Unaufhaltsamer Paarverfall

von Shirin Sojitrawalla 

Mainz, 11. Juni 2008. Das abgestandene Hotel könnte auch gut und gern ein Bunker sein. Den Fliegeralarm besorgen darin Modellflugzeuge, die hübsch quer über die Bühne schnurren. Wir sind im Hotel "Stefans Hof" in Königswinter – kein Hotel zum großen Glück, sondern eher Gasthof bürgerlichen Elends. Dort hausen drei Paare und Karl, alle waren schon mal irgendwie miteinander verbandelt. Wer aktuell Ehepaar ist und wer nicht, bleibt in dieser Komödie besorgniserregend nebensächlich.

Verbindlichkeiten waren gestern, wir befinden uns im Jahr 1975. "Hoch Hinaus!" lautet das allgemeine Lebensziel. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag, doch von Gänsen und Klößen im Hotel keine Spur, die offen gelassene Tiefkühltruhe macht selbst die gute Pute ungenießbar.

Amateure im Standardleben

Abgekapselt von der Außenwelt drehen die Figuren bei Botho Strauß ihre Runden auf dem rutschigen Parkett ihrer geschlossenen Gesellschaft. Guenther und Doris sind zwar nicht miteinander verheiratet, aber zum gemeinsamen Paartanzen reicht es gerade noch. Bis Doris beim Tanzen stürzt und Guenther ihr diesen Fauxpas nicht verzeihen kann. Ein Drama. Ein Drama zum Lachen, in dem sich die Figuren als Amateure in ihrem Standardleben erweisen.

Regisseur Jürgen Bosse hält sich für seine Mainzer Inszenierung sehr genau an den Text und die Regieanweisungen von Botho Strauß. Sorgsam setzt er die Komödie in Szene. Die Bühne bildet das liebevoll befleckte Hotel im staubigen fünfziger-Jahre-Charme ab. Zuerst sehen wir das Foyer und dahinter den Tanzsaal. Nach der Pause befinden wir uns dann auf der anderen Seite, schauen also vom Saal ins Foyer. Die Figuren stecken in Klamotten jener Zeit.

Dabei beweist die Inszenierung von Beginn an ein gutes Gespür für das richtige Tempo. Langeweile kommt in den eineinhalb Stunden nicht auf, Begeisterung aber auch nicht, wobei wir gar nicht richtig sagen können, woran das liegt. Nicht förderlich ist sicher, dass manch ein Schauspieler dem Witz und der Komik des Stücks nicht vertraut und meint, die Pointen (über)spielen zu müssen. Warum sonst die Grimassen, das Loriotmäßige und die Dialektfärberei?

Bürokratisch gebügelter Durchschnitt

Die handfeste Blondine Hedda (Julia Kreusch) hat indes alle Lacher auf ihrer Seite und kann sich ganz auf ihre ulkigen Nudelnummern verlassen. Mit ihrer herrlich flennend naiven Stimme wartet sie auf ihren großen Durchbruch, den sie im Liedchensingen dann auch meint zu schaffen. Margot indes bleibt eher diffuse Progressive, die sich selbst sehr gerade und Männern zuvorkommend ihren Hintern hin hält und alle an ihrer Monatsblutung teilhaben lässt. Allein das Wort erregt im Mainzer Publikum noch vereinzelte Empörung.

Davon bekommt die neurotische Doris (Andrea Quirbach) aber rein gar nichts mit. Sie ist die ein wenig peinliche Turniertänzerin, die in ihrem kanariengelb aufgerüschten Kleid als jämmerlich farbenfrohes Huhn über die Bühne stakst. Dabei schlägt sie unregelmäßig rheinischen Dialekt an. Mit ihren Männern teilen die drei Frauen höchstens noch den gemeinsamen Nachnamen. Der Frontverlauf führt in diesem Stück durch jedes Paar hindurch.

Dieter ist bei Andreas Mach nett bürokratisch gebügelter bundesrepublikanischer Durchschnitt, Karl (Michael Schlegelberger) bestens informierter Zauberer mit zwei Gesichtern und Guenther (Stefan Walz) ein selbstgewisser Streber und Verteidiger des Bestehenden. Richtig zu sagen hat sich in dieser Runde freilich niemand etwas, und die Liebe ist bloß noch ein unruhiges Stück Erinnerung.

Das alte, abgelebte Leben

Im Zentrum des unaufhaltsamen Paarverfalls stehen Stefan und Doris, die sich im Laufe des Abends verdoppelt beziehungsweise fantastisch verjüngt. Auf einmal steht die alte, also junge Doris wieder da. Tatjana Kästel spielt sie mit fast dem gleichen rheinischen Zungenschlag. Sie verkörpert das alte abgelebte Leben, das noch ein sturzfreier Tanz zu sein schien. Alle freuen sich über die wiederauferstandene Doris, nur ihr schlaffer Ehemann Stefan kapiert erst einmal nichts.

In einer herrlich skurrilen Bettszene lässt Strauß sie dann aber aufeinanderprallen, bevor die Doris der Jetzt-Zeit erscheint wie ein Fluch. Im Schlussbild beugt sich diese Doris dann über ihren tiefgefrorenen Ehemann und versucht ihm krampfhaft, frisches Leben einzuhauchen. Ganz kurz nur ist sie ihm so nah, wie sonst an diesem Abend nie. Stefan aber ist längst tot und kalt. Dasselbe gilt für die Bonner Republik.

  

Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle
von Botho Strauß
Inszenierung: Jürgen Bosse, Bühne: Susanne Maier-Staufen, Kostüme: Erika Landertinger.
Mit: Friederike Bellstedt, Tatjana Kästel, Julia Kreusch, Andrea Quirbach, Andreas Mach, Michael Schlegelberger, Gregor Trakis, Stefan Walz.

www.staatstheater-mainz.com
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Kritikenrundschau 

Wenn es "mit geistreichen Dingen zuginge", meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.6.2008), dann müsste "die Nation an jedem Weihnachtsabend ... vor einer gelungenen Fernsehaufzeichnung einer leichten, witzigen Inszenierung dieses Stückes sich versammeln", nämlich vor Botho Strauss' "Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle": "diese Gesellschaft der Beziehungsreichen, aber Bindungsarmen, der glückstraurig und urkomisch miteinander Verzweiten müsste ja doch längst zum eisernen Bestand unseres unsterblichen Komödienpersonals gehören". Doch "Komödiendeutschland" sei "vor diesem Stück damals", bei der Uraufführung 1975, "durchgefallen", da es Tiefsinn gesucht habe, doch: "In diesem Stück ist die Oberfläche schon die tiefste Tiefe. Diese Komödie ist alles, was der Fall ist, also was ihr zufällt." Jürgen Bosse habe sie nun in Mainz "nüchtern, leicht, sachlich, umstandslos komisch und derbzart" in Szene gesetzt. Und die Schauspieler machten "aus den Straußschen Menschen keine kritischen Monster, keine papierenen Ungeheuer, keine Supergespenster, hängen ihnen keine Symbolgewichte an das Revers, bei dem sie die Figuren leicht und wie nebenbei packen und ganz normal und sozusagen rhetorisch barzahlend beim Wort nehmen. Jeder ist nicht mehr, als er scheint."

Im Wiesbadener Tagblatt (13.6.2008) bietet Jens Frederiksen eine andere Lektüre des Textes an: Das Stück komme "wie die psychopathologische Bestandsaufnahme einer Gesellschaft kommunikationsgestörter Egomanen daher, könnte aber auch als Parabel auf die deutschen Nachkriegs- und Wiederaufbaujahre gemeint sein." Jürgen Bosse aber habe "an Botho Strauss' bedeutungsbehängtem Frühwerk einfach nur das interessiert, was auch ohne große interpretatorische Verbiegungen offenliegt: der ebenso irritierende wie gewitzte Dialog-Pingpong." Es gelinge "eine farbige und kurzweilige, mit knapp anderthalb Stunden reiner Spielzeit zudem äußerst temporeiche Aufführung, in der die Schauspieler jede Menge Möglichkeiten für komödiantische Extemporés finden." Fazit: "Alles gut, alles stimmig. Zum Saisonausklang gelingt in Mainz das bunte Panorama einer Gesellschaft von gestern, die dennoch der unseren verdächtig nahe ist."



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