Lebenszeichen eines Soziopathen

von Friederike Felbeck

Bochum, 21. September 2014. Es ist eine weiße Hölle, vor deren Hintergrund sich Menschen wie Schmeißfliegen abheben. Eine teure Designerlampe, die andernorts als "nackte Glühbirne" durchgeht, ist neben einer Zimmerpflanze, der man fast wünschen möchte, sie möge künstlich sein, das einzig Verwegene im Raum. Ein Diener in lindgrüner Livree wie aus einem Molière-Stück hält ein silbernes Tablett mit Zahnputzglas. Der Unternehmer Quitt sinniert, in Seide und Kirchenpurpur gehüllt, während er sich mit einer elektrischen Zahnbürste die Beißer poliert, über sein "Gemütsleben" und das, was uns am Ende alle gleich macht: die Scheißerei, den Haarwuchs, den Tod. Seine Zentrale der Macht mit Ledersofa und Plastikstühlen, in die er vier befreundete Unternehmer zu illegalen Absprachen einlädt, gibt es gleich dreifach: drei identische Räume kreisen auf der Drehbühne um die eigene Achse und die Figuren klappern auf ihrem Weg von Raum zu Raum mit den Türen wie im schönsten Boulevardtheater.

die-unvernueftigen-ii 560 thomas-aurin uManager-Tristesse unter Designer-Glühbirnen © Thomas AurinVon Urs Widmers "Top Dogs" bis zu Andres Veiels Das Himbeerreich haben wir den diskreten und geheimnisumwitterten Bankern und Topmanagern, die uns aus Glaspalästen und Wolkenkratzern heimlich regieren, aufs Maul geschaut – nun überrascht der junge Regisseur Alexander Riemenschneider am Schauspielhaus Bochum mit der Wiederentdeckung eines Stückes von Peter Handke aus dem Jahr 1973, der kraft seiner Fantasie in die Sphäre von Kartellen und Marktregulierung führt. Nach seiner beim NRW-Theatertreffen 2011 preisgekrönten Inszenierung von "Kaspar" am Schauspiel Bonn ist es für Riemenschneider bereits die zweite Auseinandersetzung mit den unberechenbaren Kräften des österreichischen Sprachvirtuosen und Ibsen-Preisträgers Peter Handke.

Erschreckendes Bild einer Konsum-Ideologin

Matthias Redlhammer portraitiert den Unternehmer Quitt als einen genialischen Egomanen, der zwischen kapitalistischer Gier und pseudo-künstlerischer Sensibilität hin und her schwankt und nur da Mensch wird und sich noch fühlt, wo er zerstört. Quitt führt seine Geschäfte, wie man eine Hand auf eine glühende Herdplatte legt, um sich noch zu spüren: Er überzeugt vier Geschäftsfreunde zunächst von der Notwendigkeit eines sozialen, eines "neuen" Unternehmertums, das den Markt begrenzen und vereinfachen soll. So lockt er sie zu Preisabsprachen, nur um diese dann zu brechen und sie alle in den Ruin zu schicken. Riemenschneider setzt die Herren Nüsse knackend und heiter parlierend aufs Ledersofa. Die Inszenierung folgt ihren abgründigen Dialogen, als wär's ein Drehbuch von Woody Allen.

Paula Tax ist die einzige Frau in dieser Runde von unkörperlichen Zombies, die die ihr zugedachte Rolle der Verführerin perfekt verinnerlicht hat und ihre Vorliebe für Kondensmilch preisgibt, als wäre es eine perverse sexuelle Praktik. Die Schauspielerin Kristina Peters haucht dem Abend früh Leben ein, wenn sie als Paula das erschreckende Bild einer überzeugten Konsum-Ideologin zeichnet und eine Hommage an die Werbung als "einzig materialistische Poesie" hält. Ihre Verführung Quitts gerät zu einer ungelenken Umarmung mit rudernden Armen und einem klebrigen Kuss wie auf einer Plakatwand – "Ich liebe dich" klingt dabei wie ein Eisbrecher, der sich ächzend durchs Packeis quält.

die-unvernueftigen-i 560 thomas-aurin uEisbrecher-Liebe: Kristina Peters und Matthias Redlhammer, im Hintergrund
Daniel Stock © Thomas Aurin

Die Unternehmerfreunde, die Quitts Experimenten zum Opfer fallen, erschrecken durch innere Leere, da sie der Kapitalismus bereits beschädigt und verformt hat. Die kleptomanische Ehefrau, die sich für jeden Auftritt umzieht und sich auch mal wie zur Ohnmacht auf den Boden fallen lässt, wird zum Lackmustest für die kaltschnäuzige Brutalität Quitts. Einem berufsmäßigen Kleinaktionär, der von Hauptversammlung zu Hauptversammlung reist, um diese zu torpedieren, und der von Quitt zynisch zum Zeugen der korrupten Absprachen gemacht wird, fehlt es jedoch an politischer Verve und Glaubhaftigkeit in einem Ambiente, das die Inszenierung im Entstehungsjahr des Stückes 1973 ansiedelt. Als er mit einem Küchenmesser in der Hand zum Attentäter Quitts avancieren will, lässt er sich von dem in Grund und Boden reden und schließlich in einer langen Umarmung zu Tode drücken.

Vor- und Frühgeschichte heutiger Machtstrukturen

Handkes Text ist ein subtiles und hyperrealistisches Psychogramm der Reichen und Mächtigen, die der Wirklichkeit so weit entrückt sind, dass sie brandgefährlich werden. Die vermeintliche Konventionalität von Handkes Text ist dabei bloße Strategie, die er selbst mit der Scharfzüngigkeit eines Carl Sternheim verglichen hat. Seine Figuren sind eine Art Vor- und Frühgeschichte der heutigen Machtstrukturen. Bei Riemenschneider allerdings verpuffen die Dialoge, indem er sie zur Schau stellt und ins Publikum herunterfallen lässt, und so ist seine Inszenierung ein zahnloses Monster, das, anstatt mit voller Kraft voraus zu fahren, den poetischen Schlaglöchern Handkes ausweicht und sich mit einem züchtig-zahmen Sitz-und-Steh-Sprechtheater zufrieden gibt.

 

Die Unvernünftigen sterben aus
von Peter Handke
Regie: Alexander Riemenschneider, Bühne: David Hohmann, Kostüm: Lili Wanner, Musik: Tobias Vethake, Licht: Andreas Bartsch, Dramaturgie: Sabine Reich.
Mit: Matthias Redlhammer, Roland Riebeling, Daniel Stock, Bernd Rademacher, Marco Massafra, Nils Kreutinger, Kristina Peters, Judith van der Werff.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

Alexander Riemenschneider habe ein paar zaghafte Schritte in Richtung surreale Farce unternommen, so Ulrike Gondorf in der Sendung "Fazit" von Deutschlandradio Kultur (21.9.2014). Aber bald breite sich bei diesem kurzen Abend Langeweile aus. Man höre viele kluge und schlagende Sätze über Werbung, Manipulation, Degradierung von Menschen zu Manövriermasse und zynische Strategien. "Aber irgendwann prasselt nur noch Text auf einen ein, man bewundert den Hauptdarsteller Matthias Redlhammer für seine enorme Gedächtnisleistung und stellt fest, dass die Geschichte einen eigentlich gar nichts angeht".

Die Inszenierung ironisiere zwar "die vorgebliche Konventionalität des Stoffes ein wenig", schreibt Tom Thelen auf dem Online-Portal Der Westen (22.9.2014), bleibt aber aus seiner Sicht doch brav. "Sie poliert aber immerhin mithilfe solider Ensembleleistung die sprachlich-philosophischen Bravour-Dialoge kräftig."

Dem Regisseur Alexander Riemenschneider gelingt es aus Sicht von Stefan Keim auf Welt-online (23.9.2014), "mit subtiler Personenführung eine tolle Mischung aus Boulevard, Horrorfilm und Lehrstück zu entwickeln. Hier könne das ausgezeichnete Bochumer Ensemble seine Qualität zeigen. Einmal sieht er sogar ein Albtraumbild von David-Lynch-Qualität.

"All die bizarren kleinen Wirklichkeitsbrüche des Stücks sind auf den Punkt gespielt, Riemenschneider arbeitet vor allem dessen Sprach-Wucht und -Witz heraus", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2014). Insgesamt aber bleibe die Inszenierung respektvoll am Text "und damit meist auch in den Siebzigern". Spannender seien die Ausreißer, in denen ein eigenwilliger, heutiger Zugriff sichtbar werde: "Einmal sitzt Quitt starr da, ignoriert die hysterischen Anrufe seiner Kartellkollegen. Plötzlich verschiebt sich die Realität, eine lebensgroße Projektion des Raumes inklusive Quitt löst sich vom Original und beginnt zu rotieren – nicht das Leben zieht an ihm vorbei, sondern der Stillstand."

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