Auslöschung der Arbeiterwelt

10. September 2014. Ein Gespenst geht um in der Kulturszene, es ist das "Gespenst der Postmoderne". In Anlehnung an die berühmte Eröffnung des "Kommunistischen Manifests" von Marx/Engels holt der Theaterkritiker Christian Baron in einer Polemik für das Neue Deutschland (10.9.2014) zum Schlag gegen das zeitgenössische Theater und seine, wie er es schildert, intellektualistische Kastenbildung aus.

Als "selbstreferenzielle wie pseudoprovokante Aneinanderreihung wirrer Performance-Kunstschnipsel" erscheint Baron die Bühnengegenwart. Der herrschenden (Post-)Dramatik gehe es "kaum mehr um den Sinn einer Handlung und immer weniger um nachvollziehbare Figurenzeichnung oder deren stringente Entwicklung", sondern – hier wendet Baron einen Ausspruch von Nis-Momme Stockmann gegen den Dramatiker – um die "Auslöschung des konsumierbaren Sinns". Dadurch aber schließe sie einen Großteil des Publikums, insbesondere die Arbeiterschaft, aus.

Verworrene Effekthascherei und inhaltsleerer Textquark

Im Ringen um Anerkennung als Intellektueller und ironische Distanz verweigere der Künstler heute jede klar erkennbare Haltung und produziere eine "Melange aus verworrener Effekthascherei (besonders beliebt: nackig umherrennen) und inhaltsleerem Textquark (besonders beliebt: diffuse Diskursfetzen wahllos aneinanderreihen)". Vordergründig strebe das Theater "danach, das herrschende Falsche als Ohnmacht erzeugendes Drecksystem zu entlarven; sie bleibt dabei aber meist so wohlfeil-diffus, dass sie dem vorgeblich kritisierten Kapitalismus eine dankbare Steilvorlage liefert, sich gegen jede fundamentale Kritik unter Verweis auf das berüchtigte Merkelsche Diktum der Alternativlosigkeit zu immunisieren."

Künstlerische Alternativen findet Baron bei Volker Lösch oder im Off-Theater, wo man der "Arbeitswelt der niedriglöhnenden Nicht-Akademiker im Amazon-Lager oder bei Opel" begegnen könne. Doch ein Lob für solche Produktionen ernte stets Gegenwind aus dem etablierten Feuilleton: "Wer in der klandestinen Komplexität der Welt offensiv für den Umsturz aller kapitalistischen Verhältnisse trommelt, macht sich bestenfalls lächerlich."

Die soziale Frage ist verabschiedet

Eine Fachtagung des Deutschen Theaters Berlin über "Zugangsbarrieren" zum Theater erscheint dem Kritiker ebenso als Krisensymptom eines selbstreferenziellen Betriebs wie manche Spielplanposition zum Beginn der aktuellen Saison: Yael Ronen Thematisierung der "Erotic Crisis" der "hochqualifizierten Mitte" (am Berliner Gorki Theater) oder Stefan Puchers Beleuchtung der künstlerischen Seite des Massenmörders Charles Manson (am Hamburger Thalia Theater).

Dass "Tschick" (nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf) in der neuesten Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins als Spitzenreiter erscheint, zeigt nach Barons Ansicht, "dass der hiesige Kulturbetrieb sozialen Realismus bestenfalls als harmlos in Jugendbuchform verpackte Kleinbühnenproduktion duldet". Dagegen spiele "Armut, Hartz IV, Mietenwahnsinn, Lohnkämpfe", mithin die "soziale Frage", auf "den großen Bühnen keine Rolle mehr".

(chr)

Kommentare  
ND über Postdramatik: Parteitagsrede
Oh mein Gott.alles was in dieser Zeitung erscheint ist in einer Weise vorhersehbar.diese Kritik hätte identisch schon 1970 im nd erscheinen können und wurde schon meiner Märchen schreibenden Großmutter im DDR Schriftstellerverband an den Kopf geknallt (wo sind denn da die Werktätigen,was sagt das über die soziale Lage...)und tschick ist sozialer Realismus harmlos in Jugendbuchform .
Man könnte lachen wäre es nicht so traurig das 25 Jahre nach dem Mauerfall jemand so eine parteitagsrede veröffentlicht.
ND über Postdramatik: pseudo-proletarisch
@ Jubelperser: Genau. Man vermutet, dieser Artikel wurde nur deswegen geschrieben, um mal wieder Volker Lösch und seine platt-populistischen Arbeiten als Gegenbeispiel zu nennen.

"Tschick" ist nun wirklich alles andere als ein harmloses Jugendbuch. Und Herrndorf bedient zum Glück auch nicht die Schublade des "sozialen Realismus". Der kann besser schreiben, der kann das parodieren. Da steckt dann auch wieder viel Politisches drin, man muss es nur herauslesen können. Aber lesen ist ja Arbeit, da brüllen wir doch lieber gleich pseudo-proletarische Parolen. Nein, danke.
ND über Postdramatik: Blaumann und Bummi
Tja, was soll man dazu noch sagen? Erst macht der Literarturkritiker T. Krause mobil gegen das kleinkarierte DDR-Theater von Castorf. Jetzt kommt der Ruck von Links, gegen das bürgerliche Theater der Ironie. Einer will keinen Sozialismus mehr auf der Bühne sehen, der anderen vermisst dort das Proletariat. Gehen die überhaupt öfter ins Theater, oder vielleicht in die falschen, oder eher gar nicht? Und die Nachtkritik erhebt den jungen Polemiker Christian Baron („theaterbegeisterter Endzwanziger und seit Kurzem Volontär des »nd«“) gleich zum Theaterkritiker. Ich denke, da fehlt es noch ein wenig an Durchblick. Polemik ist schön und gut, wenn man weiß worüber man so polemisiert. Wer Postdramatik, Regietheater, Nis-Momme Stockmann, Yael Ronen, Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ usw. und usf. in eine Topf schmeißt und verrührt, und dann nach mehr Realismus á la Volker Lösch ruft, sollte doch vielleicht noch ein paar Volontariate beim Theater nachschieben, bevor er als Kritiker durchstartet.

Ist ja interessant, dass Christian Baron Castorf gar nicht erwähnt. Ist der auch nicht proletarisch genug, weil der immer ein Jackett beim Inszenieren anhat und keinen Blaumann (oder Blauhemd) trägt wie Brecht? Baron erwähnt die „altmodische soziale Frage“, die keine Rolle mehr auf der Bühne spiele. Da hat er ja gar nicht so Unrecht. Aber anstatt sich selbst Gedanken zu machen, zitiert er aus einem Zeit-Essay von Publizist Florian Kessler über Literatur (wie Krause Resort verfehlt) und schiebt Sewan Latchinian vom Volkstheater Rostock, der „relevantes politisches Theater“ machen will (laut ND-Interview), als Hoffnungsträger vors Loch. Die Frage ist doch aber immer, wer geht eigentlich ins Theater? Die Arbeiterklasse (wenn es die noch gibt - Ausnahmen bestätigen hier wie immer die Regel) oder das gutsituierte Bürgertum? Für wenn will man eigentlich Theater machen und warum? Das sind die brennenden Fragen, nicht vordergründig irgendeine soziale Frage. Und mit Realismus möchte ich im Theater nicht traktiert werden, den sehe ich selbst jeden Tag. Die Schwierigkeit ist, das Erlebte in entsprechende Kunst umzusetzen. Dafür ist die Kritik natürlich nicht zuständig. In den Kommentaren der ND-Leser wird schon nach mehr Baron gerufen. Atze, Bummi und Frösi lassen grüßen.

(Lieber Stefan B., nur kurz zur Einordnung des Autors. Christian Baron ist länger schon als Theaterkritiker aktiv, u.a. für nachtkritik.de in Thüringen. Mit besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
ND über Postdramatik: Realismus erläutern
Danke für die Information, lieber Christian Rakow. Dann nehme ich den Bummi eben wieder zurück. Aber dafür soll mir dann Christian Baron bitte erklären, was Volker Löschs Arbeiterchöre mit Realismus zu tun haben und wie für ihn politisch relevantes Theater aussieht. Darüber würde ich gerne diskutieren.
ND über Postdramatik: junge Leute sind weiter
@ Stefan B.: Stimme Ihnen zu. Ausser in Bezug auf Ihre Polarisierung "Arbeiterklasse" versus "gut situiertes Bürgertum". Die klassische Arbeiterklasse gibt es heute ebenso selten wie den gut situierten Bürger. Und schaut man sich die jungen Leute im Theater so an, dann erkennt man, dass höchstens das BE altbacken geworden ist, ebenso wie der allzu werktreu inszenierte Brecht. Wer könnte zum Beispiel heute noch "Die Maßnahme" inszenieren, ohne mit dem kapitalistischen Kontext in Widerspruch zu geraten? Aber dort, im BE, dort sitzt größtenteils noch das gut situierte, aber eben alt gewordene Bürgertum in den Theatersesseln. Diese wohlhabenden Salonkommunisten träumen immer noch vom Kommunismus, während die jungen Leute längst weiter sind. Von Brecht bleiben nur die Gedichte, weil Poesie in sich abgeschlossen ist und nicht auf die Realität verweist, sondern auf die Utopie.

"Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.
Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen. Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.
Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen nennen ihn schmutzig. Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.
Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen. Aber wir wissen: Er ist das Ende der Verbrechen. Er ist keine Tollheit. Er ist nicht das Chaos, sondern die Ordnung.
Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist."
ND über Postdramatik: ausgespuckt
Kann nur zustimmen.
Die Errungenschaften der Künstler im letzten Jahrhundert wurden vom Theater aufgesaugt und werden jetzt in einer anmaßenden unreflektierten Beliebigkeit ausgespuckt.
Aber wahrscheinlich ist es damit ein Spiegelbild des Zeitgeistes.
ND über Postdramatik: selbst eine Phrase
Ist die 30 Jahre alte Klage über die "selbstreferenzielle wie pseudoprovokante Aneinanderreihung wirrer Performance-Kunstschnipsel" und der Ruf nach mehr unironischen Inhalten nicht mittlerweile selbst eine Phrase?

Es gibt doch unglaublich viele Ansätze, das Soziale sichtbar zu machen. Vielleicht nicht gerade im Deutschen Theater oder Berliner Ensemble. Aber Herr Baron braucht sich doch nur mal das neue Oktober-Programm z.B. des HAU durchzulesen. Natürlich schreibt heut keiner mehr wie Gorki, Mutter Courage oder Ken Loach. Aber das gibt's doch. Warum soll man das wiederholen? Und wenn Performances oder Doku-Theater oder Interventionen nicht immer Meisterwerke generieren, von denen man in 30 Jahren stolz renommieren kann, ich war dabei. So what? Ein Glück, dass man noch was wagen und auf die Schnauze fallen darf, statt immer auf Nummer sicher gehen zu müssen.

Ich finde Barons Text nicht sehr anregend, sondern blubberblubber. Und das bei einem Menschen, der das Leben noch vor sich hat. Offenbar früh vergreist. Warum weist Nachtkritik überhaupt darauf hin. Hoffentlich nicht, um wieder eine "Generationen"-Debatte mit Lamentos über die "Angepasstheit der Jugend von heute" vom Stapel zu lassen. Sucht lieber die brillanten Teens und Twens, als die verspießerten.
ND über Postdramatik: definitiv vorbei
Was für ein schöner und wahrer Text. Einerseits. Anderseits beschreibt er ja grad an den Realitäten vorbei, denn diese Haltung der Schreibers ist doch schon der Status Quo. Schlimm ist ja nicht, dass es diese dauernd ironische mittelständlerische Postdramatik gab, schlimm war eher, dass es sie eine Zeitlang überall gab. Mit Betonung auf "gab", denn dieser Trend ist ja defintiv vorbei. Das grundsätzlich Unheimliche am deutschen Stadttheater seit 1933 ist, dass es immer wieder so homogen überall gleich ist....von Wilhelmshaven bis Zürich. Bald werden wir überall Bürgerchöre zu hören kriegen wie es sie bei Lösch zu hören gab ( ja, genau das zeichnet sich ab im Moment), und die Theater-Landschaft wird genauso furchtbar homogen sein - wie eben diese überall auftauchenden Cowboyhüte und Glitzer-Bühnen und Tocotronic-Jäckchen und ironisch Textfragmente glucksenden SprecherInnen eine Zeitlang überall anzutreffen waren... ach, ich sehne mich nach im Wald esoterisch tanzenden Verrückten, nach dem andersartigen, nicht fassbaren Theater....aber nicht mehr nach dieser dauernden Homogenität auf diesen Bühnen. Ich will nicht zu der Peer-Group des Betriebs gehören, sondern endlich wieder herausgefordert werden durch Diversität.
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