Entdecker des Menschlichen

11. April 2014. Peter Kümmel beginnt seinen großen Artikel zum 450. Geburtstag von William Shakespeare mit einem Zitat von Alexandre Dumas: "Nach Gott hat Shakespeare am meisten geschaffen." Dem wäre eigentlich nicht mehr viel hinzuzufügen, Kümmel tut es trotzdem.

Er resümiert noch einmal das karge biographische Wissen um den Mann aus Stratford. Schildert das elisabethanische London, eine "der prächtigsten und finstersten Städte" des 16. Jahrhunderts, mit ihrem riesigen Vergnügungsviertel vor den Toren der Stadt. Gibt Tiefgründiges, wie den Satz des Literaturwissenschaftlers Harold Bloom, "dass Shakespeare jener Mann sei, der den modernen Menschen erst 'erfunden' habe". Und informiert über Quellen des Werks und Arbeitsweisen des Meisters: Shakespeare benützte die Stoffe, die er vorfand, aber "die Stoffe und Figuren erlangten unter seiner Hand eine Qualität, die man nur mit Universalität bezeichnen kann".

Wer war er?

Kümmel gibt die gängigen Zweifel wieder, dass Shakespeare wirklich der Shakespeare gewesen sei, vielleicht war er Christopher Marlowe oder der Earl of Oxford, oder, eine Version, die Kümmel vom Übersetzer Frank Günther entleiht, "ein junger Schauspieler, der die Königin öffentlich verkörpert habe, die selbst von der eigenen Schwester ermordet worden sei ...".
Und betreibt Zuschauersoziologie: Sein Publikum bestand aus den Handwerkern, Bürgern und Edelleuten. "Um sie alle zu fesseln, arbeitete Shakespeare mit wirkungsvollen Mitteln: Überdruck und Überwältigung. Er feuerte ganze Breitseiten an 'Material' aufs zuhörende Volk ab."

Kümmel schreibt weiter über die Rolle von Zensur, leerer Bühne und nachmittäglichem Aufführungsbeginn für Shakespeares Wortkunst, über Shakjespeares Geschichtsverständnis und die doch beträchtliche Dunkelheit und den Nihilismus seines Werkes.

Wundern über Welt im Kopf

Natürlich müssen auch Robert Musil und Friedrich Nietzsche zitiert werden, der in "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" (1872) schrieb: Der Zuschauer gebe bei Shakespeare den ohnehin nutzlosen Versuch auf, zweckhaft zu leben, und gerate in die Lage, sich selbst als stürzende Spielfigur zu sehen. Kümmel wieder als er selbst, abschließend: In Shakespeares Figuren wirke der Furor, der die Moderne prägt: "Sie wundern sich über die Welt und über die Welt im eigenen Kopf."

Mitsamt allen Entgleisungen

Außerdem bietet das Shakespeare-Dossier der Zeit noch eine dreiviertel Seite Schauspieler und René Pollesch über Shakespeare, Shakespeare im Kino, in der Musik, der lyrische Shakespeare und Shakespeare in Brasilien, China, Jordanien und Indien.

Zum Abschluss gibt es noch ein Gespräch mit dem inzwischen recht schrulligen 84jährigen Shakespeare-Forscher Harold Bloom. In der wichtigsten Passage bringt Bloom eine Korrektur an: Man habe ihn missverstanden als er davon sprach, Shakespeare habe das Menschliche erfunden. Er habe nicht erfinden gemeint im Sinne von: Edison erfindet die Glühbirne. Er habe gemeint, Shakespeare habe die "Essenz des Menschlichen" verstanden und enthüllt, "mitsamt allen Entgleisungen, die das Menschliche ausmachen".

(jnm)

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