Unsere Verantwortung

3. Juli 2014. In einem offenen Brief wenden sich 80 deutsche TheatermacherInnen und Kulturschaffende an die Politik und appellieren, eine menschenfreundlichere Asylpolitik durchzusetzen, meldet die Pressestelle des Berliner Maxim Gorki Theaters. "Mit großer Scham, Empörung und Entsetzen verfolgen wir die jüngsten Ereignisse rund um die Grundschule in der Ohlauer Straße in Berlin Kreuzberg (...) Gegen ihre drohende Abschiebung protestierende Menschen werden kriminalisiert und der Presse der Zugang zu den Flüchtlingen verwehrt. Das Schicksal der Betroffenen ist mehr als ein Einzelfall", heißt es in dem Brief. Gefordert wird, endlich die Einschränkung des Artikel 16 durch den sogenannten "Asylkompromiss" von 1993 wieder rückgängig zu machen, eine menschenfreundliche Asylpolitik dringend umzusetzen und bis dahin geflüchteten Menschen in Deutschland unbürokratisch und menschlich zu helfen.

Ab sofort ist auf change.org eine Petition eingerichtet, die online unterschrieben werden kann. 

(gorki.de / sik)


Der komplette Wortlaut des offenen Briefs:

OFFENER BRIEF VON KÜNSTLERINNEN UND KULTURSCHAFFENDEN AN DIE POLITIK UND SICH SELBST
An die Mitglieder des Deutschen Bundestages
An die Mitglieder des Abgeordnetenhauses von Berlin
An die deutschen Mitglieder des europäischen Parlaments

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit großer Scham, Empörung und Entsetzen verfolgen wir die jüngsten Ereignisse rund um die
Grundschule in der Ohlauer Straße in Berlin Kreuzberg. Inmitten der Hauptstadt eines der reichsten Länder der Welt, das sich international als Vorbild für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sieht, ist in kürzester Zeit ein Ausnahmezustand geschaffen worden. Gegen ihre drohende Abschiebung protestierende Menschen werden kriminalisiert und der Presse der Zugang zu den Flüchtlingen verwehrt.

Wir sehen in diesen Ereignissen keine lokale Eskalation. Das Schicksal der Betroffenen in der Ohlauer ist mehr als ein Einzelfall. Die verzweifelt protestierenden Menschen in der Ohlauer Straßen haben unsere Solidarität, weil sie in ihrer verzweifelten Lage den Mut haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie sind zu Stellvertretern geworden für tausende andere, deren "Fälle" nicht öffentlich werden, weil ihre Abschiebung "planmäßig", "reibungslos" und "gewaltfrei" abläuft. Sie verweisen mit ihrem Protest auf die skandalöse Abwesenheit einer deutschen Einwanderungspolitik und auf die Unfähigkeit, innerhalb der europäischen Politik eine grundlegende Debatte, jenseits von Einwanderungsverhinderung und Grenzsicherung zu führen.

Es erfüllt uns mit Scham, dass wir in Deutschland erneut an den Begriff der "historischen
Verantwortung" erinnern müssen. Aber offenbar ist das Bewusstsein der besonderen deutschen Verantwortung jenseits von Gedenkfeierlichkeiten nicht verankert. Unsere Geschichte und die Verfolgten der Gegenwart haben keine Lobby, das wird uns in diesen Tagen erneut schmerzlich bewusst.

Wir fordern Sie auf, die Würde des Grundgesetzes wieder herzustellen. Am 28.6.1993 wurde durch eine empörende Fehlentscheidung das Recht auf Asyl laut Artikel 16 des Grundgesetzes für politisch Verfolgte bis zur Unwirksamkeit eingeschränkt. Die Verpflichtung, verfolgten Menschen Schutz zu gewähren, muss wieder uneingeschränkt gelten. Insbesondere in einem Land, das Europa mit einem Krieg überzogen hat, das 6 Millionen Juden vernichtet hat, das bei seinem eigenen Wiederaufbau profitiert hat von der Hilfe und der Gnade der Weltgemeinschaft und nun für sich in Anspruch nimmt, "mehr politische Verantwortung in der Welt" zu übernehmen. Die Einschränkung von Artikel
16 des Grundgesetzes muss rückgängig gemacht werden.

Wir stimmen mit Navid Kermani überein, der in seiner zutiefst beeindruckenden Rede zum
65. Geburtstag des Grundgesetzes sagte, dass von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die Reform begründet wurde, auch zwei Jahrzehnte später keine Rede sein könne. "Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem Artikel 16 seine Würde genommen."

Wir fordern Sie auf, diese Verantwortung zunächst im eigenen Land und in der Europäischen Union zu übernehmen, indem Sie im Namen der Bundesrepublik in erster Linie zum Anwalt derer werden, die sich schutz- und hilfesuchend an uns wenden. Wir sind uns im Klaren darüber, dass diese Hilfe nicht einfach ist, dass sie finanziell, logistisch und politisch eine Herausforderung ist. Wir bitten Sie aber, sich gemeinsam mit der deutschen Öffentlichkeit dieser Herausforderung zu stellen.

Wir fordern Sie auf, auf allen politischen Ebenen, von den Kommunen über den Bund bis zum europäischen Parlament, Ihre Verantwortung als Vertreter auch für jene wahrzunehmen, die in der Gesellschaft keine lautstarken und finanzkräftigen Fürsprecher haben. Flucht nach Deutschland darf nicht länger als Verbrechen wahrgenommen werden. Die Umsetzung einer menschenfreundlichen Flüchtlingspolitik wird möglicherweise noch einige Zeit in Anspruch nehmen. So lange muss mit Flüchtlingen, in der Ohlauer Straße und an anderen Orten, unbürokratisch und menschlich umgegangen werden.

Wir ermutigen Sie, sich nicht von ausländerfeindlichen Stimmen und populistisch-nationalistischen Tendenzen in der Gesellschaft unter Druck setzen zu lassen. Die Antwort kann nicht bloße Empörung sein, sondern gegenläufiges politisches Handeln.
Wir verpflichten uns, viel mehr als bisher den Menschen, die von Abschiebung und Vertreibung aus Europa bedroht sind, eine Stimme zu geben. Wir verpflichten uns, Lobbyisten der Geschichte, der zum Schweigen verurteilten und der Verzweifelten zu sein.
Wir verpflichten uns, in unserer Arbeit Öffentlichkeit für die Debatte zwischen Betroffenen,
Mehrheitsgesellschaft und Politik herzustellen.

ERSTUNTERZEICHNER_INNEN:
Shermin Langhoff, Intendantin Maxim Gorki Theater
Jens Hillje, Co-Intendant und Leitender Dramaturg Maxim Gorki Theater
Marianna Salzmann, Künstlerische Leitung Studio Я
Jürgen Maier, Geschäftsführender Direktor Maxim Gorki Theater
Matthias Lilienthal, Künstlerischer Leiter "Theater der Welt" und designierter Intendant der
Münchner Kammerspiele
Amelie Deuflhard, Intendantin Kampnagel
Claus Peymann, Intendant Berliner Ensemble
Jutta Ferbers, Chef-Dramaturgin und Mitglied der Direktion Berliner Ensemble
Miriam Lüttgemann, Geschäftsführende Direktorin Berliner Ensemble
Thomas Ostermeier, Künstlerische Leitung Schaubühne am Lehniner Platz
Tobias Veit, Stellv. Direktor Schaubühne am Lehniner Platz
Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Theatertreffens
Kay Wuschek, Intendant Theater an der Parkaue
Jochen Sandig, Künstlerische Leitung Radialsystem V – New Space for the Arts
Peter Spuhler, Generalintendant Badisches Staatstheater Karlsruhe
Burkhard C. Kosminski, Schauspielintendant Nationaltheater Mannheim
Wagner Carvalho, Künstlerische Leitung Ballhaus Naunynstraße
Tunçay Kulaoğlu, Künstlerische Leitung Ballhaus Naunynstraße
Philippa Ebéne, Künstlerische Leitung Werkstatt der Kulturen
Johan Simons, Intendant Münchner Kammerspiele und designierter Intendant Ruhrtriennale
Stefan Fischer-Fels, Künstlerischer Leiter GRIPS Theater
Volker Ludwig, Gründer des GRIPS Theaters
Franziska Werner, Künstlerische Leiterin Sophiensaele Berlin
Tina Pfurr, Künstlerische Leitung Ballhaus Ost
Dr. Gisela Höhne, Intendantin des RambaZamba Theaters
Prof. Michael Börgerding, Generalintendant Theater Bremen
Barbara Mundel, Intendantin Theater Freiburg
Peter Carp, Intendant Theater Oberhausen
Wolfgang Stüßel, Leitung Theater Strahl Berlin
Yael Ronen, Regisseurin und Autorin
Nurkan Erpulat, Regisseur
Sebastian Nübling, Regisseur
René Pollesch, Dramatiker und Regisseur
Carolin Emcke, Publizistin
Wolfgang Kaleck, Autor und Rechtsanwalt
Imran Ayata, Autor
Falk Richter, Autor und Regisseur
Daniel Cremer, Regisseur
Michael Ronen, Regisseur
Olga Grjasnowa, Autorin
Mely Kiyak, Publizistin
Hakan Savaş Mican, Autor und Regisseur
Sasha Waltz, Choreografin, Tänzerin und Opernregisseurin
Christian Weise, Regisseur
Hans-Werner Kroesinger, Regisseur
Sebastian Baumgarten, Regisseur
Irina Szodruch, Dramaturgin
Ludwig Haugk, Dramaturg
Holger Kuhla, Dramaturg
Aljoscha Begrich, Dramaturg
Niels Bormann, Schauspieler
Lars Eidinger, Schauspieler
Aram Tafreshian, Schauspieler
Thomas Wodianka, Schauspieler
Falilou Seck, Schauspieler
Sesede Terziyan, Schauspielerin
Bernhard Conrad, Schauspieler
Jasmina Musić, Schauspielerin
Elisabeth Blonzen, Schauspielerin
Vernesa Berbo, Schauspielerin
Nora Abdel-Maksoud, Schauspielerin
Mareike Beykirch, Schauspielerin
Lea Draeger, Schauspielerin
Oscar Olivo, Schauspiele
Knut Berger, Schauspieler
Taner Şahintürk, Schauspieler
Pegah Ferydoni, Schauspielerin
Kurt Krömer, Schauspieler
Marleen Lohse, Schauspielerin
Idil Baydar, Schauspielerin
Silvia Fehrmann, Rat für die Künste und Leiterin Kommunikation Haus der Kulturen der Welt
Tucké Royale, Performer
Hatice Akyün, Autorin und Journalistin
Cagla İlk, Kuratorin und Projektmanagerin
Max Czollek, Autor
Suna Gürler, Regisseurin, Theaterpädagogin und Autorin
Jutta Maria Staerk, Künstlerische Leitung COMEDIA Theater Köln
André Schmitz, Vorstandsvorsitzender der Schwarzkopf-Stiftung
Vera Strobel, Künstlerische Leitung Theater o.N.
Dagmar Domrös, Künstlerische Leitung Theater o.N.
Dr. Torsten Wöhlert, Stellv. Geschäftsführer Kulturprojekte Berlin GmbH
Christian Lagé, Creative Director und Partner, anschlaege.de
Philipp Harpain, Regisseur und Theaterpädagoge GRIPS Theater
Ute Pinkert, Professorin für Theaterpädagogik Universität der Künste
Livia Patrizi, Künstlerische Leitung TanzZeit - Zeit für Tanz in Schulen
Sibylle Berg, Autorin
Miraz Bezar, Filmemacher
Çığır Özyurt, Theaterpädagoge & Musiker
Und viele andere…

 

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