Wenn der Hintergrund im Vordergrund steht

von Özgür Uludag

Hamburg, Mai 2011. Obwohl die Theaterschaffenden sich als Avantgarde betrachten, haben sie Angst, Schauspieler mit erkennbarem Migrationshintergrund auf die Bühnen zu lassen. Aus einer Bunkermentalität heraus verteidigen sie ihren Kultur- und Musentempel gegen die Migranten mit fremdländischem Aussehen und weigern sich, sie dort zu integrieren.

Eine schwarze Maria Stuart oder einen türkischen Faust, wann hat es das auf den deutschsprachigen Bühnen gegeben? Aber auch einen schwarzen Othello oder einen griechischen Ödipus konnten wir schon lange nicht mehr bewundern. Viele Schauspieler mit Migrationshintergrund und fremdländischem Aussehen haben große Schwierigkeiten, für ein Ensemble engagiert zu werden. Sie bekommen vielleicht die Rollen, die typischerweise mit Ausländern besetzt werden, Türken dürfen Türken, Afrikaner dürfen Afrikaner spielen, aber nicht Faust, König Lear oder Iwanow. Da an den Staats- und Stadttheatern im deutschsprachigen Raum überwiegend Theaterstücke von Kleist, Tschechow oder Shakespeare gespielt werden, sind die Chancen für Araber, Türken oder Schwarz-Afrikaner denkbar schlecht.

"...nur die Qualität muss stimmen"

Woran liegt das? Häufig argumentieren Intendanten, Dramaturgen und Regisseure, es gebe keine guten Schauspieler, die dem Anspruch genügen, auf einer großen Bühne spielen zu können. Die Intendantin am Schauspiel Köln, Karin Beier, hat in ihrer ersten Spielzeit in Köln durchaus viele Migranten beschäftigt. Eine von ihnen ist Anja Herden.

Die dunkelhäutige Schauspielerin mit afrikanischen Wurzeln kennt die Probleme der Schauspieler mit offensichtlichem Migrationshintergrund. "Es geht in diesem Job ja sowieso nicht immer nur primär um Talent, sondern vor allem auch um sozio-kulturelle Moden, Geschmäcker und Trends, die ein Schauspieler auch repräsentiert", sagt sie entschieden. "Die allgemeine Forderung nach großen Rollen, oder einfach nur nach einem selbstverständlichen, der multi-kulturellen Realität angepassten 'Vorkommen' auf deutschen Bühnen, halte ich jedoch für unklug – insofern der Totschläger: 'Wir-würden-ja-wenn-IHR-nur-begabter-wärt' einen immer wieder in die Sackgasse knüppelt", empört sie sich. "Natürlich empfinde ich diese Aussage in ihrer Pauschalität als eine Unverschämtheit und halte sie, in dieser Diskussion, einfach nur für unfassbar kontraproduktiv", sagt Herden.

"Vielleicht ist es am ehesten so, dass das gesamte, höchst empfindliche Gebilde von Intendanz, Regie und Feuilleton sich tatsächlich gemeinsam dazu entscheiden müsste, Sehgewohnheiten und Erwartungen eines Publikums umzuschulen und dabei in Kauf zu nehmen, dass ein solcher Umbruch möglicherweise manchmal holpert und irritiert – vor allem aber die Unterstützung von denen braucht, die über all die entscheidenden Was, Wers und Wos wachen", bemerkt Herden abschließend. Sie sei zwar noch immer in Köln, aber die Verträge vieler anderer Kollegen mit Migrationshintergrund wurden nicht verlängert oder sie sind selber gegangen, weil sie kaum für tragende Rollen in Betracht gezogen wurden.

Intendantin Karin Beier betont jedoch: "Es sind auch einige geblieben! Für die Zuschauer spielt die Hautfarbe eines Schauspielers ja überhaupt keine Rolle, nur die Qualität muss stimmen... wir würden jeden engagieren, den wir gut finden! Aber es gibt da nicht so viele."

"Warum kann ich nicht Maximilian aus München sein?"

Der Regisseur und Dozent an der Schauspielschule in Hamburg Jan Oberndorf empfindet die Qualitätskriterien von Intendanten als höchst subjektiv und entgegnet: "Seit nun fast zehn Jahren absolvieren immer mehr Studenten unsere Schauspielschule, und darunter sind viele sehr talentierte Schauspieler und Schauspielerinnen, deren Herkunft sichtbar ist." Auch die Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin, das Max-Reinhardt-Institut in Wien oder die Otto-Falkenberg-Schule in München bestätigen, dass jedes Jahr hoch talentierte Schauspielstudenten mit fremdländischem Aussehen ihre Schulen absolvieren. Bis zu 20 Prozent der Absolventen sind Migranten, und die Hälfte von ihnen hat auch ein fremdländisches Erscheinungsbild. Doch selbst Schauspieler, die im Kino und Fernsehen zu sehen sind, haben auf den Bühnen selten eine Chance, obwohl sie ihr Talent vor der Kamera bewiesen haben.

"Warum kann ich nicht Maximilian aus München sein? Man wird in Deutschland noch immer sehr stark als Ausländer assoziiert, von Menschen, die es gar nicht böswillig meinen. Trotzdem gibt es da immer noch dieses 'Wir-Ihr'-Denken", sagt Fahri Ogün Yardim, der in Filmen wie "Almanya – Willkommen in Deutschland", "Kebab Connection" und "Chiko" gespielt hat.

In Serien oder Filmen im Fernsehen, aber auch in großen Kino-Produktionen sind diese Schauspieler mit fremdländischem Erscheinungsbild zu sehen. Sie werden dort jedoch häufig stereotyp besetzt, denn im Fernsehen und Kino ist Authentizität und Realismus gefragt. Und da das Thema Integration und Migration seit einiger Zeit verstärkt öffentlich diskutiert wird, erscheinen diese Themen natürlich auch im Fernsehen und im Kino. Seien es Serien wie "Türkisch für Anfänger" oder "Tatort" oder Filme wie "Gegen die Wand" oder "Auf der anderen Seite" von Fatih Akin.

Theater und ihre Intendanten haben Angst

Obwohl das Theater prinzipiell ein abstraktes Medium darstellt und dem Zuschauer sogar abverlangt wird, sich mit Regietheater auseinanderzusetzen, wird kaum ein Schauspieler mit Migrationshintergrund und fremdländischem Aussehen engagiert. Traut man dem Zuschauer diese kognitive Leistung nicht zu? Ist das Publikum nicht bereit, einen Karl oder Franz Moor aus Schillers "Die Räuber" mit einem Hussein oder einem Ali anzunehmen? Ein Bühnenbild nach Brecht, wo das Schild "Wald" die Phantasie des Zuschauers anregen soll, wird als kreatives Bühnenbild rezipiert. Ist diese Abstraktion bei Schauspielern nicht möglich? "Im Theater wäre es eigentlich, anders als im Film, der über einen Realismus funktioniert, eher möglich, als Ausländer einen Franz oder einen Karl zu spielen, denn wenn ich im Theater bin und ich sehe einen Pappbaum, dann bin ich bereit, diesen Pappbaum als realen Baum anzunehmen. Ich stelle ganz viel Realität selber her, wo der Film mir eine Realität zeigen muss", sagt Filmschauspieler Denis Moschitto.

Warum also fehlt an den Theater die Bereitschaft fehlt, einen Ausländer als Deutschen zu besetzen? Azadeh Sharifi ist Doktorandin in Hildesheim und hat sich in ihrer Dissertation dem Thema "Partizipation von Postmigranten am Stadt- und Staatstheater" gewidmet. Sie glaubt, dass viele Theaterhäuser und ihre Intendanten Angst haben. "Die Angst besteht, dass, wenn ein Ali besetzt wird, der erst einmal auf sein Aussehen reduziert würde. Auf seine schwarzen Haare. Da man bisher sehr stark von Stereotypen ausgegangen ist, wird das natürlich auch inhaltlich in eine bestimmte Richtung interpretiert. Ich glaube, da ist die Angst vorhanden, dass man genau in diese Falle tappt. Dass die Zuschauer, wenn ein Ali in 'Die Räuber' Franz Moor spielt, nicht mehr über Schillers 'Räuber', sondern über Neuköllner Gangster sprechen. Weil Ali möglicherweise aussieht wie das Stereotyp eines Neuköllner Gangsters. Obwohl inhaltlich gar nicht auf das Thema eingegangen werden, sondern eine klassische Inszenierung von 'Die Räuber' stattfinden sollte."

Sprechtheater ist ein artikulationslastiges Medium

Der Intendant des Thalia Theaters Hamburg, Joachim Lux, ist sich dieser Problematik bewusst. Er möchte zwar etwas riskieren und hat auch keine Furcht zu scheitern, doch einen Quotenschauspieler will er auch nicht. "Ich fürchte mich vor stereotypischen Besetzungen. Das ist ganz klar. Weil dann fange ich an, diese Menschen auszubeuten für eine bestimmte Spezialität, die sie halt biographisch mitbringen." Er würde lieber gleich mehrere Schauspieler mit Migrationshintergrund einstellen, denn dann hat der Migrationshintergrund keinen konzeptionellen Hintergrund.

Das avantgardistische Theater wehrt sich gegen solche Kunstgriffe aus Furcht zu typisieren. Das Tanztheater, die Oper, das Ballet oder Kabarett sind dem Sprechtheater um Jahre, wenn nicht um Jahrzehnte voraus. Joachim Lux betont: "Also wenn sie als erste Geige einen Türken haben, dann sagen sie, die erste Geige spielt ein Türke, das ist mir völlig wurst, das ist nicht der Quotentürke, sondern der ist einfach ein guter Musiker."

In einem Sprechtheater spielt die Sprache natürlich eine entscheidende Rolle. Doch "die Ausländer" leben zum Teil in der dritten Generation in Deutschland, sind also Bildungsinländer und sprechen nicht nur fließend Deutsch, sondern sie sind im höchsten Grade integriert. Sie setzen sich mit den Klassikern der deutschen Literatur auseinander und wollen nun ihre Interpretation von zum Beispiel "Faust" auf die Bühne bringen. Auch ihre Aussprache unterscheidet sich in keiner Weise von der eines Deutsch-Deutschen.

Die Doktorandin mit persischen Wurzeln Sharifi ist sich nicht sicher, ob diese Gründe nicht nur vorgeschoben werden. "Bisher ist es so, dass das Argument vorherrscht, na, diese Schauspieler haben einen leichten Akzent, sprechen kein perfektes Hochdeutsch, ohne dass man ihnen das anmerkt, und ich würde sagen, dass man das doch oft auf die Sehgewohnheiten zurückführen muss, dass viele mit ihrem sichtbaren Migrationshintergrund auffallen und deswegen als Faktor gesehen werden, der negativ ausgelegt werden könnte, von den Feuilletons, vom Publikum. Ich weiß gar nicht, ob irgendjemand diese Angst zugeben würde." In der Tat gibt keiner der Theaterschaffenden zu, dass sie sich fürchten zu scheitern. Der hohe Produktions- und Erfolgsdruck führt dazu, dass sie das Risiko zu scheitern eher meiden.

Theater für, mit oder über Migranten?

Die Bringschuld der Migranten, die auf die Theaterbühnen drängen, ist längst erfüllt. Doch die Mehrheitsgesellschaft scheint sich zu weigern, die Kunst und Musentempel durch Ausländer entweihen zu lassen. Aber es sind nicht nur Migranten, die es nicht an die Bühnen schaffen, sondern es sind auch ihre Kultur und ihre Geschichten, die nicht auf die Bühnen kommen. Das Fernsehen ist da sehr viel weiter mit seiner Durchlässigkeit.

Ist der Theaterbetrieb in der deutschsprachigen Theaterlandschaft so eurozentrisch, wie es den Anschein hat? Auch Shakespeare, Tschechow, Gorki oder Sophokles entsprechen nicht der deutschen Leitkultur, werden aber gerne gespielt. Nicht so Stücke aus der Türkei, Afrika oder den arabischen Ländern. Ist man nicht bereit, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen? Beschäftigen sich diese Kulturen nicht genauso mit Liebe, Leidenschaft, Leben und Tod? Sind es nicht dieselben Gefühle, Probleme und Herausforderungen? Wollen wir das in Deutschland nicht sehen, hören und fühlen?

Vor postmigrantischen Themen fürchtet man sich ebenso. Es sind die Ausländer selber, die diese Themen besetzen. Ehrenmord, Flucht und Heimat werden von ihnen besonders an den kleineren Bühnen thematisiert. Den großen Häusern ist dies häufig zu banal und zu gefährlich. An diesem heißen Eisen will man sich nicht die Finger verbrennen. Theater für, mit und über Migranten findet deswegen dort nicht statt. Dabei wäre es eine Bereicherung für alle. Es wird jedoch lieber die fünfundachzigste "Romeo und Julia"-Inszenierung vorgestellt. Dabei hat die Ruhrtriennale gezeigt, dass das Pendant Leyla und Madjnun durchaus anregend sein kann und ähnliche Fragen aufwirft.

Ein langer Weg, bis der Migrationshintergrund nicht mehr im Vordergrund steht

Azadeh Sharifi glaubt, dass den meisten Theaterschaffenden der Mut fehlt. "Man braucht viel mehr Experimentierfreudigkeit, man braucht mehr Vertrauen in Künstler mit Migrationshintergrund. Da gibt es sehr viele Schauspieler, die von den Schauspielschulen kommen. Natürlich sehr junge Schauspieler, die natürlich noch wenig Erfahrungen mitbringen, aber man muss ihnen die Möglichkeit geben zu reifen, man sollte ihnen die Chance geben, an den Theaterhäusern ihre Erfahrungen zu sammeln und zu scheitern. Aber deswegen darf man nicht aufgeben. Natürlich sind das im Moment noch sehr wenige, aber sie sind da auch vorhanden und ich glaube, dass man weniger Angst haben sollte vor dem Scheitern, sondern akzeptieren, dass das Scheitern Teil des Ganzen ist und dass die jungen Schauspieler, die jetzt kommen oder die da sind, eben Erfahrungen brauchen. Sie sind auch in der Lage, eine Hauptrolle zu spielen und den Anforderungen und Vorstellungen gerecht zu werden."

Die ersten Schritte werden unternommen. Das Thalia Theater hat, um die Migranten ans Theater zu locken und für sich zu entdecken, das Projekt "Thalia Migration" ins Leben gerufen. Auch die Lessingtage werden dafür genutzt, sich dieser Thematik zuzuwenden. In Heidelberg stand neben den Inszenierungen Gegen die Wand nach Fatih Akin und "Schnee" von Orhan Pamuk Anfang Mai das Theaterland Türkei im Fokus des Stückemarkts. Am Deutschen Theater in Berlin inszenierte der Hausregisseur des Ballhaus Naunynstraße, Nurkan Erpulat, gemeinsam mit Dorle Trachternach Clash. Viele andere widmen sich inzwischen ebenfalls diesem Thema. Azadeh Sharifi ist daher auch zuversichtlich, "dass langfristig eine Veränderung stattfinden wird und die Theaterhäuser viel durchlässiger sind und viel, viel bunter werden als jetzt." Es ist zwar noch ein langer Weg, bis der Migrationshintergrund nicht mehr im Vordergrund steht, aber man hat sich vielerorts bereits auf den Weg gemacht.

 

Özgür Uludag, 1976 in Hamburg geboren, arbeitete über neun Jahre im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Inzwischen ist er als Journalist beim Norddeutschen Rundfunk tätig. Eine kürzere Version seines hier vorliegenden Textes wurde im April in Zenith. Zeitschrift für den Orient veröffentlicht. Mitte Mai wird im NDR Kulturjournal ein Bericht von Özgur Uludag zu diesem Thema gesendet.

 

 

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