Am Kreuzweg im Pub 

von Esther Boldt

Mainz, 24. November 2007. Dies ist ein Abend der Entscheidungen. Vielleicht. Vielleicht geht aber auch alles weiter wie bisher. Nur der immergleiche Jammer nimmt einen anderen Ton an. In Simon Stephens "Christmas" treffen kurz vor Heilig Abend vier geschundene, einsame Männer in Michaels Pub aufeinander. Generationen übergreifend sind sie aus der Zeit gefallen, ihre Gewohnheiten greifen nicht mehr, aber sie sind nicht imstande, sie zu ändern und sich neue zuzulegen.

Seppo ist Anfang 70, ein italienischer Friseur, der der Liebe wegen nach England kam. Nun ist seine Frau gestorben, doch er bleibt in London, denn nach einem Brauch aus seinem Heimatdorf bleiben die Witwen in der gemeinsamen Wohnung, in der Ort und Mensch untrennbar geworden sind. Billy wohnt mit 29 Jahren noch bei seiner Mutter, arbeitet als Gelegenheitsarbeiter am Bau, leidet unter permanenter Nervosität und benutzt gerne Kraftausdrücke, die seine Jungenhaftigkeit ein bisschen aufrohen.

Michael schließlich hat das Pub von seinem Vater übernommen, doch der Laden läuft schon länger nicht mehr, im Schrank stapeln sich unbezahlte Rechnungen. Zu dem eingespielten Dreierteam gesellt sich der Postbote Charlie, der Probleme ungefragt forciert, indem er nachhakt, stichelt, pöbelt. 

Strotzend vor Vorahnungen
Simon Stephens hat das Prekariatsdrama schon 2003 geschrieben, nun wurde es erstmals in deutscher Sprache aufgeführt. Es fügt sich damit in eine Reihe Stephens-Erstaufführungen, die der Regisseur und Intendant Matthias Fontheim in den letzten Jahren gemacht hat – zuletzt  "Motortown" 2006.

"Christmas" spielt an einem Abend, an dem nur scheinbar alles so ist wie immer. Er strotzt vor Vorahnungen, dass sich etwas ändern könnte, unklar, ob eine Veränderung wirklich erwünscht oder doch eher gefürchtet ist. In witzigen, punktgenauen und schnellen Dialogen blättert sich die Misere der Festgefahrenen auf.

Fontheim und seine Bühnenbildnerin Susanne Maier-Staufen haben in den TiC-Werkraum, die kleinste Spielstätte des Staatstheaters Mainz, eher die Andeutung einer Bar hineingebaut. In der rechten Bühnenhälfte bedeckt rotgoldene Tapete die Wand, in der Mitte ragt die Bar empor, doch schon an der Rückwand blättert die Tapete ab, und die linke Hälfte ist nackte Black-Box-Bühne. Als sei der Illusion nicht ganz zu trauen.

Ins bloß Komische gekippt
In diesem pittoresk heruntergekommenen Ambiente juckelt Lorenz Klee als hochnervöser Billy pausenlos auf seinem Barhocker herum, während Michael (Stefan Walz) betont gelassen Biere zapft, stets das gütige, geduldige Lächeln des Gastgebers im Gesicht. Dabei gelingen Fontheim gerade mit diesen beiden Figuren dichte Momente. Schließlich ist Michael der Vater, der seinen Sohn nicht sehen darf, und Billy der Sohn, der ohne Vater aufwuchs. Hier liegen das Komische und das Dramatische ganz dicht beieinander, wie es auch Seppo zu Anfang sagt: "Das Leben ist etwas trauriges und etwas schönes." 

Doch Fontheim kann den Spieltrieb nicht zügeln und dreht die Schraube immer noch ein bisschen weiter: Lorenz Klee schmeißt sich mit gebleckten Lippen und zuckenden Beinen zur echten Rampensau auf und spielt die ganze Gefühlsklaviatur durch. Und wenn der Kneipier am Ende kurz davor ist, das Handtuch zu werfen und den verschuldeten Laden zu verlassen, erklingt "Highway to hell". So kippt das fein austarierte Gleichgewicht zum einseitig Komischen, was den Geschichten der Figuren etwas von ihrem Gewicht, ihrer Mehrschichtigkeit nimmt. Wie schade.

 

Christmas
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Matthias Fontheim, Bühne: Susanne Maier-Staufen.
Mit: Stefan Walz, Lorenz Klee, Michael Schlegelberger, Zlatko Maltar und Tim Breyvogel.

www.staatstheater-mainz.de

 

Kritikenrundschau 

Ein Kneipenstück nennt Jens Frederiksen in der Main-Spitze (26.11.2007) Simon Stephens' "Christmas", das von Matthias Fontheim als "eine liebevoll ausgetüftelte, bis ins Detail glaubhafte Sozialstudie" inszeniert werde. Es werde glänzend gespielt, doch trotz allem erweise sich das Stück letztlich nur als "Instant-Fassung eines seit langem vorliegenden, sehr viel besseren Stücks", nämlich von Eugene O'Neills 1940 geschriebenem "Eismann".

"Ganz ohne jahreszeitübliche Melodramatik, Pathos oder gar kathartische Lebensumbrüche" komme Simon Stephens in seinem Weihnachtsstück aus, meint Matthias Bischoff im Rhein-Main-Teil der FAZ (26.11.2007). Stephens' Weltsicht sei pessimistisch: "Die Menschen sind, wie sie sind, nicht wirklich gut, nicht wirklich schlecht, manchmal glücklich, meist aber unglücklich." In Fontheims "ungemein dichter und konzentrierter" Aufführung gelinge es den Darstellern, ohne "große theatralische Gesten, ohne Distanz schaffenden Bühnenton ... die kleine Studiobühne wahrhaftig in ein Pub zu verwandeln".

In der FR (29.11.2007) schreibt Michael Grus über Fontheims Weihnachtsfest: "Während andernorts die Menschen zusammenrücken, ist an der Theke des TiC noch viel Platz." Alkohol fließe in der Inszenierung zwar reichlich, "aber das sentimentalitätsanfällige Thema wird so nüchtern behandelt wie es der sachliche Titel 'Christmas' nahelegt". Den "verlorenen Seelen im Großstadtdschungel" habe Stephens das Weihnachtsstück gewidmet, das " ohne Zuckerguss auskommt" und "in seiner schlichten Eindringlichkeit die Wahl des Autors zum besten ausländischen Dramatiker des Jahres bestätigt". Regisseur Matthias Fontheim weise den Figuren behutsam Verhaltensauffälligkeiten zu, "kleine Marotten, eine Körpersprache der kleinen, aussichtslosen Fluchtbewegungen." 

 

 

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