rbb (8.9.2014) im BE erlebt. "Die Manöver dieses Bataillonsballetts sind zwar wuchtig und effektvoll. Aber sie lehren niemanden das Fürchten. Leander Haußmann ist nun mal nicht der Mann für Gesellschaftskritik und existentielle Verzweiflung." Die Inszenierung versuche, "auf poetische oder obsessive Traumbilder zu setzen", aber sie lasse "die einzelnen Rollen nicht prägnant hervortreten", wobei der Kritiker hinzufügt: "Ohnehin stand der Aufführung keine, auch sprachlich, starke Besetzung zur Verfügung."

Als "Anti-Kriegsdrama" habe Haußmann den "Woyzeck" inszeniert, schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (9.9.2014). Er "pathologisiert nicht den Protagonisten, sondern die Gesellschaft". Der Ansatz sei im Kontext jüngster Bundeswehrskandale zwar nicht subtil, aber doch "eindrucksvoll". Haußmann entwerfe "poetische, manchmal auch trashige Bilder", arrangiere die Fragment-Folge um und choreographiere "wunderschöne Slow-Motion-Szenen". Auch "wenn nicht jeder Regieeinfall zündet", entstehe so "eine packende Lesart des Stoffes".

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