Die Möwe - Sebastian Kreyer zeigt Tschechow in Bonn kalt und cool mit Swimmingpool
Kein Pud Liebe
von Martin Krumbholz
Bonn, 12. September 2014. Tschechow wusste genau, was er wollte. "Eine Komödie, drei Frauenrollen, sechs Männerrollen, vier Akte, eine Landschaft, wenig Handlung, ein Pud Liebe." Der Regisseur Sebastian Kreyer, der sich "Die Möwe" am Schauspiel Bonn zur Brust nimmt, hält sich im Großen und Ganzen daran, etwas weniger, was das Pud Liebe, etwas mehr, was die Komödie betrifft, die in Tschechows Aufzählung immerhin an erster Stelle steht.
Melodram, Sitcom, Trash
Tschechow wollte in seinen Stücken den komödiantischen Zug betont wissen, heißt es im Programmheft, und der Regisseur lässt sich das nicht zweimal sagen. Auch wenn gleich anfangs der bedauernswerte Jungschriftsteller Treplew tot im Pool schwimmt – nicht im See, die Bühne von Matthias Nebel erinnert eher an ein Hotel in der Karibik als an ein Landgut in Russland –, so soll damit die tragische Pointe des Originals doch nur eingeebnet, eben zur Pointe verkürzt werden, und die passende (Film-)Musik zu dieser Ouvertüre macht klar: Dies ist nicht großes Drama, sondern Melodram, Sitcom, Trash.
Die Gags, die folgen, stammen nicht von Tschechow, sondern von Kreyer, und sie sind (meist) nicht mal unwitzig. Oft gibt die Schauspielerin Arkadina (Sophie Basse), eine völlig überkandidelte, sich in Posen und Luftnummern ergehende Diva kurz vor ihrem (angeblichen) Comeback, den Anlass dazu: Man darf sich über sie lustig machen, solange man eine gewisse Grenze akzeptiert. Ihr Liebhaber Trigorin (Benjamin Grüter) ist ein Meister in dieser Kunst des Laissez-faire. Man sieht ihn hinter einer Scheibe in seinem Manuskript blättern oder in die Maschine hämmern, und gelegentlich schwadroniert er dabei von einer "cash cow". Einmal hat er die Idee "für eine kleine Erzählung": Ein Mädchen am Ufer eines Sees, frei wie eine Möwe, ein Mann kommt zufällig vorbei, richtet es aus Langeweile zugrunde. Was für ihn, den bedeutenden Schriftsteller – nicht so bedeutend wie Tolstoi oder Turgenjew – eine "kleine Erzählung" ist, Betonung auf klein, ist für andere – Treplew, Nina, die "Angehenden" im Stück – das Drama ihres Lebens.
Bedenkliches Frauenbild
Nur: Das Mädchen Nina kommt in dieser Aufführung praktisch gar nicht vor. Treplews Theaterstück ist als eine Art Mauerschau inszeniert, man sieht lediglich die (albernen) Reaktionen des versammelten Publikums. Nina ist anfangs ein Girlie in kurzen Jeans, später, nach ihrer Affäre mit Trigorin, hat sie etwas Nuttiges, und ihre Frage, ob sie sich verändert hätte, möchte man achselzuckend mit "Ja und Nein" beantworten. Das Frauenbild dieses noch jungen Regisseurs stimmt nachdenklich. Arkadina ist eine schreckliche Person, Egozentrik ist ein schwacher Ausdruck dafür; selbst über den Selbstmord ihres Sohnes, den sie gern "Baby" nennt, geht sie mit einer schrillen Theaterpose hinweg.
Es ist interessant zu sehen, wie der Blick auf ein Ensemble von Figuren – drei (bzw. vier) Frauen, sechs Männer – sich verändern kann, je nachdem ob man Tschechow oder Kreyer heißt. Tschechows Blick hat immerhin etwas Liebevolles, auch wenn er die Schwächen seiner Leutchen schonungslos aufdeckt. Kreyers Blick auf dieselben Personen hat etwas Kaltes, Zynisches, wenig Sympathetisches oder gar Freundliches. Die Frauen kann man vergessen, aber auch die Männer sind letztlich Nullen. Sie haben an diesem Abend ihre virtuosen Momente – Glenn Goltz etwa als Arkadinas Bruder Sorin, Wolfgang Rüter als Verwalter, Maik Solbach – er vor allem – als Vogelscheuche von einem Lehrer. Aber keiner von ihnen hat ein Rückgrat. Trigorin am wenigsten. Sein Erfolgsroman heißt übrigens "Wenn die Birnbäume wieder blühen"; er ist demnach ein Trivialautor, alle Referenzen auf Tschechow sind getilgt. Auch hier macht Kreyer aus seiner Methode keinen Hehl: Es geht ihm nicht um Menschen mit Ambivalenzen, sondern um Popanze mit Posen.
Der Abend in Bonn-Bad Godesberg ist eine Weile ganz amüsant. Hat man das Prinzip erkannt, wird der Witz dünner, die flachen Figuren beginnen zu nerven und schließlich nimmt die Langeweile überhand. Ein großer Teil des Publikums fand's aber gut.
Die Möwe
von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec
Regie: Sebastian Kreyer, Bühne: Matthias Nebel, Kostüme: Britta Leonhardt, Musik: Sebastian Blume, Dramaturgie: Nina Steinhilber.
Mit: Sophie Basse, Jonas Minthe, Glenn Goltz, Maya Haddad, Wolfgang Rüter, Ursula Grossenbacher, Mackie Heilmann, Benjamin Grüter, Andrej Kaminsky, Maik Solbach.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspiel-bonn.de
"Die knapp zweistündige, pausenlose Inszenierung bietet viel für Augen und Ohren", schreibt Dietmar Kanthak im Bonner Generalanzeiger (16.9.2014), die Seele des 1896 uraufgeführten Dramas werde man allerdings vergeblich suchen. Der "ungemein einfallsreiche Regisseur" serviere eine "temporeiche Bühnen-Comedy, motiviert vom legitimen Bemühen, junges Publikum in die Kammerspiele zu locken". Auf Sebastian Kreyers "knallbuntem Tableau" seien auch "einige Tschechow-Tupfer" nicht zu übersehen. Nicht zu überhören war seinem Bericht zufolge auch der Premierenjubel.
"Da hat es sich jemand zu einfach gemacht", schreibt Andreas Pecht in der Rhein-Zeitung (16.9.2014). Aus Sicht des Kritikers interessiert sich der Regisseur für das Werk "nur als Steinbruch, aus dem Brocken zu holen sind, die er zur launigen Sitcom meißeln kann." Er ballere mit Pointen nur so um sich, "die Tschechows hintersinnig genaue Menschenbeobachtung alsbald von der Bühne schießen." Dabei sei die dem Krimi entkehnte Regieidee garnicht schlecht. Doch das ganze sei nur punktuell vergnüglich. Mit Tschehow habe es nichts zu tun.
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