Das transkulturelle Theater. Grenzüberschreitungen der Theaterwissenschaft

von Günther Heeg

Leipzig, 9. Juli 2014

1. Das transkulturelle Theater ist kein besonderes Genre oder eine neue Theaterform. Es ist eine Forschungsperspektive und Konstruktion der Theaterwissenschaft, die auf diverse Theater-Praktiken zurück geht und historisch und zeitlich unterschiedliche Gestalten von Theater in ein neues Licht rückt. Die Ausführung dieser Forschungsperspektive ist selbst ein Stück transkultureller Praxis. Ihr Ziel ist es, in Zeiten der Globalisierung und kulturellen Hybridisierung theatrale und wissenschaftliche Verkehrsformen bereit zu stellen, die den Austausch von Wissen und die Teilung von Erfahrungen in einer entstehenden transkulturellen Gemeinschaft ermöglichen.

2. Das transkulturelle Theater ist ein Erkenntnis- und Handlungsmodell, das die Grenze zwischen Theorie und Praxis, Theater und Wissenschaft permanent überschreitet. Das verlangt, erneut nachzudenken über das Verhältnis von Theater und Wissenschaft. Sollen sich Theater und Wissenschaft nicht fremd gegenüber stehen, muss Theater strukturell in die Wissenschaft Eingang finden: Theaterwissenschaft wird dann zum Theater der Wissenschaft.

sihanouk 560 theatredusoleil uEine Pionierin des Intekulturellen Theaters: Arianne Mnoushkine und ihre Inszenierung
des Stücks "L’Histoire terrible mais inachevée de Norodom Sihanouk, roi du Cambodge"
von Hélène Cixous, 1985 am Théâtre Du Soleil  © Théâtre du Soleil

3. Die Perspektive eines transkulturellen Theater ist an der Zeit. Ihre Notwendigkeit und gesellschaftliche Relevanz ergibt sich aus den Auswirkungen und Folgen der Globalisierung. Die grenzenlose Dynamik des digitalen Kapitalismus führt zu fundamentalistischen Reaktionsbildungen. Religiöse, ethnische und nationale Phantasmen, die Identität und Halt schaffen sollen, ziehen neue Grenzen zwischen dem "Eigenen" und dem "Fremden" und bringen Konflikte und Krieg mit sich. Theaterpraktiken haben einen wichtigen Anteil am Zustandekommen dieser Phantasmen. Die theatrale und wissenschaftliche Auseinandersetzung damit ist der Ansatzpunkt für das Modell des transkulturellen Theaters.

4. Das Konstrukt des transkulturellen Theaters geht aus von der Erfahrung des Fremden. Fremdes begegnet darin nicht in fernen Ländern und exotischen Kulturen, sondern im Inneren der vermeintlich eigenen. Das hindurchgehende Fremde in den kulturellen Phantasmen, die uns umgeben, das Trans, ist der Beweggrund des transkulturellen Theaters.

5. Zentral für die Perspektive des transkulturellen Theaters ist die Figur der Wiederholung. Um zum Fremden zu gelangen, muss die Geschichte wiederholt werden, die das Phantasma des Eigenen hervorgebracht hat. Kollektive Phantasmen basieren auf Ursprungsmythen, Geschichtskonstruktionen, Traditionen und Erinnerungsritualen, die Geschichte ontologisch verankern und stillstellen. Die theatrale und wissenschaftliche Praxis der Wiederholung zerstört die behauptete kulturelle Einheit und Ganzheit und rettet die Einzelteile, die Überreste der Geschichte, indem sie sie in andere Zeiten und Räume versetzt und damit transkulturell anschlussfähig macht. Destruktion und Rettung sind daher die beiden Aufgaben der Wiederholung. In ihrem Zusammenspiel machen sie die Wiederholung zu einer Bewegung der Überschreitung.

5. Exemplarisch zeigt sich diese Bewegung an der Geste. Die Geste entspringt der katastrophischen Unterbrechung eines historisch-kulturellen Kontinuums. Getrennt von ihrem ursprünglichen Ort und abgeschnitter von der Tradition ist die Geste gezeichnet von den Spuren ihrer Geschichte, ihrem Nachleben. Dieses Nachleben überlebt, indem es die Geste entführt in fremde Landstriche und Umgebungen. Die Geste ist der Migrant par excellence. Sie verbindet die eigene, fremd gewordene Vergangenheit mit der Zukunft am fremden Ort. Deshalb ist die Geste ein paradigmatisches Medium transkultureller Kommunikation. Gestische Kommunikation ist die von Fremden, die die Bindung an eine kulturelle Tradition und Gemeinschaft aufgegeben haben, sich aber zugleich voneinander unterscheiden und abheben durch die unterschiedlichen Spuren der Geschichte, die sie an sich tragen. Gesten sind offen und anschlussfähig für neue Geschichte(n) in der Konstellation mit anderen Räumen und Zeiten.

guentherheeg 140 privatGünther Heeg ist Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und Vizepräsident der International Brecht Society.
Er ist Leiter des DFG-Forschungsprojekts "Das Theater der Wiederholung" und deutscher Partner einer Forschungskooperation mit der Keio Universität Tokio über "Tradition und Transkulturalität im deutschen und japanischen Gegenwartstheater" (DAAD/JSPS).
Neueste Veröffentlichung: "Reenacting History. Theater & Geschichte" (Mithg. 2014).

 

Diese Thesen sind die Kurzfassung eines Vortrages, den Günther Heeg im Rahmen der Ringvorlesung Theaterwissenschaft: Aus Tradition Grenzen überschreiten am 3. Juli 2014 an der Universität Leipzig hält. Die Ringvorlesung findet aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts für Theaterwissenschaft Leipzig statt. Dem Institut droht die Schließung. Das Programm der Ringvorlesung finden Sie hier.

Weitere Thesen: Matthias Warstat hat sich mit der Protestform der direkten Aktion befasst, Christopher Balme mit eine globalen Theatergeschichte, Andreas Kotte mit der Zukunft der Theatergeschichtsschreibung, Nikolaus Müller-Schöll mit dem "posttraumatischen Theater" und der Darstellung der Undarstellbarkeit, Stefan Hulfeld mit Theaterhistoriographie, Gerda Baumbach mit Akteuren als Erzählerfiguren, Friedemann Kreuder mit Fragen der Differenzforschung und Ulf Otto mit dem Wandel vom Schauen zum Mitmachen.

 

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