Lost in Amnesia

von Friederike Felbeck

Essen, 14. November 2014. Ein schlaksiger Mann tritt vor das Publikum und entschuldigt sich mit leiser Stimme. Er leidet an periodisch wiederkehrendem Gedächtnisverlust und kann den Vortrag des heutigen Abends nicht wie ursprünglich geplant halten. Er hält einen Programmzettel in den Händen, aus dem er vorliest. Der Text beschreibt eine Performance, die hätte stattfinden sollen. Ratlosigkeit steht auf seinem Gesicht, er verhaspelt sich, kratzt sich am Kopf, fährt mehrfach mit der Hand über seinen Mund und schlägt vor, man könne ja gemeinsam die Vorstellung rekonstruieren.

Ein Zuschauer mischt sich ein: Er habe den Abend namens "Untitled 2005" als Video gesehen und beschreibt die Handlung. Da die Bühne im vollkommenen Dunkel lag, gingen die Zuschauer mit Taschenlampen auf die Bühne, um das Geschehen auszuleuchten. Eine zweite Zuschauerin, dann ein dritter und vierter sprechen spontan mit ihm über die Rolle des Zuschauers, seine Erwartungshaltungen, die Hemmung selbst in ein Geschehen einzugreifen oder mithineingezogen zu werden. Schließlich empfiehlt einer dem Mann eine Schocktherapie zur Heilung seiner Amnesie: Er solle sich mit dem Trauma des vergessenen Abends konfrontieren.

untitled 560 jamie north kaldorpublicartprojects uTanz der anschmiegsamen Mannequins in Xavier Le Roys Performance "Untitled (2014)"
© Jamie North / Kaldor Public Art Projects

Etwas, das verloren gegangen ist und nicht wieder erlangt werden kann. Aus diesem Verlust entstehe eine Situation, in der neu erfunden, neu komponiert werden muss. So erklärt der Choreograf und studierte Molekularbiologe Xavier Le Roy diese Versuchsanordnung seiner jüngsten u.a. mit PACT Zollverein, dem Festival Theaterformen und dem Festival d'Automne in Paris koproduzierten Arbeit. "Die Konferenz", "Die Vorstellung" und "Das Konzert" sind vorläufige Titel, die die drei Teile des ansonsten namenlosen Abends markieren. Denn Le Roys neuestes Stück firmiert auch nach der Premiere noch ohne Titel.

Anonyme Mitspielende

Das Programm nennt keine Mitwirkenden. Die mutigen Zuschauer, die sich eloquent und in geschliffenem Englisch, ohne Zögern in einen Diskurs begeben und dem ratlos schüchternen Le Roy aushelfen, könnten pfiffiges Fachpublikum oder eingeschleuste Co-Performer sein. Anonym sind auch die drei Figuren, die zu Beginn des zweiten Teils, der vermeintlichen Ausgrabung des früheren Stückes, im Dunkel der Bühne schemenhaft erkennbar werden. Sie sind vermummt, wie bandagiert, gesichtslos wie eine Gliederpuppe. Zwei der drei Puppen, die offiziell "Mannequins" heißen, sind miteinander verquirlt, liegen eng aneinander geschmiegt; in der gemeinsamen Bewegung reibt sich geräuschvoll der Stoff ihrer Ganzkörperkostüme aneinander. Sie rollen und wälzen sich, den Kopf zwischen den Beinen des anderen. Ihre Körper sind wie aus Gummi, sie bewegen sich wie Reptilien.

Schließlich richten sie sich gemeinsam auf. Die eine der beiden Puppen setzt sich in einigen Meter Entfernung hin und beginnt dann, quer über die Bühne zu robben. Dort liegt eine dritte Figur, die zu Beginn dieses zweiten Teils von oben zu Boden stürzt und an Seilen hängt. Zu einer sinfonischen Musik von Béla Bartók beginnt sie einen spektakulären Gliedertanz. Sie wippt im Widerstand der Seile und steigt in ihnen auf, bis sie meterhoch über dem Boden schwebt, hin und her, nach oben und unten alle möglichen Bewegungen probiert. Nur zwei der Puppen sind tatsächlich Performer, die dritte wird leblos von der Bühne getragen.

Das Spiel der Gliedmaßen

Im dritten Teil von "Untitled (2014)" legt sich Le Roy in eine Art stabile Seitenlage auf den Boden. Nach einem Zucken der rechten Hand, die sich reflexartig aus dem Handgelenk heraus öffnet, kommen wie in einer anatomischen Vorlesung alle einzelnen Körperteile und Gliedmaßen zu ihren möglichen Bewegungen, die zunehmend komplexer und koordinierter werden. Als er ins Stehen kommt, begleitet er seinen Tanz durch ein fortwährendes Schreien.

Le Roys Triptychon ist ein wirbelloses Formstück, das große Offenheit demonstriert, aber tatsächlich sehr genau sortiert und gelenkt ist. An der spannenden Schnittstelle zwischen inszenierter und zufälliger Performance nehmen einige Zuschauer die Aufforderung zur Mitwirkung ernst und hellen die Bühne mit ihren Smartphone-Lampen auf.

Einer wagt es, zu den noch reglosen Puppen zu gehen, sie anzufassen und ihre Glieder neu zu ordnen. Da kommandiert eine Stimme auf dem Off "Hey!" und "Stopp!". Die Interaktion mit den Zuschauern ist eben doch nicht jene "Zufalls-Gesellschaft auf Zeit", wie sie proklamiert wird, und die Rollen derer, die "passiv im Dunkeln sitzen und anderen, die im Licht stehen, bei etwas zuzusehen" sind klar verteilt. So ist der Abend  eine virtuose Demonstration dessen, was möglich ist, wenn alles verschwunden und alles neu erfunden werden muss.


Untitled (2014)
von Xavier Le Roy
Konzept, Performance: Xavier Le Roy, Technische Leitung: Bruno Moinard, Mannequins: Coco Petitpierre, Probenassistenz: Scarlet Yu, Organisation: Vincent Cavaroc, Fanny Herserant – Ilusion & Macadam, Produktion: Le Kwatt.
Koproduktion: Théâtre de la Cité Internationale (Paris), Festival d´Automne 2014 (Paris), PACT Zollverein (Essen), Kaaitheater (Brüssel), Festival Theaterformen (Hannover).
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.pact-zollverein.de
www.xavierleroy.com

 


Kritikenrundschau

"Die zwei letzten Stücke sind schaurig schön und anrührend, das erste ist provokant", sagt eine anonyme Stimme auf dem Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung derwesten.de (17.11.2014) zu dem dreiteiligen Abend von Xavier Le Roy. "Man muss ein Faible für Absurdes haben, um den Abend genießen zu können. Das Publikum im Pact, längst geschult an internationalen künstlerischen Versuchen, hatte es und reagierte mit Begeisterung."

Von einer "zu Zwei-Dritteln gelungenen Absenz-Show von mentalen wie theatralen Mitteln", berichtet Nicole Strecker in "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (15.11.2014). Sie versöhne im letzten Akt "mit einer skurrilen Solonummer", wenn Xavier Le Roy mit Kopfhörern auf den Ohren zu einer Musik zucke, die der Zuschauer nicht hören könne. "Damit endet Le Roys heiter sezierende Anatomiestudie zum Theater, von der anfänglichen Inklusion der Zuschauer bis zu ihrer maximalen Exklusion, denn man kann nur noch verwundert lachen über die Urschrei-Therapie des Performers. So funktioniert also die aristotelische Katharsis-Idee im zeitgenössischen Theater – wenn nicht für diejenigen, die vor der Bühne hocken, dann doch für denjenigen, der sich darauf austoben darf."

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