Im Migrantenstadl

von Jan Fischer

Göttingen, 16. November 2014. Da stehen sie, die Schauspieler, auf der Bühne, dehnen sich, besprechen sich noch einmal kurz, Kathrin Müller-Grüß legt sich ihr Kopftuch an und wird zu Mariam, Ali Berber überprüft noch einmal den Sitz von Musas schmierigen Haaren, Käppis werden zurechtgerückt, Rucksäcke aufgesetzt. Und schon ist sie fertig, die Problemklasse mit hohem Migrantenanteil.

verruecktesblut1 560 dorothea heise uSchiller mit Krawumms: Endlich hat Lehrerin Sonia Kelich (Gaby Dey) ihre Schüler im Griff.
© Dorothea Heise

Es ist schon eine Weile her, 2010, da trat Nurkan Erpulats und Jens Hilljes Stück Verrücktes Blut vom Ballhaus Naunynstraße aus seinen Siegeszug an. Hymnische Besprechungen, auch bei Neuinszenierungen, Touren über Festivals, Publikumspreise, Wahl zum Deutschsprachigen Stück des Jahres 2011 durch die Kritiker des Fachmagazins Theater heute. Das Stück um eine Problemklasse, die von einer Lehrerin mit Hilfe der Waffe eines Schülers dazu gezwungen wird, Friedrich Schillers "Die Räuber" zu spielen, Ich statt Isch zu sagen und Vernunft nicht Vernunmft auszusprechen, traf bei Kritikern und Publikum einen Nerv. Das kluge Spiel mit Klischees wurde gelobt, die Doppelbödigkeit, der Witz und Aberwitz, die Ehrlichkeit und die Figuren: Machos, Sexisten, gewaltbereit, die Lehrerin überfordert, eine unsympathischer als die andere, aber trotzdem irgendwie knuffig. Man kannte sie allesamt, hatte diese Leute irgendwo schon mal gesehen, aber so noch nie über sie gesprochen.

Stapelweise Reclam-Heftchen

In Göttingen ist das alles da: Der Bühnenraum des JT ist gut mit Publikum gefüllt. Auf der Bühne steht eine Problemklasse wie aus dem Bilderbuch und wirft sich erst Worte wie "Schlampe" an den Kopf, später Schiller, unter Stottern zuerst, dann, in Ich-Findungsmomenten im klassischen Text,  flüssiger. Gaby Dey als Lehrerin Sonia Kelich mit strengem Dutt, die hinter vorgehaltener Waffe endlich mal unterrichten kann, wie sie sich das vorstellt. Projektionen von Schiller und deutschen Wäldern im Hintergrund, massenweise Stühle,  gestapelt auf Rollbrettern, auf denen die Problemklasse herumlümmeln darf, Stapel von Reclam-Heften, Lichtwechsel, in denen alle vortreten und Volkslieder singen. Der Twist am Ende, in dem alles noch einmal aufs Theater rückbezogen wird, das ganze Stück als Stück entlarvt, gesagt wird: Im Theater, auf der Bühne, da sei jetzt ja alles in Ordnung, da hätten alle was gelernt, aber da draußen auf der Straße nicht.

Trotzdem zündet Dietrichs Inszenierung – eine ungewöhnliche Kooperation zwischen Göttingens Deutschem und Jungem Theater – nicht richtig. Der Witz, der sich aus der absurden Situation und dem Aufeinandertreffen von Kanak Sprak und klassischem Drama ergeben soll wirkt flach, hundertfach gehört, hundertfach gemacht. Die Ich-Findungsmomente über den Schillertext sind nicht richtig ausgespielt und verlieren ihre Wirkung in unpräziser Wurschtigkeit. Die Versuchsanordnung um die Wahrnehmung von Klischees, die das Stück versucht, versumpft bei Dietrich im Ungefähren, im nicht Gefühlten, sondern auswendig Vorgetragenen. Die große Pointe, dass es eben schwer ist, sich außerhalb des Theaters von festgeschriebenen Rollen und kulturellen Konflikten frei zu machen, wird mit dem Holzhammer vorgetragen, indem der Kurde Hasan (Norman Grüß) die Waffe auf das Publikum richtet und abdrückt.

Nicht gut gealtert

Das ist schade: Andere Inszenierungen haben bewiesen, dass "Verrücktes Blut" klug und spannend sein kann, und auch die Göttinger Inszenierung strotzt vor Potential. Dass der Funke nicht überspringt und "Verrücktes Blut" zum Migrantenstadl mutiert, mag an der Regie liegen oder an den Schauspielern, daran, das am Timing der Witze und der Präzision des Spiels für eine größere Wirkung durchaus noch gefeilt werden könnte. Tatsächlich liegt es vielleicht auch daran, dass das Stück selbst nicht gut gealtert ist, wie es bei Stücken zu aktuellen Debatten durchaus vorkommt. Zwar ist die Debatte um die Wahrnehmung bestimmter Klischees rund um jugendliche Migranten nicht abgeklungen. Aber sie hat sich verändert, hat neue Themen und Varianten erschaffen. Vielleicht bräuchte es also einfach ein neues Stück zum Status quo.

 

Verrücktes Blut
von Nurkan Erpulat und Jens Hillje nach Motiven des Films "Heute Trage ich Rock"
Inszenierung: Nico Dietrich, Ausstattung: Susanne Ruppert, Dramaturgie: Tobias Sosinka, Philip Hagmann.
Mit: DT-Ensemble: Gaby Dey, Norman Grüß, Kathrin Müller-Grüß / JT-Ensemble: Fabian Baumgarten, Ali Berber, Linda Elsner, Tim Tölke, Karsten Zinser.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.junges-theater.de
www.dt-goettingen.de



Kritikenrundschau

"Ganz großes Theater", hat Peter Krüger-Lenz vom Göttinger Tageblatt (17.11.2014) erlebt. Regisseur Nico Dietrich habe die Konflikte des Stücks "sehr präzis auf den Punkt gebracht". Seine Inszenierung "besitzt Witz und bei aller Schwere hier und da auch eine schöne Leichtigkeit". Aus dem "geschlossen" agierenden Ensemble rage Gaby Dey in der Rolle der Lehrerin heraus.

Die "Ernsthaftigkeit der verhandelten Themen Autorität und Solidarität in sogenannten Problemschulen bleibt unter dem Klamauk auf der Strecke", schreibt Philine Proft in der Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen (17.11.2014). "Es wird nicht klar, welchen Zweck die Komik erfüllen soll. Wahllos schießt die Lehrerin in die Luft, ihre Waffe wird zum Zeigestock. Am Ende akzeptieren ihre Schüler sie als weise Königin der Intelligenz, werfen das Kopftuch weg und tanzen den Befreiungstanz." Das sei "dann doch noch eine willkommene Überraschung, die zum Diskutieren anregt".

 

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