Am Abgrund der Poetik

von Thomas Rothschild

9. September 2014. Dieses Buch ist ein Kuriosum. Wenn man es nämlich umdreht, von vorn nach hinten und von oben nach unten, kommt es einem nicht nur spanisch vor – es ist dann tatsächlich spanisch. Anstelle des deutschen Titels "Ja und Nein. Vorlesungen über Dramatik" steht da nun auf dem Umschlag "Sí y No. Conferencias sobre dramática". Denn sein Autor Roland Schimmelpfennig wohnt abwechselnd in Berlin und Havanna, und er möchte – wer könnte das nicht verstehen – hier wie dort gelesen werden. Darauf kommt es ja dem Dramatiker an: ein Publikum zu gewinnen. In welcher Sprache auch immer.

Diese Zweisprachigkeit wirft übrigens ganz nebenbei Fragen auf, deren Antwort man gar nicht unbedingt wissen will. Warum zum Beispiel nennt der deutsche Text, was im Titel noch Vorlesung heißt, in den Kapitelüberschriften – es sind drei – "Vortrag"? In der spanischen Version ist auf dem Umschlag wie in den Kapiteln einheitlich von "conferencias" die Rede, obwohl das Spanische, analog zur deutschen "Vorlesung", die "lección" kennt. Es liegt also nicht am Sprachsystem. Das ist nur insofern bemerkenswert, als einem Autor sprachliche Feinheiten vermutlich nicht egal sind. Was besagt es demnach über dessen Schreibweise, wenn er in einer Sprache variiert, was er in der anderen beibehält?

Objektivierung und Eitelkeit

Nicht jeder Dramatiker ist auch ein guter Theoretiker. Einige der besten, von Shakespeare und Molière über Nestroy bis Dario Fo, haben aus den Erfahrungen der Praxis geschöpft. Nur bei sehr wenigen kommt alles drei zusammen: die Praxis, die Poetik und die Schriftstellerei. Bei Brecht, zum Beispiel, bei Artaud oder bei Boal.

Roland Schimmelpfennig, der Regie studiert hat und auch, "manchmal mit Vergnügen, aber keineswegs immer", führt und der neben Dea Loher, Moritz Rinke und Lutz Hübner zu den meistgespielten und mit bislang 40 Stücken zu den produktivsten deutschen Gegenwartsdramatikern gehört, hat an drei Januarabenden des Jahres 2013 seine poetologischen Ansichten und manches mehr vorgetragen, im Rahmen der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Das kann man nun nachlesen. Und man gelangt zu der Überzeugung, dass es dem Dramatiker ganz offenkundig kein Bedürfnis war, eine Poetik zu verfassen, sondern dass er sich von einer Institution, einer Universität, dazu verleiten ließ. Schimmelpfennig ist kein Theoretiker und kein Systematiker. Seine dramatischen Texte sind merklich einfallsreicher und analytischer als seine Ausführungen zum Wesen der dramatischen Dichtung. "Gutes Theater und Eitelkeit vertragen sich nicht", sagt er an einer Stelle. Objektivierung und Eitelkeit noch viel weniger.

Das Thema des Theaters ist der Mensch

Wenn Autoren Poetikvorlesungen halten, gehen sie gerne von eigenen Texten aus. Die Formulierung allgemeiner Sätze lässt sich bei ihnen in der Regel nicht streng vom Erfahrungsbericht, von der Selbstbeschreibung trennen. So auch bei Schimmelpfennig, der von sich behauptet, er verfüge nicht über die Gabe, auf gemachte Erfahrungen aufzubauen. Er hebt mit einem längeren Zitat aus seinem Stück Wenn, dann: Was wir tun, wie und warum von 2011 an. Mehrere weitere Ausschnitte aus seinen Stücken folgen und sorgen dafür, dass das Buch, zweisprachig, 230 Seiten umfasst. Das kann man, muss man aber nicht so machen. Zur Erinnerung: Lessing stellt eine Auseinandersetzung mit einem Stück des heute längst vergessenen Johann Friedrich von Cronegk an den Anfang seiner Hamburgischen Dramaturgie.

cover schimmelpfennigNachdem er kurz Dampf abgelassen hat gegen schlechte Inszenierungen (seiner Stücke, versteht sich) und "scheinrelevante" Kritiker (seiner Stücke, versteht sich), kommt Schimmelpfennig tatsächlich, wenn auch zögerlich, auf poetologische Dinge zu sprechen. Das Thema des Theaters, deklariert er, sei nicht die Sprache, sondern der Mensch und damit die Vergänglichkeit. Ist das eine Beschreibung oder ein Postulat? Ernst Jandl, zum Beispiel, der weniger Widerstand gegen Theorie empfand als Schimmelpfennig, oder der junge Handke wären demnach aus dem Theater verbannt. Warum bloß muss man eine, wenngleich häufig wahrgenommene Möglichkeit mit Ausschließlichkeitsanspruch ausstatten?

Die Frage ist rhetorisch. Schimmelpfennig muss so formulieren, weil er in Wahrheit eine normative Poetik im Kopf hat, und es ist nicht klar, ob er die Normen aus seinen eigenen Stücken ableitet oder ob er in ihnen seine noch unausgegorenen Normen umgesetzt hat. Indem er aber sagt, wie Theater zu sein habe ("Das Theater erzählt Geschichten. Immer.") und jede Abweichung als "Sackgasse" qualifiziert, ist er Kritikern wie dem verstorbenen Marcel Reich-Ranicki näher, als ihm recht sein kann.

Eine halbe Seite zur Sache

Dass Schimmelpfennigs Eltern keine Hippies waren und dass er in der Nähe der DDR-Grenze aufwuchs, mag man erfreulich finden oder bedauern, aber was hat es mit der Poetik des Dramas zu tun? Stattdessen erführe man gerne, welche Überlegungen den Dramatiker dazu bewegen, seine Figuren häufig das Publikum statt einander adressieren oder mehrere Geschichten synchron erzählen zu lassen. Schimmelpfennig sagt: "Die Grundlage des Theaters ist der Dialog", und er meint damit nicht nur den Text. Aber dann läse man gern etwas mehr als die triviale Erkenntnis: "Die Gesellschaft braucht den Dialog." An einer Stelle setzt er zu einer Reflexion über das "narrative Theater" an. Da kommt er zur Sache. Aber er bleibt nur eine halbe Seite lang dabei.

Nein, ein Theaterreformer wie Peter Brook oder Jerzy Grotowksi ist Roland Schimmelpfennig nicht und auch kein Dramentheoretiker. Wir freuen uns auf Schimmelpfennigs nächstes Stück. Vielleicht auch auf eine Regie. Poetikvorlesungen sollte er vorerst lieber nicht mehr halten.

 

Roland Schimmelpfennig:
Ja und Nein. Vorlesungen über Dramatik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Johannes Birgfeld.
Theater der Zeit, Berlin 2014, 115 und 116 S., 16 Euro

 

 

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Mehr zum Dramatiker Roland Schimmelpfennig in den Nachtkritiken zu Uraufführungen seiner letzten Stücke: SPAM (Mai 2014, Schauspielhaus Hamburg), Das fliegende Kind (Februar 2012, Wiener Burgtheater), Die vier Himmelsrichtungen (Juli 2011, Salzburger Festspiele).

Mit seinem Stück Der goldene Drache, das er selbst uraufführte, gewann Roland Schimmelpfennig 2010 den renommierten Mülheimer Dramatikerpreis und wurde zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

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