Wenn die Parasiten nagen

von Sascha Westphal

Oberhausen, 24. Oktober 2014. Wäre da nicht dieses Skelett von einem Haus, das sich U-förmig um die gesamte Bühne zieht und verschiedene Zimmer andeutet, könnte man zunächst fast glauben, man wäre in einer Leseprobe gelandet. Zumindest steht im Zentrum des von Andriy Zholdak zusammen mit Tita Dimova entworfenen Bühnenbilds ein langer, mit Wasserflaschen, Mikrophonen und kleinen Videokameras bedeckter Tisch, an dem nach und nach die Schauspieler Platz nehmen. Die Stimmung ist in diesen ersten Momenten gelöst. Man wechselt leise ein paar Worte, scherzt ein wenig. Eben alles ganz so wie bei einer Probe. Währenddessen erscheinen oberhalb der Bühne auf einer schmalen, die gesamte Breite einnehmenden Leinwand die ersten Videobilder. Schauspielerporträt reiht sich an Schauspielerporträt.

Menschliche Nager

Schließlich beginnt Moritz Peschke zu lesen, ganz ruhig und sachlich. Seine Stimme fließt dahin wie die Sätze aus Franz Kafkas 1912 entstandener Erzählung. Das Außergewöhnliche erscheint selbstverständlich. Niemand in "Die Verwandlung" hinterfragt die seltsame Metamorphose, die der Vertreter und vorbildliche Sohn Gregor Samsa eines Nachts durchgemacht hat. Und so ist es in Andriy Zholdaks Bühnenadaption auch nicht der von Peschke gespielte Gregor, der sich verwandelt. Er bleibt bis zum Ende der junge, die Welt mit staunenden Augen betrachtende Mann, der sich über Jahre hinweg in einem ungeliebten Job für seine Familie aufgeopfert hat.

Dafür trägt Gregors Familie, die von Michael Witte und Anna Polke gespielten Eltern sowie seine jüngere Schwester Grete (Anja Schweitzer), unzweifelhaft tierische Züge. In Vladimir Nabokovs Analyse der Erzählung heißt es über die drei: "Seine Angehörigen sind seine Parasiten; sie beuten ihn aus und fressen ihn von innen nach außen auf." Und genau diesem Gedanken scheint Andriy Zholdak zu folgen. Mittels spitzer Plastiknasen und falscher Zähne verwandeln sich Michael Witte, Anna Polke und Anja Schweitzer in menschliche Nager. Monstren, die nur an sich, an ihren Vorteil und ihr Auskommen denken. So ist Michael Wittes Vater nahezu ständig am Trinken oder Essen. Und als die Mutter und Grete ihren Schmuck verkaufen, ist natürlich er es, der sich das Geld einsteckt.

die verwandlung 560a klausfroehlich hWer hat sich hier verwandelt?   © Klaus Fröhlich

Krankhafte Egoisten, sanfter Außenseiter

Was wie eine entspannte Lesung beginnt, verwandelt sich mehr und mehr in ein zutiefst bedrückendes Spiel. Dabei bleibt Andriy Zholdak in manchen Momenten ganz nah an Kafkas Erzählung, um sie dann wieder mit seinen Ideen und Assoziationen aufzubrechen. So ist die Inszenierung ständig im Umbruch und erlebt selbst eine Metamorphose nach der anderen. Der Auftritt des von Henry Meyer mit einem riesigen falschen Bauch gespielten Prokuristen ist genauso wie die spätere Szene mit den Zimmerherren (Henry Meyer und Klaus Zwick) ein wahrer Höhepunkt grotesker Komik. In diesen Augenblicken beschwört Zholdak mit leichter Hand die Slapstick-Komödien der Stummfilmzeit herauf. Doch auf das Lachen folgt sofort wieder das Entsetzen.

Mit ihrer extrem gekrümmten Haltung und dem aufreizend langsamen Gang haben Michael Witte und Anna Polke zwar immer etwas Unterwürfiges an sich. Allerdings sollte niemand diese Parasiten unterschätzen. Sie sind eben nicht nur krankhaft egoistisch, sondern immer auch zu jeder Form von Gewalt bereit. In einer zugleich anrührenden und erschreckenden Rückblende in die Zeit, bevor Gregor als Käfer aufwachte, überreicht der Vater seinem Sohn ein Geschenk. Als der die Schachtel freudig öffnet, findet er darin eine dieser Plastiknasen, die ihn endgültig zu einem Teil der Welt seiner Eltern machen würde. Doch genau das will Gregor auf keinen Fall. Nur kennt der Vater keine Gnade. Er schlägt mit dem Gürtel auf seinen Sohn ein und zwingt ihn, sich die Nase anzukleben. Aber auch so bleibt der sanfte Moritz Peschke ein Außenseiter und ein Opfer.

Untergang einer Kultur

Zholdak versteht es geradezu meisterlich, Stimmungen zu evozieren. Dafür reichen ihm meist schon ein paar Blicke und Gesten. So liegt in den kurzen Begegnungen zwischen Gregor und dem von Nola Friedrich gespielten Dienstmädchen, das ihn durchaus liebevoll "Mistkäfer" nennt, eine wundervolle Zärtlichkeit. Da ist ein unsichtbares Band zwischen diesen beiden Ausgebeuteten, das einen Rest von Menschlichkeit in einer unmenschlich gewordenen Welt markiert.

All diese kleinen Szenen und Beobachtungen, die Komik und der Schrecken, das Zerbrechliche und das Widerwärtige, fügen sich zu einem so präzisen wie verstörenden Porträt des frühen 20. Jahrhunderts zusammen. Am Ende bricht dann endgültig die noch weitaus düstere Wirklichkeit in Kafkas dunkle Phantasie ein. Nach Gregors Tod findet Grete ihre Liebe in Gestalt eines jungen Mannes in einem langen schwarzen Ledermantel mit Hakenkreuzbinde am linken Arm. Die beiden stehen direkt an der Rampe, und der von Pascal Nöldner gespielte SS-Mann singt die romantische Arie Ombra mai fu aus Händels "Xerxes". Der Grabgesang einer ganzen Kultur, deren Untergang Kafka vorhergesehen hat.

 

Die Verwandlung
nach Franz Kafka, Bühnenfassung von Andriy Zholdak
Regie: Andriy Zholdak, Bühne: Andriy Zholdak, Tita Dimova, Kostüme: Tita Dimova, Musik und Sounddesign: Sergey Patramanskiy, Lichtkonzept: Andriy Zholdak, Lichtdesign: Stefan Meik, Video: Florian Vigehls, Dramaturgie: Tilman Raabke.
Mit: Moritz Peschke, Anja Schweitzer, Anna Polke, Michael Witte, Henry Meyer, Klaus Zwick, Nola Friedrich, Bastian Kabuth, Pascal Nöldner.
Dauer: 2 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de

 

Mehr zu Kafkas Verwandlung: In Zürich (2010) verwandelte Regisseurin Nina Mattenklotz auch die Familie Samsa, und nicht Gregor.

 

Kritikenrundschau

Was vielversprechend beginne, werde "in der Folge zu einer Art Stummfilm, der in Echtzeit nachvertont wird", meint Wolfgang Platzeck auf dem Online-Portal Der Westen (27.10.2104). "Die Darsteller, durch die unförmigen Beißer fast völlig zur Artikulationsunfähigkeit verdammt, grunzen, schnattern und schmatzen Unverständliches". Beklemmung beim Zuschauer komme nicht auf, "anfängliche Nachdenklichkeit weicht bald wachsendem Desinteresse am Bühnengeschehen. Zumal Zholdak seine Slapstick-Ideen auf unerträgliche Weise zelebriert, jede an sich hübsche Zehn-Sekunden-Szene auf langatmiges Minutenformat zerdehnt. Ursprünglich, war zu hören, dauerte diese Kafka-Fassung noch zwei Stunden länger. Eine grauenhafte Vorstellung."

Andriy Zholdak interessiere sich in seiner Adaption der "Verwandlung" dafür, wie Gregor Samsa eigentlich "die für ihn veränderte Umgebung" wahrnehme, schreibt Klaus Stübler in den Ruhrnachrichten (27.10.2014). Gregor-Darsteller Moritz Peschke agiere "trotz permanenter Video-Observation ruhig und souverän", auch sei er "ein brillanter Rezitator des Kafka-Texts." Doch daneben gebe es "leider schrecklich viel Leerlauf, sodass der Abend letztlich wie das Gregor-Tier qualvolle zweieinhalb pausenlose Stunden dahinsiecht." Stüblers Fazit: Der Abend sei "eher ein Flop. Da nehme man lieber das Buch zur Hand oder schaue sich die bühnenwirksamere Fassung im Theater an der Ruhr in Mülheim an."

"Nichts gegen das rührige Theater Oberhausen – der famose Herbert Fritsch wurde just hier zum Regisseur befördert –, aber müsste der Ukrainer Andriy Zholdak nicht an größeren Häusern beschäftigt sein?", fragt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (12.11.2014). Bei allem grotesken Humor, den Zholdaks "großartige Inszenierung" an den Tag lege, ist die Schlussfolgerung unerbittlich. "So ist es mehr als eine gallige Pointe, wenn der Regisseur einen Countertenor in SA-Uniform auftreten lässt, der eine Händel-Arie singt. Der Abend ist voller Arabesken, Feinheiten, Slapstick-Einfälle, und an seinen Rändern lässt er genügend Leerstellen, Raum für Deutungen." Sein Fazit: "Grausig schön."

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