Magazinrundschau Januar 2015 – Zweimal Heiner Müller, ein Blick nach Amerika und das Ende einer Epoche der Kritik

Die Wirklichkeit unmöglich machen

Die Wirklichkeit unmöglich machen

von Wolfgang Behrens

Januar 2015. Das neue Jahr beginnt in den Theaterzeitschriften mit Heiner Müller, dessen Todestag sich im Dezember zum 20. Mal jährt. Und mit einem Abschied …

Theater der Zeit

cover tdz 1-15Es gilt, einen Moment innezuhalten. Schon im Dezember-Heft hatte, ohne dass es weiter aufgefallen wäre, unsere Lieblingsrubrik "Linzers Eck" gefehlt. Doch im Januar-Heft fehlt sie jetzt auf die allerschmerzlichste Weise: Martin Linzer ist tot, vor einem Monat ist er in Berlin verstorben. Mit ihm geht eine Epoche der Kritik zu Ende – über den unglaublichen Zeitraum von 60 Jahren hat er an der Zeitschrift mitgearbeitet, viele Jahre hat er ihr Gesicht geprägt. Noch einmal sei hier die oft wiederholte Pointe Heiner Müllers zitiert, Linzer sei "einer der seltenen Kritiker in der DDR" gewesen, "der nie mehr als notwendig gelogen hat, um die Wahrheit zu sagen". Und um mit der Cordelia aus dem "Lear" zu sprechen: Linzer hat das Theater geliebt, "wie's seiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder". Und damit wohl mehr, als die meisten seiner Kollegen. Für den nächsten Monat hat Theater der Zeit in umfangreiches Dossier zu Martin Linzers Tod angekündigt.

Der Januar-Schwerpunkt von Theater der Zeit nennt sich "Unterwegs in offener Landschaft". Die Formulierung entstammt einem Essay des Soziologen und Rektors der "Ernst Busch"-Hochschule Wolfgang Engler, den die Redaktion der Zeitschrift in ihrem Editorial vorsorglich (oder fürsorglich?) schon einmal selbst als "grandios" einstuft. Engler vergleicht darin die Weise, auf die Heiner Müller und der Historiker Francis Fukuyama nach 1989 das vermeintliche Ende der Geschichte gelesen hätten. "Hier [bei Fukuyama] die homogene Menschheit, in Demokratie und Wohlstand vereint, von Umbrüchen verschont, dort [bei Müller] der Aufbruch in ein traumloses Dasein, in kollektive Idiotie, die Abwicklung der Essenz des Menschen selbst, seiner Freiheit, etwas Neues, Unerhörtes anzufangen." Müller beklage "die Abwicklung des EREIGNISSES, wie Alain Badiou und andere 'Eventphilosophen' es verstanden – als das Geschehen von etwas, das unvorhersehbar, unplanbar ist, namenlos bei seinem Eintreten in die Welt, ein wahres Gräuel für die Freunde des Klassifizierens, des 'Einordnens'."

Im Gespräch des Schwerpunkts unterhält sich Matthias Dell mit Philipp Ruch und André Leipold vom Zentrum für Politische Schöneheit, deren Aktion Erster Europäischer Mauerfall samt Mauerkreuzklau noch frisch im Gedächtnis ist, sowie mit dem Künstlerduo Wermke/Leinkauf, das im Juli 2014 unerkannt zwei weiße Flaggen auf der Brooklyn Bridge in New York anbrachte. "Voraussetzung für die Wirksamkeit dieser Aktionen ist ihre Ereignishaftigkeit", heißt es im Editorial, womit die Brücke zu Engler und Müller geschlagen wird.

André Leipold reagiert in dem Gespräch auf den (auch auf nachtkritik.de) erhobenen Vorwurf, dass die Leiter des Zentrums bequem im Flieger (und nicht mit den Aktivisten im Bus) an die europäische Außengrenze gereist seien: "Wir machen eine bestimmte Art von Theater, das in der Öffentlichkeit stattfindet. Wir müssen vor Ort sein, um auf die Anfragen dieser Öffentlichkeit zu reagieren. Das ist unser Handwerkszeug. Das habe ich nicht, wenn ich im Bus sitze." Recht mager wirkt dann der Versuch Leipolds, auch den Vorwurf zu entkräften, die Aktivisten in den Bussen seien instrumentalisiert worden: "Wenn sie cool sind, dann fühlen sie sich nicht instrumentalisiert, sondern inspiriert von der neuen Situation." Nun ja … Wenn Ruch und Leipold cool wären, dann wären sie vielleicht etwas weniger trunken von ihrem medialen Erfolg und etwas weniger selbstgefällig in ihrem Glauben, auf der sicheren Seite der "moralischen Schönheit" (Philipp Ruch) zu sitzen.

Theater heute

cover th 1-15Man schlägt das Januar-Heft von Theater heute auf und – wähnt sich in der falschen Zeitschrift: Riesige Fotos von Heiner Müller, den wir ja gerade erneut als Schutzpatron von Theater der Zeit erlebt haben, prangen auf den ersten Seiten, ein ganzer Schwerpunkt ist dem Dramatiker – im Vorgriff auf seinen 20. Todestag im Dezember – gewidmet. Auch drei Bühnenkünstler, die sich zu Müller bekennen, kommen zu Wort: Bibiana Beglau und die beiden Sebastiane (Hartmann und Baumgarten). Vor allem aber hat Hans-Thies Lehmann einen großen und darüberhinaus auch sehr lesenswerten Essay verfasst.

Lehmann konstatiert, dass es Müllers Themen "in der ideologischen Szenerie von heute nicht leicht" hätten, auch wenn die "fühlbare Abwesenheit Müllers von der Bühne" auf "Griechenland, Lateinamerika oder Japan, und auf Frankreich nicht im gleichen Maß" zutreffe. Wie bei Brecht aber sei "seine Wirkung nicht allein an der Zahl der Aufführungen zu messen. Seine eigentümliche Denkweise, konträr zu den gewohnten Assoziationsbahnen, scheint mit ihrem schwarzen Humor passender zur Weltlage als der freudige Triumphalismus der neoliberalen Weltverbesserer, der seit den 1990er Jahren den Vordergrund der Szene beherrscht." Müllers Theater sei "auch deshalb unbeliebt, weil es kaum das Interesse an alltäglicher 'Wirklichkeit' bedient, die auf die Bühne zu holen viele Theaterleute heute am dringendsten interessiert." Heute fehle indes einer, "der angesichts der verbreiteten Anpassung an den Konformismus des Unterhaltungsmarkts so überzeugend wie Müller – der immer wieder darauf hinwies, dass Erfolg nicht gleich Wirkung sei – definieren konnte, die Aufgabe der Kunst bestehe darin, 'die Wirklichkeit unmöglich zu machen'." So könnte man weiter zitieren, aber es verbietet sich an dieser Stelle, den ganzen Aufsatz abzutippen …

Auf dem Titelbild des Heftes ist dann aber doch nicht Heiner Müller zu sehen, sondern ein Schauspielertrio: Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch und Jörg Pohl, alle drei in Diensten des Thalia Theaters Hamburg und von Till Briegleb in einem Porträt als "Alsterboys" apostrophiert. "Ihr Humor wurde in den letzten fünf Jahren am Alsterufer stilprägend. Wobei es eigentlich – wenn es einen Plural dazu geben würde – heißen müsste: ihre Humore." (Besserwisserischer Einwurf: Den Plural gibt es! Der Duden stuft ihn allerdings als selten ein.) Ausgerechnet diese "Protagonisten des Poptheaters" vermissen am Thalia Theater jedoch eine "kräftige und progressive Haltung" und beklagen "opportunistische Spielpläne" (Jörg Pohl), die dem Haus sogar den Spitznamen des "Abitur-Theaters" eingebracht hätten. Aus Brieglebs Absicht, "sich mit der fröhlichen Kernkompetenz eines erfolgreichen Schauspielensembles zu treffen, wird plötzlich das Szenario einer Krise." Mirco Kreibich sagt dann einen Satz, den man getrost auf viele andere Theaterinstitute übertragen könnte: "Es geht hier um ein Produkt, das im besten Fall mit Anspruch unterlegt ist. Mit Ausprobieren und Erforschen hat das nichts mehr zu tun. Hauptsache, die Leute mögen es." Ja, so ist es wohl! Und vielleicht fehlt hier tatsächlich einer wie Heiner Müller!

Die deutsche Bühne

cover ddb 1-15Wenn der Schwerpunkt der Januar-Ausgabe der Deutschen Bühne "Der fremde Freund" betitelt ist, so hat das nichts mit dem gleichnamigen Buch von Christoph Hein zu tun: Nicht in die DDR von damals wird geblickt, sondern in die USA von heute. In einem einleitenden Essay diagnostiziert der US-Korrespondent Dirk Hautkapp eine tiefe Krise der USA: "In den innerlich verfeindeten Staaten von Amerika tobt der Glaubenskrieg über das gesellschaftliche Unten und Oben und die Rolle des Staates in einer Intensität, die zersetzende Wirkung hat." Andreas Falentin findet diese Diagnose im Amerikabild, wie es sich auf deutschsprachigen Bühnen vermittelt, durchaus bestätigt. Insgesamt neun Inszenierungen von US-Stücken oder solche mit US-Themen hat er sich angeschaut: "Sicherheit. Freiheit. Soziale Kälte. Sehnsucht nach schmerzfreier Selbstbestimmung. Die Themen haben wir hier auch schon. Aber auf der anderen Seite des großen Wassers scheint man weiter zu sein auf der schiefen Ebene, scheint die Gefahr noch größer, dass alle die Errungenschaften freiheitlicher Demokratie bald ökonomisch aufgefressen werden. Deshalb brennt es, wenn es auf der Bühne um die USA geht, zur Zeit genauer als bei uns."

Eine immer dringlicher werdende Frage hat Jens Fischer in der Januar-Ausgabe zu beantworten versucht: "Was tun die Theater in Deutschland für die Flüchtlinge in den Städten?" Fischer bilanziert eine Umfrage: "Nur wenige haben gar keine Angebote für Flüchtlinge; einige wollen nichts übers Knie brechen, möchten zunächst die eigenen dramaturgischen Themensetzungen abarbeiten. Die überwiegende Mehrheit aber möchte die Institutionen öffnen, Ressourcen nutzen, Angebote machen. Auch wenn die Nachfrage und das Zuschauerinteresse als eher zurückhaltend beschrieben wird." Und es sei auch allüberall "von der Schwierigkeit zu hören, Flüchtlinge ans Haus zu holen, die zumeist noch nie in einem Theater waren und über ihre teilweise traumatisierenden Erfahrungen nicht sprechen möchten, die Material für Stückentwicklungen oder Klassiker-Aktualisierungen liefern könnten." Fischer berichtet aber auch von konkreten Projekten wie jenem am Schauspiel Hannover, das "theateraffine Schüler und jugendliche Flüchtlinge zu einer wochenlangen 'Besetzung' ihrer Ballhof-Spielstätte" eingeladen hat, "um miteinander zu wohnen, zu reden, zu recherchieren, zu feiern und theatrale Situationen zu kreieren."

Und das Beunruhigendste zum Schluss: Die deutsche Bühne hat eine neue Rubrik. Zwar nicht im Heft, aber online, und diese Rubrik nennt sich Nachtkri…, nein, halt! … Abendkritik. Die Redakteurin Bettina Weber stellt sie im Januar-Heft vor: "Stellen Sie sich vor, Sie kommen berauscht, verwirrt oder verärgert aus dem Theater und können nicht schlafen, bis Sie unsere Kritik kennen! Oder aber Sie schaffen es nicht zum Premierendatum ans andere Ende der Republik: die Spielzeiteröffnung am großen deutschen Schauspielhaus mit neuer Intendanz? (…) Für diese Fälle haben wir unsere ABENDKRITIKEN ins Leben gerufen (…). Wir schreiben unmittelbar nach der Premiere unsere Gedanken auf und stellen sie bis Mitternacht ins Netz (vorausgesetzt natürlich, die Spieldauer macht uns keinen Strich durch die Rechnung)!" Sportlich, sportlich, Kollegen! Dagegen sind die einstmals (und manchmal noch heute) als Schnellschüsse verschrienen Nachtkritiken ja nachgerade ein Schneckenrennen. Der neue "Service" soll jedoch auf Inszenierungen beschränkt bleiben, die "besonders interessant/prominent/einzigartig erscheinen". Wir werden selbstverständlich dagegen halten und demnächst Kritiken von Aufführungen anbieten, die wir noch gar nicht stattgefunden haben …

 

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