Experten des Mehrwerts

von Tim Schomacker

Loccum, 25. Februar 2014. Entscheidet man sich für ein Leben als Künstler/in, schreibt der Kunsttheoretiker Harry Lehmann in seinem bemerkenswerten Buch über die "digitale Revolution in der Musik", wähle man eher ein Lebensideal als ein Handwerk. Zentraler Aspekt dieses Ideals sei die in der Kunst eben leichter zu bewerkstelligende "Individualisierung durch Selbstreflexion", die Lehmann von jener Individualisierung abgrenzt, bei der "Identität aus dem Sortiment angebotener Individualisierungsmuster" zusammengestellt wird. Hergestellt wird eben nicht nur Kunst, sondern auch Identität. Und zwar als ein Mehrwert, der sich gerade nicht in klingender Münze – sondern im Idealfall ganz anders bezahlt macht.

Die Mehrwertfrage

Dieser nichtökonomische Mehrwert zog sich als eine Art geheimer roter Faden durch das Kolloquium über "kreatives Prekariat", das die Evangelische Akademie Loccum am Wochenende gemeinsam mit der Kulturpolitischen Gesellschaft Bonn veranstaltete. "Wie lebt es sich von und mit der Kunst?", lautete die Hauptfrage auf dem Papier. Wie reagieren Kulturpolitik und öffentliche Hand ordnungspolitisch und mit ihren Förderinstrumenten auf beständig wachsende Künstlerzahlen, wenn immer weniger dieser Akteure ihr Leben mit den Erlösen aus künstlerischer Arbeit bestreiten können? Diese Frage kristallisierte sich in Vorträgen und Diskussionen als eigentliche heraus. Eindeutig beantwortet wurde sie naturgemäß nicht. Aber das ist wohl auch nicht die vordringliche Aufgabe einer solchen Zusammenkunft.

subway  bench 560 hans abbing slideExit Broadway: Die moderne Variation des armen Poeten. Slide aus einem Vortrag des
Amsterdamer Soziologen Hans Abbing  © Hans Abbing

Deutlich wurde einmal mehr: Beide Seiten – Kunst und Öffentlichkeit – müssen sich mit sich selbst, aber auch mit einander verständigen. Wie viel Unternehmertum ist für Künstler und Künstlerinnen akzeptabel bzw. notwendig? Und welcher Stellenwert wird der Kunst (je nach Perspektive Kreativwirtschaft inbegriffen) in einem Gemeinwesen von Kommune bis Bund eingeräumt – und was tut man dafür?

Die Aura des Kunstwerks hat sich ins Künstlerbild verschoben

In seinem Eingangsvortrag fragte der Amsterdamer Künstler und Soziologe Hans Abbing danach, warum Künstler eigentlich arm seien. Genauer: Warum sie Künstler blieben, auch wenn diese Existenz zur ökonomischen Lebenssicherung nicht hinreiche.

Als einer von wenigen argumentierte Abbing mit der Herstellung nichtökonomischen Mehrwerts. Die vielzitierte Aura, die nach Benjamin dem Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit abhandengekommen ist, habe sich, so Abbing, gewissermaßen auf die Künstlerexistenz selbst hin verschoben. Und zwar genau zu dem Punkt, den Lehmann Lebensideal nennt und in dem sich ein romantisches Künstlerbild paart mit den Anforderungen einer postfordistischen Gesellschaft, deren Ideologie ein Format wie "Germany's Next Topmodel" gerade mal wieder luzide vor Augen führt.

Da Künstlerinnen und Künstler aber mit dem Ideal allein im Portemonnaie nicht einkaufen gehen können, müssen viele von ihnen auch fachfremd arbeiten. Was zu hybriden Lebensformen mit spezifischen Problemen führt – von denen viele (monetär gesehen) dauerhaft am Rande des Existenzminimums siedeln.

Eine idealtypische soziale Abwertungskarriere

Im beruflichen Lebenslauf der fiktiven Modedesignerin Doris Müller fasste die Berliner Soziologin Alexandra Manske prekäre Kreativen-Biographien idealtypisch zusammen. Idealtypisch für eine, so Manske, soziale Abwertungskarriere, in der am Arbeitsideal festgehalten wird, in der verschiedene Modelle gemeinschaftlichen Handelns (etwa in Form eines Zusammenschlusses mit anderen Kleinproduzenten) ausprobiert werden, in denen Burnout und Selbstzweifel erlebt werden, in denen geschlechtsspezifische Schwierigkeiten erfahren werden. Ohne dadurch den Wunsch nach einem anderen Beruf zu entwickeln.

Wichtige historische Voraussetzungen für die gegenwärtige Menge von Künstlerinnen und Künstlern, so ergänzte Manske Abbings Überlegungen, lägen in der bundesrepublikanischen Modernisierungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, in den sich wandelnden Lebensidealen nach 1968 sowie der wohlfahrtsstaatlichen Anerkennung des Künstlerstatus als Arbeit in den 1970ern. Wobei Letzteres etwa in der Gründung der Künstlersozialkasse in den frühen 1980ern mündete.

Agentin, Managerin, öffentliche Person

Ein Podium stellte freischaffende Künstler/innen aus vier verschiedenen Sparten beispielhaft vor. In ihren bisherigen Lebensläufen mal mehr, mal weniger mit der prekären Dimension des eigenen Berufs konfrontiert, zeigte sich in den spartenübergreifenden biographischen Berichten, wie hier Einzelne (für sich) Selbstorganisationsmodelle entwickeln mussten, um die diversen über die künstlerische Produktion im engeren Sinne hinaus gehenden Erfordernisse zu bewältigen: neben Schreiben, malen oder Komponieren eben auch noch Agentin sein, Managerin, öffentliche Person.

katjakullmann2011 280 rolfoeser x"Gestatten, Geschäftsfrau": Katja Kullmann
2011 bei einer Lesung in Frankfurt
© Rolf Oeser
Die Schriftstellerin Katja Kullmann, die mit 2011 mit "Echtleben" eine eigene ökonomisch wie psychologisch äußerst prekären Lebensphase zum Gegenstand eines Romans gemacht hat, stellte sich (im Rückgriff auf eine entsprechende Äußerung Jörg Fausers) gleich als "Geschäftsfrau" vor. Vor allem aber benannte sie anlässlich der Lesung aus ihrem Buch eine interessante Wende. Damals, 2007, sagte Kullmann, hätten alle versucht, die finanzielle Enge, gar den Gang zum Sozialamt, vor einander zu verheimlichen. Nach außen sei man darum bemüht gewesen, den Schein des irgendwie doch gelingenden Lebens zu wahren – wobei Freunde und Bekannte oft gewusst oder geahnt hätten, wie es (zumal finanziell) steht. Dass sich dies gewandelt habe, bezeichnete Kullmann als wichtigen Schritt. Auf die Problematik aufmerksam zu machen, sei eine Voraussetzung, um etwas zu verändern.

Keine Auftritte mehr in Norddeutschland

Einen ganz anderen Effekt der Prekarität nannte der Berliner Musiker Gebhard Ullmann. Weil man es sich schlicht nicht mehr leisten könne, würden ganze Landstriche immer weniger bedient. In Norddeutschland etwa trete er kaum mehr auf. Für ihn und seine Kollegen eine logische Konsequenz aus sinkenden Konzert-Gagen, die an den entsprechenden Orten zu einer geringeren Versorgung mit Kunst und Kultur führten.

Der aus dem "Tatort" des Saarländischen Rundfunks als Gerichtsmediziner bekannte Frankfurter Schauspieler Hartmut Volle berichtete anschaulich von den Schwierigkeiten, Bühnenengagements, TV-Aufträge und andere Beschäftigungen versicherungsrechtlich unter einen Hut zu bekommen.

Das künstlerische Prekariat muss nicht still leiden

Leider blieb, abgesehen von der Lesung Katja Kullmanns, die Frage, inwieweit prekäre Lebenssituationen ihrerseits die künstlerische Arbeit beeinflussen, unberührt. Denn diese Möglichkeit, etwa darüber zu schreiben, bleibt ja immer noch. Oder, wie es der Statistiker Michael Söndermann aus Köln zum Beginn eines ganzen Reihe von Präsentationen empirischer Erhebungen zu Lebens- und Einkommenssituation von Künstlerinnen und Künstlern ausdrückte: "Die sozialen Berufe diskutieren ja nicht über prekäre Bilder, die leiden still vor sich hin." Womit Söndermann die grundlegende Schwierigkeit ansprach, welche Aspekte "kreativer Prekarität" innerhalb des Kulturbetriebs bearbeitet werden können. Über Kunst- und Kulturförderung oder Lobbyarbeit hinaus könnten die Verhältnisse innerhalb der Kunst ja reflektiert werden; derweil die sozialen Rahmenbedingungen von Künstler/innen – als Bürger unter anderen – doch besser in den Sozialressorts aufgehoben wären.

Auch wenn hybride Existenzformen, also die Kombination freischaffender künstlerischer Arbeit mit angestellten oder freien kunstnahen, aber auch kunstfernen Arbeitsverhältnissen, ein großes statistisches Problem darstellten, präsentierte Söndermann für das Jahr 2007 mit knapp 9000 Euro Jahreseinkommen einen erschreckend niedrigen Mittelwert für immerhin die (untere) Hälfte der künstlerischen Berufe.

stefanbadorno 560Der schöne Schein Quelle: Stefan B. Adorno

Rolf Bolwin vom Deutschen Bühnenverein und Martin Heering vom Bundesverband Freie Theater berichteten von durch Rationalisierungen entstehenden Arbeitsverdichtungen in den öffentlichen Theaterhäusern, familienunfreundlichen Rahmenbedingungen in der freien darstellenden Szene und dem Widerspruch zwischen kommunal orientierten Förderinstrumenten und gesteigerter räumlicher Flexibilität bei freien Theaterschaffenden.

"Kulturinfarkt" und die Kritikfreiheit der Netzwerke

Dieter Haselbach, Mitautor der Streitschrift "Kulturinfarkt", hinterfragte zugespitzt die "implizite Hypothese" der Tagung, dass "die prekäre Situation von Künstlern ein übergreifendes, gesamtgesellschaftliches Problem" sei. Kulturpolitik sei eine Institution, der die Kultur am Herzen liege – und nicht notwendig das Wohlergehen von Künstlern. Eine Input-Förderung (etwa eine Grundförderung allein wegen der Zugehörigkeit zu dieser Berufsgruppe) wäre nicht nur ein ordnungspolitisches Novum, sie würde außerdem noch mehr künstlerischen Output hervorbringen, für den sich dann kein ausreichender Markt fände. Instrumente wie Zielsetzungen der öffentlichen Alimentierung von selbständigen Künstlern seien zu hinterfragen. Haselbach selbst zieht Infrastrukturmaßenahmen der Institutionenförderung vor, will Projektförderung stärken und individuelle öffentliche Hilfe auf die "Herstellung der ersten Sichtbarkeit" (sprich: Nachwuchsförderung) reduzieren.

Interessanterweise wurde ausgerechnet, als es um Koalitionen der freien Szene und ihre Forderungen ging, von nötigen Qualitätsdebatten gesprochen – was im Verlauf der Tagung bis dahin keine Rolle gespielt hatte. Diese sind gewiss nötig. Aber jeweils auf beiden Seiten. Dies- und jenseits der akademischen Ausbildungen, dies- und jenseits von institutioneller Förderung. Kriterien sind – und das ist auch ein Ergebnis der Kunstgeschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert – nicht mehr ganz so leicht zu bestimmen. Und gerade bei freischaffenden Künstler/innen ist zu beobachten, dass, je mehr das allseits gewünschte Netzwerken greift, es desto schwerer zu werden scheint, Arbeit von anderen offensiv kritisch zu sehen – es sind ja stets Kollegen, von denen man auch einmal abhängen könnte.

 

Kreatives Prekariat
Wie lebt es sich von und mit der Kunst?
59. Loccumer Kulturpolitisches Kolloquium 21.-23. Februar 2014

www.loccum.de

 

Über die Marketinganforderungen an heutige Künstler schrieb Ina Roß im April 2013, damals Dozentin für Selbstmarketing an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch.

Der Rationalisierung der Arbeitsverhältnisse an Stadttheatern widmete sich jüngst am Beispiel des Volkstheaters Rostock die Veranstaltung von nachtkritik.de an der Berliner Volksbühne: Was darf Kunst kosten? (dokumentiert im Filmmitschnitt).

Hier geht es zur Diskussion über die Thesen der Streitschrift "Kulturinfarkt".

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