Es gibt keine Morde im heiligen Krieg

von Jens Fischer

Hamburg, 26. September 2014. Wie kommt man aus der Nummer wieder raus? Gebatikte Kleidchen für die Damen, Rauschebärte, Wuschelperücke, Sonnenbrillen, fransende Lederjacken für die Herren. Randvoll mit Flower Power betankt, blickt das Ensemble glücksrosa durchs wüstengelbe Ambiente: Death-Valley-Zierrat schmückt die Rockkonzertbühne. Zur Feier eines populären Mythos. Neue Werte, Lebensformen, kulturelle Ausdrucksformen braucht das Land. Vom Aufbruch ins Unbekannte wird erzählt, von einem Dasein in friedvoller Freiheit einer Gruppenehe, gesättigt mit drogenberauschter Liebe und ernährt aus den Mülleimern der Überflussgesellschaft. Volle Hippiedröhnung im Thalia Theater.

Orgie, Sex auf LSD

Die in Wort und Kostüm klischeesatt hergerichteten Kommunarden erscheinen wie eine Kelly Family der 1960er Jahre. Sie wollen Musik nicht nur hören, sondern leben. Und machen welche, um das zu vermitteln. Die Schauspieler und die Hamburg Band "Trümmer" singen, tanzen, arrangieren einige Singer-Songwriter-Werke als rhythmisch verschleppte Folkrocknummern oder wallende Rockelegien und veredeln sie mit famosem Harmoniegesang. Selten gibt es so gute Livemusik im Retro-Design auf deutschen Bühnen. Verschmitzt verführerisch statt derb ironisch geht Stefan Pucher also sein neues Theaterposting für die deutsche Musicalhauptstadt an. Kitzelt mit Stichworten wie "Orgie" und "Sex auf LSD" die Fantasie. Und idyllisiert die Gründung einer Sekte. Die das Ende des überreifen "summer of love" (1967) und den Beginn des "summer of hate" (1969) markiert, der dem Musical seinen Titel gibt.

charles manson9 560 armin smailovic hRrrrrrock me Charles Manson: mit Alicia Aumüller, Sebastian Rudolph und Franziska
Hartmann.  © Armin Smailovic

In der Wüste chillende Mädchen lässt Pucher behaupten, sie suchten Gott – aber eigentlich suchen sie einen dionysischen Vater. Und verwechseln ihn mit einem charismatischen Guru, der die Frauen vor allem zur Befriedigung seiner Lüste und zum Bekochen braucht: Charles Manson! Ein vaterloses Kind, dilettierender Kleinkrimineller, Möchtegern-Barde, Prediger einer Endzeit-Religion, Apologet des apokalyptischen Rassenkrieges – der sich im Erlöserwahn als Jesus, Gott und Satan bezeichnet und seine Gespielinnen inspirierte, bestialisch zu morden. Reuelos sitzt der heute 79-Jährige seither im Gefängnis, prangt aber auch auf T-Shirts und wird von seinen Jüngern immer noch als Märtyrer verehrt, da er dem Hass der Bedrückten mit blutrünstiger Energie wider alle Spießer und Heuchler einen Ausdruck verliehen habe.

Racheshow

Warum diesem Mann das Forum einer großen Theaterproduktion bieten? Weil er zur großen Racheshow taugen könnte. So wie Pucher sie schon mit der "Elektra" des Sophokles am Deutschen Theaters Berlin zelebrierte – und Poplyrics von Manson dazureichte. Nun soll dieser aus seinen (und ihm zugeneigten) Kompositionen erklärt werden. Ein szenisches Konzert, bei dem die Schnipsel Dramatik en passant die Geschichte der Manson Family andeuten, die eigentlich die Bigband ihrer autoritären Führergestalt war. TV-Interviews werden nachgestellt, Fakten berichtet, Behördenpapiere zitiert und Kommunealltag angespielt – oder hinter einer Leinwand gefeiert, abgefilmt und als Live-Stream auf die Leinwand projiziert. Schnickschnack. Mehr als eine einfache Suchmaschinen-Recherche im Internet zu Tage brächte, ist auf der Bühne nicht zu erfahren.

Das Symbol der Ablehnung durch das Establishment

Fokussiert wird nur der Bruch, bei dem die Kinder der Hippie-Kita den Firnis jedweden Anstandes abstreifen und die Barbarei zurück in die Zivilisation bringen. Warum? Pucher erklärt das so: Manson wollte Popstar werden, erhielt aber nie einen Plattenvertrag und wurde dann auch noch bei einer Beach-Boys-Party rausgeschmissen. Das sei "Symbol der Ablehnung durch das Establishment", wird auf der Bühne interpretiert. Daraus folgt der Rachefeldzug. Charlys Mädchen werden zu Todesengeln. Aber warum sie plötzlich Waffen so innig lieben wie zuvor Papa Manson, bleibt rätselhaft. Warum sie mit dessen kraus zusammenzitierter Befreiungsmytholgie losziehen und töten, ist völlig unklar.

Wenn die drei Manson-Darsteller dann erzählen, er sei in jedem von uns präsent, zudem benötigten wir ihn als das eingesperrte Böse, um uns als die Guten zu fühlen, geschieht das genauso unhinterfragt wie die (leider sehr aktuelle) Schuldverneinung, "es gibt keine Morde im heiligen Krieg". Geradezu glamourös funkelt die Aufführung durch Abwesenheit einer Haltung zu all den Themen. Und sollte exakt das diabolische Verführungskunst sein, dann funktioniert sie nicht. Jeder Radioeinsatz von "Sympathy for the devil" ist mehr Spiel mit dem Feuer als dieses recht unreflektierte Spiel mit dem Hass.


Charles Manson: Summer of Hate – Das Musical
Ein musikalischer Trip zwischen L.A. und dem Death Valley

von Stefan Pucher, Christopher Uhe und Susanne Meister
Regie: Stefan Pucher, Musikalische Leitung: Christopher Uhe, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Tabea Braun, Video: Phillip Hohenwarter, Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Alicia Aumüller, Franziska Hartmann, Tabita Johannes, Jörg Pohl, Sebastian Rudolph, Maja Schöne, Miriam Strübel, Tilo Werner.
Live-Band "Trümmer": Paul Pötsch: Gesang & Gitarre, Tammo Kasper: Gesang & Bass, Maximilian Fenski: Schlagzeug, Helge Hasselberg: Keyboards.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Apropos Trümmer. Noch mehr Indie-Rock auf deutschen Bühnen gibt's mit Kante in Berlin, die regelmäßig bei Friederike Heller mitspielen (z.B. Antigone, z.B. Der gute Mensch von Sezuan, z.B. The Black Rider) oder mit Polarkreis 18 alias Woods of Birnam live in Dresden (Hamlet) oder mit Notwist, die für Jette Steckels Das Spiel ist aus am DT Berlin zwar frisch komponinierten, aber nicht live musizierten.


Kritikenrundschau

Leider sei dies kein Lieder-Abend zum "Summer of Love", sondern als ernsthafte Auseinandersetzung mit Charles Manson angekündigt, so Alexander Kohlmann in der Sendung "Fazit" von Deutschlandradio Kultur (26.9.2014) Eine Auseinandersetzung, die aus seiner Sicht komplett misslingt, "weil dem Team um Regisseur Stefan Pucher am Ende nicht viel mehr eingefallen ist, als die wirre Ideologie des erfolglosen Musikers Mansons nachzubeten - um nicht zu sagen, dem Mörder noch im Gefängnis komplett auf dem Leim zu gehen."

Pucher habe Mansons "markante und bekannte Mordstationen als Musical mehr oder minder flott arrangiert", schreibt Werner Theurich auf Spiegel Online (27.9.2014). "Was an dem Phänomen Manson eventuell über sich selbst hinausweist, lässt Pucher wohl bewusst offen. Er vermeidet wohlfeile Aktualisierungen und tappt damit in die Doku-Falle: Man wähnt sich ständig in einem Themenabend beim TV-Sender Arte. Interessant, aber nicht bühnentauglich."

Das "Dilemma" dieser Inszenierung ist für asti (Annette Stiekele) im Hamburger Abendblatt (29.9.2014), dass ihr "über das Dokumentarische hinaus jede Positionierung fehlt". Nur wenige Momente lieferten "Fingerzeige auf Hintergründiges", so die Kritikerin. "Am Ende kleistert die so harmonisch über einen hinwegtröpfelnde entschleunigte Folk-Musik ohnehin jeden Gedanken schmerzlos zu."

"Hier will das Böse eigentlich nur spielen, und zwar Klampfe. Und sich dauernd umziehen", ätzt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (30.9.2014). Alles, was die Manson-Geschichte besonders und unglaublich mache, die Sex- wie die Psycho- und Gewalt-Orgien, werde nur brav nachrichtlich von der Rampe ins Publikum erzählt oder lieber gar nicht erst thematisiert. Tatsächlich sei dieses Manson-Musical einfach ein sehr langes Konzert mit Modeshow. "Reine Deko ohne Gehalt. Und ohne Gewalt. Und leider auch ohne Gestalt." Für diese "laue Geschichts-Seifenoper" müsse deswegen "leider die Spielplan-Höchststrafe gefordert werden: Fundus lebenslänglich."

Videofilme suggerierten Authentizität, "in denen sich die drei Mansons mit Rauschebärten und die Schauspielerinnen Alicia Aumüller, Franziska Hartmann, Tabita Johannes, Maja Schöne und Miriam Strübel der Family anzunähern versuchen", schreibt Monika Nellissen in der Welt (30.9.2014). Die Texte seien in ihrer Banalität kaum zu überbieten. Der Abend versickere "ohne die Dämonie, auch die Banalität des Bösen glaubhaft zu machen". "Wozu das Ganze?" will die Kritikerin wissen."Wozu der szenische Aufwand für ein Stationendrama, aufgepeppt als Popkonzert, dessen 'magical mystery' so wenig Geheimnis birgt wie das Kochrezept von Haferschleim?"

"Mansons Songs, die gekonnt um die Szenen herum arrangiert sind und von den Darstellern überzeugend, aber ohne Überraschungen performt werden, nehmen den größten Raum ein", schreibt Carla Baum in der taz (1.10.2014). Das Phänomen der Orientierungslosigkeit als Schattenseite der gewonnenen Freiheiten finde keine Beachtung. "Die Charaktere wirken seltsam flach, und Mansons gruselige, psychopathische Monologe verlaufen im Nichts." Das sei nicht der Darbietung der Schauspieler, sondern der fehlenden Kontextualisierung geschuldet. "Das Stück erhält so eher den Charakter einer gelungenen Nacherzählung als einer künstlerischen Erörterung des Manson-Umfeldes."

"Die mächtige sexuelle Wirkung Mansons auf seine Anhängerinnen scheint Pucher viel mehr zu fesseln als alles andere, was der Mann noch so anstiftete", so Peter Kümmel in der Zeit (9.10.2014). Die Morde werden mit hart geschlagenen Gitarrenriffs rasch erzählt. Das bleibe der dämonische Teil des Abends, "der Rest dient der Geselligkeit". Fazit: "So ist 'Summer of Hate' ein eigentümlich harmonieseliger Abend, der auf unterschwellige Weise das Böse anstaunt – und zwar nicht ohne Sehnsucht. Mörder? Das sind Menschen im Zenit ihrer Macht, in der Glut des Nichtanderskönnens."

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