Polternd fallende Pappkameraden

von Andreas Schnell

Bremen, 14. November 2014. Schon wieder Jelinek in Bremen: Nach den Uraufführungen von Aber sicher! und Tod-krank.doc sowie "FaustIn And Out" als Teil von Faust hoch Zehn gab es nun "Die Schutzbefohlenen", im vergangenen Jahr von Jelinek als Reaktion auf Flüchtlingsproteste in Wien und den tausendfachen Flüchtlingstod im Mittelmeer geschrieben und in Bremen als zentrale Inszenierung des Schwerpunkts "in transit?" platziert, der sich mit Flucht und Migration befasst. Zum zweiten Mal nach "Tod-krank.doc" war es Mirko Borscht, der sich der Sache annahm und diesmal eine angemessenere Form fand, mit den berüchtigten Textflächen umzugehen, ohne dabei seinen Hang zu Nebel, Groteske, Heavy Metal und ausgefallenen Raumeinfällen zu vernachlässigen.

Epileptische Anfälle, Vergewaltigung, Megaphongezeter, "Schland"-Rufe

Das beginnt am Einlass, wo die Besucher den Theaterraum einzeln durch eine Schleuse betreten, in der jeder fotografiert wird, ohne einen Fotografen zu Gesicht zu bekommen. Von dort geht es in einen Raum voller willkürlich zusammengewürfelter Sitzgelegenheiten, auf denen sich das Publikum verteilt, über dem unablässig ein Scheinwerferkegel kreist. An den Wänden Fotos mutmaßlicher Parlamentarier, später überklebt mit unseren Konterfeis, mittenmang ein Stier aus Plastik und eine Häckselmaschine, die später ihren Zweck grausig erfüllt. Der Vorhang erweist sich als halb durchsichtig und gibt auf einer Seite den Blick auf die Zuschauertribüne des Kleinen Hauses frei, darauf verteilt eine nicht näher identifizierbare Ansammlung von Figuren, ganz oben auf den Stufen hebt ein Chor an, Jelineks Aischylos-Aneignung auszubreiten, zunächst gemeinsam, bald in zunehmender Vereinzelung.

schutzbefohlenen2 560 xBambule in Bremen mit Pappkameraden und Stier © Theater Bremen

Während sie näherkommen, gibt sich ein Teil der ominösen Figuren als polternd fallende Pappkameraden zu erkennen. Der Weg ins gelobte Land ist mit Leichen gepflastert. Und für die Überlebenden ist die Sache bekanntlich nicht ausgestanden. Verhärmt, verängstigt, verschleiert, zerlumpt suchen sie ihren Platz, wo sie gallig sezierte Auszüge aus einer Broschüre des österreichischen Innenministeriums für Asylbewerber über sich ergehen lassen müssen sowie allerlei garstige Überlegungen zu Freiheit, Menschenwürde und Staat. Bis die ganze Gesellschaft Amok zu laufen beginnt, erst noch halbwegs harmlos in grenzdebiler Polonäse mit Rasseln, Tröten, "Asyli, Asyl" singend. Später eskaliert die Lage gefährlich: epileptische Anfälle, Vergewaltigung, Megaphongezeter, "Schland"-Rufe; ein erster Pappflüchtling verschwand schon in der Häckselmaschine.

Man fürchtet um die Unversehrtheit nicht nur des Ensembles, so wüst geht es zu – während die andere Seite des Wahnsinns die Tochter Jelzins und Anna Netrebko bebildern, die aus nicht gar zu verschiedenen Gründen weit weniger Probleme mit politischen Grenzen haben.

Assoziativ und bildstark

Aus diesem ungastlichen Zufluchtsort werden wir unter dräuenden Stromgitarren vertrieben, angeblich in ein sicheres Drittland. Im Folgenden werden wir allerdings noch unsere Pappmaché-Doppelgänger verlieren, die auf einem Haufen auf der Bühne landen. Von wegen sicheres Drittland. Die Not nimmt aber doch ein Ende, zumindest in diesem Theater, und zwar sogar ein höchst poetisches: Romy Camerun singt ein Lied am Flügel, zum Niederknien schön. Und eindringlich erklingen die letzten Worte aus dem Munde Gabriele Möller-Lukasz': "Wir sind gekomen, doch wir sind gar nicht da", während hinten die Sterne der Europäischen Flagge leuchten.

Ganz schön viel los also wieder bei Borscht. Wobei sein Vorgehen präzise Struktur, Methoden und Duktus des Textes nachempfindet, assoziativ, bildstark, mit szenischen Entsprechungen zu Jelineks Kalauerei, dann wieder mit Härte, die nur zynisch finden kann, wer den Zynismus ihres Gegenstands nicht sehen will. Wobei hier wieder einmal Irene Kleinschmidt brilliert, die schon in "Aber sicher!" Jelinek frappierend eindringlich zu deuten wusste, während der Text beim übrigen, wie schon bei "Tod-krank.doc" aus festen Ensemblemitgliedern und Laien zusammengesetzten Ensemble bei all der Bambule gelegentlich untergeht, was aber angesichts des ganzen Radaus schon in Ordnung ist.

Einfacher, aufrichtiger: Pappschild und Spenden

Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage, die schon Nicolas Stemann, der die Uraufführung beim Festival Theater der Welt für das Thalia-Theater besorgte, offen lassen musste: ob und wie Theater eine Antwort sein kann auf hochgerüstete Grenzen und schwer vorstellbares Leid. "Einfacher wäre es vielleicht gewesen, den gesamten Probeetat zu spenden und ein Pappschild auf die leere Bühne zu stellen, mit der Aufforderung, sich Gedanken über das eigene Verhältnis zum Thema zu machen", gibt Dramaturgin Regula Schröter im Programmblatt zu bedenken. Vielleicht wäre das zumindest politisch gesehen auch aufrichtiger. Denn so spannend dieser Abend als Theater ist, unbefriedigt kann er einen politisch zurücklassen.

 

Die Schutzbefohlenen
von Elfriede Jelinek
Regie: Mirko Borscht, Bühne: Christian Beck, Kostüme: Leonie Geiser, Klavier und Gesang: Romy Camerun, Dramaturgie: Regula Schröter.
Mit: Karin Enzler, Lisa Guth, Michael Janssen, Irene Kleinschmidt, Susanne Meyer, Gabriele Möller-Lukasz, Andy Zondag, Antonia Andres, Hannah Aulepp, Vincent Basse.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Der Premierenabend werde zu einem großen Spektakel, "aber zu einem, in dem alles auf sinnige und unterhaltsame Weise Platz findet", so Hendrik Werner im Weser Kurier (17.11.2014), "ein Karneval der Kulturen, in dem Europas Bürokratie verlacht werde, das Elend der Transitreisenden mythologisch überhöht". Mirko Borschts Inszenierung währe zweieinhalb abwechslungsreiche Stunden und setze "leise, nachdenkliche Momente in ein angemessenes Verhältnis zu vorwiegend sinnfrei anmutendem Halligalli". Fazit: "Die Inszenierung beansprucht die Zuschauer kaum weniger als Jelineks Text den Leser. Und doch garantiert sie neben reichlich Lust- und Erkenntnisgewinn eine geschlossen großartige Ensembleleistung, intelligenten Klamauk, anrührende Bilder, und eine nachhaltige Appellfunktion." 

"Ein gemütlicher Theaterabend sieht nicht nur anders aus – sondern wäre dem Thema auch nicht angemessen", schreibt Jan-Paul Koopmann in der taz (18.11.2014). Das Spiel sei ein beklemmendes "Durcheinander aus moralischen Fragen, mehrdeutigen Symbolen und einer Handlung, der sich nicht immer folgen lässt." Die "Gratwanderung zwischen Empathie und Selbstmitleid gelingt der Inszenierung – auch wenn diese zumindest einmal fast daneben geht. Da steht eine mit Burka und Patronengurt bekleidete Frau und ruft das Ende der westlichen Wohlstandsgesellschaft aus. Ein rassistisches Angstbild, das hier tatsächlich apokalyptisch inszeniert und zumindest im Spiel auch wahr wird: Das Publikum wird von seinen Plätzen vertrieben. Doch was sich kurz wie eine fatale Pointe des Stücks anfühlt, bleibt doch nur eine Episode des Irrsinns."

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