Magazinrundschau Oktober 2014 – Wann gehören das N-Wort und die neoliberalen Selbstausbeutungsorgien endlich der Vergangenheit an?

Das Tourette-Ding der Weißen

Das Tourette-Ding der Weißen

von Wolfgang Behrens

Oktober 2014. In diesem Monat operieren Theater der Zeit und Die deutsche Bühne mit gewichtigen Themensetzungen: Blackfacing auf der einen Seite, Theater und Krieg auf der anderen. Theater heute versenkt sich derweil in die Bühnenstatistik und lässt Großintellektuelle wie Diedrich Diederichsen und Günther Rühle zu Wort kommen.

Theater der Zeit

Die seit einiger Zeit ins kritische Kreuzfeuer geratene Bühnenpraxis des Blackfacings hat es im Oktober auf den Titel von Theater der Zeit geschafft, wobei die Layouter der Zeitschrift dankenswerterweise eine zurückhaltende und doch wirkungsvolle grafische Lösung gewählt haben und uns so die ausgestellte Fratze eines schwarz angepinselten Kopfes ersparen (wie das hätte aussehen können, ist dann auf S. 14 zu bewundern: Ein Foto der schwarz angemalten Jutta Lampe, 1983 in Peter Steins Aufführung der "Neger").

tdz 10-14Im Heft geben die Schauspieler Elisabeth Blonzen und Ernest Allan Hausmann über ihre "afrodeutschen Erfahrungen im Theater" Auskunft. Blonzen etwa sagt: "Minstrel Shows haben ja nicht gezeigt, wie schwarze Universitätsprofessoren oder Anwälte sich verhalten, sondern mit dem Anmalen waren von Beginn an negative Eigenschaften verbunden: Faulheit, Dummheit und so weiter. Das sehe ich bei Kollegen bis heute, man setzt sich damit nicht auseinander. Da wird die Farbe drangeklatscht und dann spielt man Schwarze als Affen." Und sie fragt sich, warum man immer so drastisch begründen müsse (mit "unheimlichen Opfergeschichten"), dass man das N-Wort nicht hören wolle. "Aber das N-Wort ist bei den Weißen so ein Tourette-Ding." Hausmann wiederum zielt ins Allgemeine: "Welche Gesellschaft braucht ein Theater, in dem geblackfacet wird? Ich würde sagen, dass sich diese Gesellschaft mit anderen Menschen, mit anderem Aussehen nicht wirklich auseinandersetzen möchte. (…) Bei längerem Nachdenken komme ich nur zu dem Schluss, dass diese Gesellschaft nicht selbstbewusst ist. Eine selbstbewusste Gesellschaft bräuchte sich nicht anzumalen."

Im den Schwerpunkt einleitenden Essay betrachtet Matthias Dell zwei neuere Fälle des Blackfacings im deutschsprachigen Theater, die (selbstverständlich!) für sich in Anspruch nehmen, die Sache kritisch anzugehen: Johan Simons' Inszenierung von Jean Genets Die Neger und Nicolas Stemanns Uraufführung der Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek. Dells Befund freilich ist durchweg negativ: Stemann gestehe immerhin das Dilemma der Repräsentation ein, wenn er die von realen Flüchtlingen umringten Schauspieler am Schluss sagen lasse: "Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen." Der Weg dahin führe aber über einen "ziemlich dämlichen Umweg. Denn die Frage nach Repräsentation dekliniert Stemann in einer Hierarchie durch, die das Repräsentationsdilemma eben rassistisch denkt." Simons hingegen verlängere "bei der Textverteilung auf der Bühne die Verhältnisse der Kindertage, sprich: der fünfziger Jahre [nämlich den Paternalismus gegenüber Afrika] – die wenigen tragenden, textreichen schwarzen Rollen wurden schon damals von angemalten Weißen gegeben". Wie man das Blackfacing dieser Aufführung "als 'kritisch' erklärt bekommt, ist ein Rätsel; deshalb hat es auch keine Kritik bislang versucht."

Dell endet folgendermaßen: "In den lustigen und erhellenden Nachtkritik.de-Diagrammen Gemein und nutzlos [...] müsste man sich ein Tortendiagramm unter der Überschrift 'Was weiße Theaterkritiker und -macherinnen bei dem Wort 'Blackfacing' denken' wohl ungefähr wie folgt vorstellen: 5 Prozent: Damit sollte man sich mal ausführlicher befassen. 19 Prozent: Das kommt von diesen Minstrel Shows. 76 Prozent: Geh mir aus der Sonne mit diesem Randgruppen-Quatsch! – Insofern wäre es eine Herausforderung, in der nächsten Zeit folgender Feststellung die Berechtigung abzutrainieren – Dinge, mit denen sich das deutsche Theater auseinandersetzen sollte: Blackfacing." Ach übrigens, lieber Matthias Dell, hier ist das Diagramm:

tdz

Theater heute

Unter der schönen Überschrift "Das Steampunkdisneyland an der Ruhr" schreibt Diedrich "King of Pop Theory" Diederichsen in der Oktober-Ausgabe von Theater heute über die letzte RuhrTriennale unter dem Intendanten Heiner Goebbels. Die "große Konstante seiner Ära" seien, so Diederichsen, "Versuche, auf der kleinsten und alternativsten wie der größten und aufwändigsten Ebene Musiktheater für die Gegenwart zu fassen." Mit John Cages Europeras, Harry Partchs "Delusion of the Fury" und Louis Andriessens De Materie habe er jeweils schwer aufführbare Werke in den Mittelpunkt gestellt, die "seinerzeit künftigen Generationen Hausaufgaben aufgegeben haben, deren Bewältigung diese immer noch nicht in Angriff genommen" hätten. Doch das sei nicht alles, und – Achtung! – jetzt kommt ein langer Satz: "Die größere Herausforderung aber, die Goebbels' Programm formuliert, besteht darin, dass er dermaßen konsequent die teilweise auch schon gut eingeführten zeitgenössischen Theaterformen – vom Expertenlaientheater bis zum posthumanistischen Tanz der Gegenstände – in ihrer Bedeutung für mögliches Musiktheater zusammenstellt, dass weniger der Ausnahmecharakter von Festspiel und Festspielstätte relevant ist, sondern die Ansage an das derlei Dinge mehr oder weniger komplett ignorierende Musiktheater der deutschen Opernhäuser, die, wenn es hoch kommt, sehr hoch, einen gelungen Bernd Alois Zimmermann in zehn Jahren stemmen. [Ende langer Satz] Dies müsste heute euer Programm sein, scheint er ihnen zuzurufen. Oder zumindest dem Teil, der nicht ausschließlich ein Museum des 19. Jahrhunderts bespielen möchte."

th 10-14Im "Foyer" des Heftes, also an der Stelle, wo bei anderen Zeitschriften das Editorial steht, unterzieht Chefredakteur Franz Wille die Statistik des Deutschen Bühnenvereins für die Spielzeit 2012/13 einer genauen Lektüre. Er entdeckt darin zwar das "alte neoliberale Spiel: Mehr Inszenierungen mit weniger Schauspielern und Bühnenpersonal für höhere Auslastung." Aber er entdeckt auch einen überraschenden Gegenindikator: "Das prozentuale Einspielergebnis – also der Anteil der Eigeneinnahmen am Budget – ist zum ersten Mal seit über 20 Jahren [!] leicht zurückgegangen: von 18,4 auf 18,1 Prozent. Nach Jahrzehnten der Einsparung, Effizienzsteigerung, künstlerischen Selbstbeschränkung scheint der Höhepunkt der neoliberalen Selbstausbeutungsorgien endlich erreicht, wenn nicht gerade überschritten." Worauf dieser Indikator verweist, vermag Wille nicht genau zu sagen ("Der Effekt ist zu fein"). Vielleicht aber, so fragt er sich, sei "ein Theatersystem, das sich aus seinen künstlerischen Ansprüchen legitimiert, endlich an den ökonomischen Optimierungs-Grenzen angekommen? An jenem Punkt, ab dem sich Personal- und Sachkosten nicht mehr weiter drücken lassen, ohne entweder den Zusammenbruch des Betriebs oder den künstlerischen Ausverkauf zu riskieren?" Für Wille ist das "ja mal eine tolle Nachricht". Ob man sich darüber freuen soll, dass ein solcher potentieller Point of no Return offenbar erreicht werden musste, sei dahingestellt.

Franz Wille hat zudem den Theaterhistoriker und ehemaligen Frankfurter Intendanten Günther Rühle, der in diesem Monat den zweiten Band seiner monumentalen Theatergeschichte "Theater in Deutschland" vorlegt, zum Gespräch gebeten. Allen Theaterkritikern schreibt Rühle dabei Folgendes ins Stammbuch: "Als ich für die FAZ Theaterkritik zu schreiben begann, spürte ich, du kannst hier nicht Kritiken schreiben, ohne deiner Kriterien sicher zu sein, ohne eine sichere Vorstellung von Theater zu haben – was es war und sein kann. So habe ich mich an das 'Theater für die Republik' gemacht, um mich der jüngeren Theatergeschichte zu versichern, Kriterien der Beurteilung zu festigen und eine eigene Sprache zu finden. Kritik ohne eigene Sprachkraft ist läppisch." Wo also, ihr Kritiker des Hier und Jetzt, sind denn eure Bücher?

Die deutsche Bühne

In der aktuellen Deutschen Bühne antwortet Chefredakteur Detlef Brandenburg in einem üppigen 6-Seiter indirekt auf den kürzlich in der Tageszeitung Die Welt erschienenen Krawallartikel von Tilman Krause, in dem dieser "das Versagen einer spezifischen Ost-Ästhetik vor allen differenzierteren Hervorbringungen des klassischen europäischen Musik- und Sprechtheaterrepertoires" anhand von Frank Castorfs Bayreuther "'Ring'-Desaster" konstatieren zu müssen glaubte. Brandenburg, der Castorfs "Ring" nun im zweiten Jahr besichtigt hat, kommt – wie vor Jahresfrist auch der Nachtkritiker – zu ganz anderen Schlüssen: "dieser 'Ring' ist in seiner radikalen Erbärmlichkeit eine starke Arbeit. Stark nicht in allen Teilen; manche Passagen sind provozierend schlampig, billig spottend geraten. Als Ganzes aber ist Castorfs 'Ring' ein schmerzhafter Brennspiegel der wiedervereinten deutschen Gesellschaft." Frank Castorf habe "den 'Ring' zum 'Sieg' des Kapitalismus über den Sozialismus vorgelegt. In ihrer sowohl inhaltlichen wie ästhetischen Zeitgenossenschaft ist dies die wichtigste Bayreuther 'Ring'-Inszenierung seit Chéreau."

ddb 10-14Der Schwerpunkt des Heftes gilt dem Thema "Das Theater und der Krieg". Einleitend denkt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler über das Bild des Krieges in der Kunst nach, dem er eine nicht geringe Rolle in unserer Bewertung des jeweiligen Kriegsgeschehens einräumt. Zum Beispiel: "Es gibt eine Form des Opfers, die man als viktim bezeichnet und bei der das Wort 'Opfer' für Ausgeliefertsein an ein übermächtiges Geschehen, für die Sinnlosigkeit des Todes steht. Dem steht die andere Form des Opfers im Sinne eines sich selbst bewussten Opferns gegenüber, in der das Opfer eine rettende Tat bezeichnet. Auf den Krieg bezogen stehen beide Opferbegriffe einander diametral gegenüber. Welcher von beiden in der Beschreibung des Gewaltgeschehens dominiert, hängt von den Malern und Schriftstellern einer Gesellschaft ab, die es aus ihrer je eigenen Sicht darstellen: als bloßes Zermahlenwerden in der großen Todesmühle des Krieges oder aber als heroische Tat, durch die eine Gruppe von Kameraden gerettet, die Front gehalten oder der Sieg errungen wird."

Im Hauptteil des Schwerpunkts wird u.a. in die Theaterszene von Ländern geschaut, die in jüngster Vergangenheit unmittelbar in Kriegshandlungen verwickelt waren (Ukraine, Israel, Irak), es findet eine "Front"-Besichtigung statt (der Redakteur Detlev Baur unterhält sich mit dem Physiker und Friedensforscher Götz Neuneck über Luk Percevals Front), und diverse Sommerfestivals (Salzburg, Braunschweig, Edinburgh) werden auf ihre Inszenierungen zum Ersten Weltkrieg hin abgeklopft. Hier allerdings vermisst der Kritiker Michael Laages etwas: Was nämlich bislang überall fehle, "jenseits noch so klug sortierter und recherchierter Projekte", sei "das Stück zum Krieg – und da kommen dieser Tage Erinnerungen auf an 'Die letzten Tage der Menschheit' und die Art und Weise, wie Johann Kresnik die monströsen Szenen von Karl Kraus in den gruseligen U-Boot-Bunker Valentin an der Weser in Bremen-Farge wuchtete. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Und kein theatralisches Erinnern im aktuellen Augenblick der 100-Jahr-Feiern reicht an die Intensität des Bunkers heran."

 

Sämtliche Magazinrundschauen seit 1/2014 finden Sie hier.

Die Diskussion um Blackfacing wurde auf nachtkritik.de u.a. mit Beiträgen von Ulf Schmidt, Lara-Sophie Milagro und Nikolaus Merck begleitet.

mehr medienschauen