Theater über den Rand

von Elisabeth Wellershaus

London, März 2009. Der Hauptsitz von Cardboard Citizens liegt unter den Bahngleisen an der London Bridge, im Süden der Stadt. In fünfminütigen Abständen rattert es über den runden roten Backsteinbau hinweg. Schüler, Professoren und Hausfrauen stört es kaum. Regelmäßig pilgert ein buntes Publikum in das kleine Fringe Theatre – ins Southwark Playhouse. Vor allem die Inszenierungen und Workshops von Adrian Jackson sind dort mittlerweile legendär. Denn der Leiter von Cardboard Citizens ist dafür bekannt, sein Publikum mit ungewöhnlichen Mitteln aus der Reserve zu locken.

Seine Company, die 1991 gegründet wurde und überwiegend mit obdachlosen Schauspielern arbeitet, vermittelt, im wahrsten Sinne des Wortes, zwischen Straße und Theater. Und längst gehört die Truppe in Großbritannien zu den renommiertesten Vertretern einer Theaterszene, die sich durch die Arbeit mit sozialen Randgruppen hervorgetan hat. Einer Szene, die ihre Zuschauer dazu bewegt, gesellschaftliche Brennpunktthemen im direkten Dialog mit den Schauspielern zu reflektieren.

Außergewöhnlich prekär

Jackson arbeitet mit Augusto Boals Methode des Forumtheaters. Er präsentiert dem Publikum Inszenierungen, in denen sich die Protagonisten in außerordentlich prekäre Situationen begeben. Im Anschluss an die Stücke findet ein kurzes Gespräch statt, dann tauschen Schauspieler und Publikum die Rollen. Die Zuschauer entscheiden, an welcher Stelle des Stückes sie eingreifen wollen, spielen die Szenen nach und verändern sie – nach Möglichkeit zum Besseren.

In der Heimat des brasilianischen Theatermachers Boal diente diese zentrale Methode des "Theater der Unterdrückten" auch Revolutionären als gruppendynamisches Kommunikationsmittel. In London erreicht sie zwar keine Putschisten, animiert aber zum Überwinden sozialer Barrieren. Bei Cardboard Citizens begeistert sie Obdachlose, Hausfrauen und Sozialarbeiter gleichermaßen. Gelegentlich verirren sich sogar Hollywoodstars unter die London Bridge. So quetschte sich Kate Winslet im vergangenen Jahr mit ein paar Schauspielstudenten und Obdachlosen in den unterkühlten Theaterraum des Southwark Playhouse, übte sich in Kennenlernspielen und demonstrierte ihr gesellschaftliches Problembewusstsein.

Ein derartiges Interesse von Film- und Theaterstars spricht für die Medienwirksamkeit von Gruppen wie dem Cardboard Theatre. Aber es suggeriert auch, dass die Inszenierungen der Company jenseits vom sozialen Anliegen überzeugen. Adrian Jacksons "Woyzeck" war ein Riesenerfolg, der vor allem dem Regisseur und den Schauspielern geschuldet ist. Seit 2003 ist er durchgängig im Programm.

Das Publikum als Tribunal

Darüber hinaus ist dennoch eines auffällig: Theater mit sozialem Engagement genießt in London längst nicht so einen schlechten Ruf wie beispielsweise in Berlin. Das beweist allein die großzügige staatliche Förderung von Projekten dieser Art. Seit den 1990er Jahren wird das britische Theater durch ein außergewöhnliches Engagement für das Arbeiten mit Randgruppen und für den Versuch der Inklusion auf sämtlichen Ebenen geprägt.

Die frühe Blair-Regierung machte sich zwar durch generelle Einsparungen im Kultursektor unbeliebt, die groß propagierten Träume von Inklusion und Chancengleichheit jedoch übertrugen sich in Teilen auf das Bühnentreiben. An der Schnittestelle aus Theater und Sozialarbeit zumindest flossen in den folgenden Jahren großzügig Subventionsgelder.

Neben der regulären Spielstättenförderung erhielten die Theaterbetriebe im Jahr 2000 25 Millionen Pfund extra. Davon profitierten vor allem Bühnen mit sozialem Anliegen. Ein paar Jahre später ziehen nicht nur Cardboard Citizens einen Nutzen daraus. Vor einigen Jahren bekam selbst das riesige Southbank Center eine neue Leiterin mit ausgewiesenem Interesse an integrativer Arbeit. Vorher hatte Jude Kelly an dem nordenglischen West Yorkshire Playhouse gearbeitet, wo sie als erste Intendantin das Arbeiten mit Laien etablierte und die kulturelle Inklusion sämtlicher Bevölkerungsgruppen förderte.

An ihrer neuen Wirkungsstätte an der Themse ist sie nun vor allem darauf bedacht, den ethnischen Minderheiten der Stadt ein Forum und Arbeitsplätze zu bieten. Auch Theater wie das Trycicle in Nordlondon, das mit seinen Stücken stets die sozialen Brennpunktthemen der Stadt untersucht, prosperieren seit den 1990er Jahren und erzählen Geschichten von Protagonisten, die auf anderen Bühnen keine Plattform fänden. Legendär war "The Colour of Justice", ein Dokumentartheaterstück, das den Mordfall an dem schwarzen Teenager Stephen Lawrence diskutierte und vor einem Publikumstribunal verhandelte. Im vergangenen Jahr ist selbst der British Council auf den fahrenden Zug aufgesprungen und hat eine Konferenz zum Thema "Arts and Social Inclusion" organisiert.

Sozialarbeit oder Kunst?

Natürlich gibt es auch in Deutschland zarte Versuche, die Einbeziehung von Randgruppen, vor allem von Migranten, auf Theaterbühnen mitzudenken. Gruppen wie das Jugendtheater der Berliner Schaubühne, Die Zwiefachen, oder Projekte wie "Homestories – Geschichten aus der Heimat" in Essen machen es vor. Anders als die gewitzten Briten, die selten mit dem didaktisch erhobenen Zeigefinger wedeln, hat das soziale Miteinander auf deutschen Bühnen jedoch oft den Beigeschmack der pädagogischen Langeweile. Sozialarbeiter oder Künstler?

Bei der Beantwortung dieser Frage tut man sich in Berlin etwa noch deutlich schwerer als in London. Vielleicht liegt es daran, dass das Vermitteln kultureller Bildung auf der Insel längst nicht mehr als Zwangsmaßnahme erscheint. Daran, dass man sich über die Jahre an den Standard gewöhnt hat, den die Förderung dieser Mischsparte in England genießt. Oder daran, dass soziales Engagement auf britischen Bühnen nicht sofort mit fehlender kreativer Vision gleichgesetzt wird.

"Stimmt alles", sagt Adrian Jackson, während er die Lichter im Southwark Playhouse ausknipst. "Aber auch in Großbritannien müssen Gruppen mit sozialem Anliegen kontinuierlich daran arbeiten, Bewusstsein zu schaffen, um nicht in die Turnhalle irgendeiner Grundschule verbannt zu werden." Er selbst muss sich darüber keine Gedanken machen. Und selbst wenn. Kate Winslet wäre ihm vermutlich auch in ein schmuddeliges Gemeindezentrum gefolgt.

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