Aus dem Renaissance-Zirkus in die Stephen-King-Arena

von Stefan Schmidt

Köln, 12. Dezember 2014. Ja, sie ist etwas angestaubt, diese Komödie von Molière aus dem 17. Jahrhundert. Auch wenn sie nach wie vor gerne mal auf die deutschsprachigen Spielpläne gehievt wird, sei es zur allgemeinen Volksbelustigung oder zur gutmenschlichen Erbauung angesichts der Verlogenheit der Welt. Und so ist es nur konsequent, dass es in dieser Kölner Inszenierung vom "Menschenfeind" ab und zu von der Decke rieselt auf Mobiliar und Personal. Das kann passieren, wenn man so wenig zimperlich mit dergleichen Antiquitäten umgeht wie Regisseur Moritz Sostmann. Am Ende dieses Abends liegt der ganze Altbau in Trümmern, und nur ein paar dummen Augusten ist das blöde Lachen noch nicht vergangen.

menschenfeind 560 davidbaltzer uZwischen Puppen und Menschen: Alceste alias Philipp Plessmann mit Clownsnase. © David Baltzer

Gruppenorgiastische Liebkosungen

Clowns sind sie so gut wie alle, die uns begegnen, die meisten von der plump naiven Sorte mit der roten Knollnase aus Plastik im Gesicht. Nur die Hauptfigur pudert sich zu Beginn der Vorstellung edel, wenngleich überreichlich hell ab, mit elegant schwarz geschwungenen Linien über den Augen und hübsch aufgemalten Tränen an der Wange: Alceste ist der Weißclown, der sich für etwas Besseres hält, ein intellektueller Schöngeist, dem Heuchelei und Unaufrichtigkeit schon aus ästhetischen Gründen ein Graus sind. Bei Benjamin Höppner ist dieser titelgebende Menschenfeind ein selbstgerechter Narzisst, der sich seinerseits gerne gruppenorgiastischen Liebkosungen hingibt, solange er dabei im Mittelpunkt steht, der aber völlig ausrastet, als er seine Eifersucht mit Blick auf die geliebte Célimène endlich (brieflich) begründet findet. Da wird der Renaissance-Zirkus zur Stephen-King-Arena, da wütet der weiße Clown mit plötzlich verschmiert vernarbtem Gesicht auf einmal mit Axt und Benzinkanister in der Depothalle des Kölner Schauspiels. Da bleibt Mensch wie Puppe nur noch die Suche nach einem geeigneten Versteck.

Fremdgesteuerte Wesen

Ach ja: Stichwort Puppen. Wie leicht kann es einem entgehen zu erwähnen, dass von den zentralen Figuren aus Molières bitterer Komödie nur zwei von Schauspielern aus Fleisch und Blut verkörpert werden, nämlich Alceste und dessen rotnasiger Freund Philinte (sehr präsent, spannungsgeladen und mimisch stark mit weit aufgerissenen Augen und grenzdebilem Grinsen: Philipp Plessmann). Der Rest, darunter die männermäßig umtriebige Célimène und der Möchtegern-Poet Oronte, der Alceste für dessen Ehrlichkeit vor Gericht zerrt, besteht eben aus fremdgesteuerten, an sich leblosen kleinen Wesen, die Hagen Tilp für diese Inszenierung gebaut hat und die das Ensemble mit einer virtuosen Selbstverständlichkeit in erschreckend menschenähnliche Bewegung versetzt.

Regisseur Moritz Sostmann hat Erfahrung mit solchen theatralen Begegnungen. Während allerdings etwa in seiner Kölner Inszenierung von Brechts Der gute Mensch von Sezuan die Puppen integraler Bestandteil einer ästhetischen Neubesichtigung sind, geraten sie im "Menschenfeind" fast zur Randerscheinung. In der aktuellen Produktion entfaltet ihre Anwesenheit auf der Bühne vor allem da Wirkung, wo sich die Schauspieler ihnen annähern, wenn zum Beispiel Benjamin Höppners Alceste an einer Stelle von drei seiner Kollegen durch den Raum geführt wird. So, wie sie sonst ihre Puppen führen. Oder wenn sich eben jener Alceste im Aufbewahrungsschrank der leblosen Figuren verkriecht. Der Menschenfeind wird zum Objekt seines eigenen Hasses. Der Narzisst verabscheut letztlich sich selbst. So krank kann Kompromisslosigkeit sein.

Rasant komische Szenen

Überhaupt funktioniert Sostmanns kluge, ideenreiche und unterhaltsame Mélange performativer Traditionen immer dann, wenn es dem Inszenierungsteam gelingt, Staubfänger aus Worten in unmittelbare Körperlichkeit zu übersetzen. Dazu trägt das Bühnenbild einen wesentlichen Teil bei: Ausstatter Christian Beck ist ein Meister des großen Effekts mit einfachen Mitteln. Ein überdimensionierter Esstisch, riesige Stühle und Servietten wie Tischtücher enttarnen ohne Umschweife die prätentiöse Lächerlichkeit bourgeoiser Kaminfeuergemütlichkeit. Die Kulissen lassen diejenigen, die sich darin bewegen, puppenhaft (!) winzig erscheinen. Wenn der Weißclown beispielsweise vor diesem Hintergrund den dummen August jagt, entstehen rasant lustige Szenen. Wo die Inszenierung dann aber doch den latent verwickelten Plot Molières dialogisch nacherzählen will, hängt sie manchmal merkwürdig durch. Da gerät der Staub des 17. Jahrhunderts ungewollt ins Getriebe der Spielfreude aus dem 21. Jahrhundert. Moritz Sostmann war beim Großreinemachen schon einmal gründlicher.

 

Der Menschenfeind oder der griesgrämige Verliebte
von Molière
Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens
Regie: Moritz Sostmann, Bühne und Kostüme: Christian Beck, Puppen: Hagen Tilp, Licht: Michael Frank, Dramaturgie: Jens Gross.
Mit: Johannes Benecke, Benjamin Höppner, Philipp Plessmann, Franziska Rattay, Magda Lena Schlott.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Jürgen Schön schreibt auf der Internet-Plattform Koeln.de (14.12.2014): Mehr als bisher spielten bei Sostmann die Puppen die Hauptrolle, seien "abhängiger etwa von Mimik und Gestik ihrer Führ-Spieler". Meist gehe es "laut und ruppig, gar brutal zu, poetische, sensible Szenen" fehlten. "Klamauk, gereimtes Wortgeklingel und geknödelter Gesang" hätten "ausreichend Anlass zum Lachen" geboten.

Im Kölner Stadt-Anzeiger (15.12.2014) schreibt Michael Kohler, das Stück sei so grimmig, dass schon "Moliere es kaum ertragen konnte" und deshalb "den Puder eleganter Reime und gezierter Missverständnisse" darüber legte. Die Menschen- und Puppenspiele von Sostmann gehörten zur "Attraktion" der Intendanz Bachmann. Die Puppenspieler seien stets als Sprecher und Spieler präsent. Diese Verdoppelung sei auch im "Menschenfeind" "bezaubernder Desillusionierungseffekt" und "Herz der Inszenierung": Die Puppen wirkten an den Händen von bis zu drei Puppenspielern "anrührend verletzlich", und im "düsteren Finale" doppelt verloren, wenn sie in ihrer Grausamkeit jeden Halt verlören. Aber sie drohten auch immer wieder in einem "Walbauch aus Gags, Zitaten und Clownerien zu verschwinden". Sostmanns "Einfallsreichtum" ermatte am Ende mehr, als dass er beschwinge.

Hartmut Wilmes schreibt in der Kölnischen Rundschau (15.12.2014): Moliéres Komödie ziele in Köln "eher nicht auf Finesse". Zwar werde das 17. Jahrhundert in Perücken und lnterieur zitiert. Doch haue "beinahe permanent auf die Pauke, bis die Trommelfelle dröhnen". Der differenzierte Blick in den "Abgrund zwischen rigorosem Idealismus und ernüchternder Realität" sowie Alcestes Liebe zu Celimene verschwänden dahinter. Hagen Tilps Menschenpuppen seien "fantastisch". Lena Schlott, Johannes Benecke und Franziska Rattay küssten sie als stets sichtbare Spieler immer wieder "zu frappierendem Eigenleben" wach. Doch so virtuos "Rollentauschtechniken" durchdekliniert würden, es fehlten "Momente magischer Zartheit" und "Hintersinn".

 

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