Dead Bank Walking

von Stefan Keim

Bochum, 25. Oktober 2014. Der lange, schlaksige Mann im dunklen Anzug erinnert an Nosferatu. Doch Mercadet ist kein Phantom der Nacht, sondern des Finanzmarktes. Ein Dämon der Derivate mit bösem Blick und bleichen Gesicht, bis über die großen Ohren verschuldet. Doch das macht nichts, denn Geld ist bloß Spielmasse und "Steuerzahler" ein Schimpfwort. Ein bisschen Humankapital hat Mercadet noch, Julie, sein Tochter-Unternehmen, das er mit einem anderen Geldhai fusionieren, vulgo verheiraten will.

Das ist die Handlung der Salonkomödie "Mercadet le faiseur" von Honoré de Balzac, die auf deutsch "Der Macher", "Der Spekulant" oder "Mercadet" heißt. Schon 1840 beschrieb der selbst bis kurz vor seinem Tod dauerverschuldete Balzac die Hochstapelei und Zockerei, wie sie auch heute die Wirtschaftswelt von einem Abgrund zum nächsten taumeln lässt. Die Bochumer Inszenierung von Hermann Schmidt-Rahmer borgt sich von Balzac nur die Figuren und den groben dramaturgischen Rahmen. "Gespenster des Kapitals" ist ein eigenständiges Stück, eine Mischung aus Horrorshow, Satire und Dokumentartheater.
gespenster des kapitals2 560 dianakuester uIm Gothic-Look: Veronika Nickl (als Madame Mercadet) und Damir Avdic (als Minard)
© Diana Küster

Die politische Zuspitzung liegt Schmidt-Rahmer. Am Schauspiel Essen erzählte er Lars von Triers Kolonialdrama "Manderlay" als Geschichte heutiger außenpolitischer Hybris und erkor Ursula von der Leyen zur Antiheldin des Stücks. Und ebenfalls in Essen schuf er mit einem tollen Ensemble aus Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart einen anarchisch-witzigen Abend über Terrorismus und die spießige Seite der Wutbürger. Immer schafft er es, die Schauspieler bis zum Anschlag aufzudrehen, sie in eine Spielenergie zu treiben, die knapp vor dem Wahnsinn liegt. In "Gespenster des Kapitals" gelingt das wieder und ist auch nötig, denn das Ensemble gibt einen Crashkurs über die Absurditäten des Finanzmarktes, erklärt Swaps und Hedgefonds, Bail-Out und das Bretton-Woods-Abkommen. Wenn der erhobene Zeigefinger nicht heftig karikiert würde, müsste man aufstöhnen. Auch so ist es ein fordernder, anstrengender Abend geworden. Aber ebenfalls ein lohnender.

Supermarktman wird nervös

Viel szenischen Scherz schlägt die Inszenierung aus der Verkörperlichung der Vorgänge auf dem Finanzmarkt. Da steigert sich die überbissig lispelnde Xenia Snagowski als Tochter Julie in sinnliche Ekstase, wenn es um die Vermehrung des Geldes geht. Und möchte doch lieber ihren angeschmuddelten Verlobten (Damir Avdic mit dem Charme eines Soziologiestudenten aus den Siebzigern) heiraten als den scheinbar unermesslich reichen Favoriten ihres Vaters. Raiko Küster hat einen großen Auftritt als nervöser Markt in hautengem Superheldenkostüm, der Panikattacken bekommt, wenn er das Wort "Regulierung" hört.

Einmal rennen die Schauspieler von einer Videokamera begleitet auf die Straße und stellen die Frage, warum man Schulden überhaupt zurück zahlen müsse. Diese Aktion wirkt wenig zwingend, zumal die Texte in der Premiere kaum verständlich waren. Besser gelingt dann eine halbdokumentarische Actionsequenz mit Originaltexten und Fernsehausschnitten über den Moment, als die Kapitalmärkte kurz vor dem Zusammenbruch standen: Maschinen pumpen eine Menge Schaum auf die Bühne, die Schleusen werden geöffnet, nur mit mehr und noch mehr Geld kann das System gerettet werden – mit dem Nachteil, dass gerade die schlimmsten Versager, die den Finanzmarkt an den Rand der Vernichtung geführt haben, belohnt werden. Mit Steuergeld werden ihre verantwortungslosen Spielereien bezahlt. Die wilde Schaumschlägerei ist dafür ein überzeugendes Bild. Mercadet – der nicht nur körperlich überragende Jürgen Hartmann – erhebt sich wieder und prophezeit, dass der nächste Kollaps nicht lange auf sich warten lässt.

Geldgrusel im schwarzen Salon

Natürlich hat es solche Finanzkrisenshows schon gegeben. Am Theater Aachen zum Beispiel haben die Schauspieler das "Himbeerreich" von Andres Veiel nicht nur gespielt, sondern selbst weiter recherchiert und ihre Erkenntnisse überzeugend auf die Bühne gebracht. Und Elfriede Jelineks "Kontrakte des Kaufmanns", uraufgeführt von Nicolas Stemann, wurden fast überall gezeigt, oft in originellen, bilderstarken Inszenierungen. Hermann Schmidt-Rahmer nähert sich dem komplexen Thema nun aus der Perspektive des Horrorgenres. Im Bühnenbild von Thilo Reuther könnte auch eine Gothic Novel des 19. Jahrhunderts spielen. Doch die Wände um die düsteren Türen und wuchtigen Bilderrahmen, in denen Videos flimmern, sind beweglich. Nichts ist stabil, nach der Pause stehen nur noch Rudimente des schwarzen Salons.

gespenster-des-kapitals 560 diana-kuester uOberspekulant Mercadet (Jürgen Hartmann) umklammert seine letzte Hoffnung
(Nicola Mastroberardino). © Diana Küster

Kostümbildner Michael Sieberock-Serafimowitsch konnte seine überbordende Fantasie austoben. Veronika Nickl trägt als Madame Mercadet ein unglaublich erotisches Kleid aus schwarzer, weitgehend durchsichtiger Spitze. Der Kammerdiener entzückt mit Schottenrock und Backenbart. Die anfangs mit großen, stilisierten Gesten agierenden Schauspieler vermitteln Herbert-Fritsch-Touch. Eine grandiose, mehrfach gebrochene Figur zeigt Nicola Mastroberardino als Mercadets letzte Hoffnung, der Beinahe-Gatte. Die Stimme klingt stark gequetscht, der Schweizer Akzent kippt zwischen Skurrilität und Irrsinn, in einer sehr schrägen Standup-Lecture erklärt Mastroberardino dem Publikum interaktiv Grundlagen der Wirtschaftslehre. Und kehrt später als Zombie aus dem Unterboden zurück, ein monetäres Monster, eins von den vielen Gespenstern des Kapitals, die unsere Gesellschaft weiterhin im Griff haben.

Ein Geisterjäger, der diese Untoten vertreiben könnte, ist nicht in Sicht. Alles, was die Politiker unternehmen, ist die Schaumschlägerei. Immerhin: Auf der glitschigen Bühne haben die Schauspieler beim langen, heftigen Schlussapplaus eine Menge Spaß beim Rutschen. Eine enorm unterhaltsame, bilderstarke und hirnaktive Aufführung.

 

Gespenster des Kapitals
nach Honoré de Balzac, in einer Bearbeitung von Hermann Schmidt-Rahmer
Regie: Hermann Schmidt-Rahmer, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Video: Stefan Bischoff, Licht: Jan Bregenzer, Dramaturgie: Olaf Kröck.
Mit: Jürgen Hartmann, Veronika Nickl, Xenia Snagowski, Damiz Avdic, Nicola Mastroberardino, Matthias Eberle, Sarah Grunert, Raiko Küster.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Mehr zu Hermann Schmidt-Rahmer: Auf nachtkritik.de wurden zuletzt seine Arbeiten Clockwork Orange (Essen, April 2013) und Ein Sportstück (Nürnberg, Oktober 2012) besprochen.


Kritikenrundschau

Einer "großen Rocky Horror Schuldenshow" wohnte Jens Dirksen vom Onlineportal derwesten.de (27.10.2014) bei. "Die Innovationskraft der Finanzmärkte ruiniert die Realwirtschaft", dies, so der Kritiker, "ist eine der bitteren Einsichten des fast dreistündigen Abends, dessen Groteske darin besteht, dass sie mindestens so dicht an der Realität liegt wie am Klamauk."

"Eine Inszenierung von Hermann Schmidt-Rahmer ist meistens wild wie eine Achterbahnfahrt, schwarzhumorig wie 'Monty Pythons Flying Circus' und lehrreich wie ein ganzes Schuljahr." Diese Einordnung stellen die Ruhrnachrichten (27.10.2014) ihrem Bericht von Max Florian Kühlem voran. Diesmal werde die "die Achterbahn zur Geisterbahn", voller Gespenster des Kapitals. "Sehr konsequent" lasse der Regisseur "Balzac immer mehr aus den Augen und entwickelt ein lustvolles Lehrstück über die Funktion der Finanzmärkte und die Bedeutung von Schulden."

Eine "rasante Geisterbahnfahrt zwischen Adam Smith und Addams Family, Rocky Horror Show und Kapitalismus-Klippschule, Leerlauf und Lehrstück, die durch die schwindelnden Höhen und tiefsten Geldvernichtungsabgründe der internationalen Finanzwelt schlingert", hat Andreas Rossmann für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.10.2014) gesehen. Hermann Schmidt-Rahmer sei, "vor allem als Regisseur von Elfriede Jelineks dramatischen Elaboraten, im Kurzschließen von sexuellen und ökonomischen Energien versiert": ein Textflächenfluter. Wie er Einfälle, Anachronismen und Assoziationen in den Bochumer Kammerspielen verzahne und durcheinanderschießen lasse, reflektiere auch die szenische Schwierigkeit, das volatile Thema zu begreifen. "In der Summe aber verspielt das Bochumer Theater, das risikolos in die Lust an der groben Karikatur investiert, in dieser Angelegenheit viel Kredit", findet Rossmann. "Mit den applaussicheren Anleihen bei Kabarett und Klamauk verkauft es sich unter Wert."  

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