Viel Pinsel, viel Keule, viel Vorschlag

von Reinhard Kriechbaum

Wien, 14. Dezember 2014. Bedeutungsvoll hat sich "die Mittlere" an die Bühnenrampe gekauert, bereit, Großes hinauszurufen. Um noch Farbe draufzusetzen, ist "die Junge" herbeigeeilt und hat ihrer zum Antiken-Lamento anhebenden Mutter einen halben Eimer Blut über den Kopf geleert. Und da geht es auch schon los: "Ich bin Elektra", orgelt Christiane von Poelnitz. Diese Facette hat zu dem Zeitpunkt gerade noch gefehlt in der großen Abrechnung mit der Genealogie. Aber ach: "Der Apfel fällt man sagt nicht weit / das ist ein Pech / verfaul nicht weit von ihrem Stamm gefallen ich..." Derweil versucht im Bühnenhintergrund "die Alte" (vorerst) vergeblich, auf einen Sessel zu klettern und sich am Telefonkabel aufzuhängen.

Wort- und Blutsuppe im Akademietheater

Eine ansehnliche Wort- und Blutsuppe, die einen da in Knöchel-Untiefe heftig sprudelnd umströmt – und im Akademietheater ganz gewiss nicht vom Stuhl reißt. Ewald Palmetshofers "die unverheiratete" ward dort also uraufgeführt. Ein Dramatikerstipendium der Stadt Wien hat Palmetshofer in diesem Fall den Freiraum ermöglicht zum mehr als ausgiebigen Text-Ziselieren, ganz wie es seine Art ist. Ohne Punkt und Komma. Aber dafür mit Sicht auf die halbe Welt in jedem Dreiviertelsatz.

unverheiratete1 560 georgsoulek uWeiberwirtschaft: Die Junge, die Mittlere, die Alte. © Georg Soulek

Der Plot nimmt Bezug auf eine historische Begebenheit im tiefen Oberösterreich, haarscharf vor Kriegsende. Wien war eben gefallen, Hitlers Ende nur noch eine Frage von Tagen. Da hat eine Frau das Telefonat eines jungen Soldaten belauscht, der vom Desertieren sprach. Es vielleicht plante oder auch nur mit dem Gedanken liebäugelte. Damals jedenfalls genug, ihn zu denunzieren und vor ein militärisches Blitzgericht zu bringen. Der Zwanzigjährige büßte mit dem Tod am Strang. Die Denunziantin kam nach dem Krieg dafür zwar hinter Gitter. Die Schuld beschäftigt aber noch Tochter und Enkelin gleichermaßen. Warum tat die Frau das damals? Gibt es so etwas wie Einsicht, Reue?

Wahrheiten in der Weiberwirtschaft

Das abzuhandeln hat sich Palmetshofer "eine reine Weiberwirtschaft" (so "die Alte" einmal über ihr Leben) ausgedacht. Großmutter, Mutter, Tochter. Dazu "4 Schwestern (die Hundsmäuligen)", die in Gruppenauftritten meist den Prozessverlauf von damals einbringen. Wie Heiligenfiguren haben sie ihre Attribute: Die Tochter (Christiane von Poelnitz) ein Beil. Die Enkelin (Stefanie Reinsperger) ein Akkordeon (oder auch mal eine Schnapsflasche). Und "die Alte", um die es eigentlich geht? Sie trägt Charisma vor sich her. Dieses liefert nicht der Text, sondern Elisabeth Orth als Darstellerin ganz allein. Die Großmutter, die Täterin – eigentlich eine liebenswürdige alte Dame, wenn auch eine mit Eigensinn und deutlichen Erinnerungslücken. Aber da sind immer ein paar scheinbar hilflose Handbewegungen, wie Auslassungszeichen, die von intakter Erinnerung künden. "Was nützt die Wahrheit, wenn man sie nicht glaubt?" So schmettert die Alte bohrende Fragen nieder. Und an die Adresse der Enkelin: "Hast deine Wahrheit selber schon..."

Ein großartige schauspielerische Leistung, verschwendet freilich an ein Stück, das nicht wirklich lohnt. Irgendwie wirkt Ewald Palmetshofers Text wie eine Fingerübung des Sprach-Drechslers, der er eben ist. Kein echter Stoff, viel Kunsthandwerk. Dann und wann ein Aperçu, das war's aber auch schon: "Ich umarme meine Großmutter und die Postmoderne umarmt mich zurück."

Zu viel Pinsel, zu viel Keule

Ein packender Essay hätte das werden können, ein Dramolett meinetwegen. Aber gleich zwei Stunden zwanzig unter Beschuss von Wort-Kanonaden? Bis die Charaktere entwickelt sind, bis die Geschichte überhaupt in Gang kommt, dauert es. Viel Nebensächliches wird sprach- und selbstverliebt breit getreten.

Palmetshofers sehr ins flächig Breite zerfließender Text delegiert die Frage nach Bühnentauglichkeit definitiv an die Szeniker. Robert Borgmann hat sich einen unbestimmten Bühnenraum ausgedacht mit Erdhaufen, die auch Grabhügel sein könnten und im Lauf des Abends ordentlich umgewühlt und umgegraben werden. Man kann drübersteigen, durchwaten, sich auch selbst drin eingraben. Ein Fauteuil dazwischen, ein Tisch mit Sesseln, eine Flügeltür hinten. Viel Aktionismus, gelegentlich überdreht. Eine Linie, dramaturgischer Sog will sich nicht recht einstellen. Idee um Idee wird abgespult. Die "hundsmäuligen" Schwestern tragen immer uniforme Retro-Kleider aus unterschiedlichen Zeiten, ihre Auftritte bringen etwas Clowneskes ein – ein Farbklecks mehr. Letztlich zu viel Pinsel, zu viel Keule auch im Szenischen. Wie heißt es doch einmal so schön: "Ein Vorschlag ist ein Schlag mit einem Vorschlaghammer." Der Autor und sein Regisseur haben für diesen Abend gar viele Vorschläge.

 

die unverheiratete (UA)
von Ewald Palmetshofer
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: webermichelson, Licht: Peter Brandl, Dramaturgie: Klaus Missbach
Mit: Stefanie Reinsperger, Christiane von Poelnitz, Elisabeth Orth, Petra Morzé, Sylvie Rohrer, Sabine Haupt, Alexandra Henkel.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

Mehr dazu: Ein Interview mit dem Dramatiker Ewald Palmetshofer brachte vor der Premiere die Wiener Tageszeitung Der Standard.

 

Kritikenrundschau

Karin Cerny schreibt auf Spiegel Online (15.12.2014), Borgmann inszeniere eine "Geisterbeschwörung". Manchmal erzeuge die "wuchtige Düsternis" einen gewissen Leerlauf, "aber im Grunde vertraut die Regie auf ein extrem starkes Frauenensemble". Man merke, "wie faszinierend vielschichtig und energetisch das weibliche Burgensemble ist. Und zwar durch die Generationen. Den Finanzskandal, der in den letzten Monaten permanent für Negativschlagzeilen sorgte, vergisst man zumindest für die Dauer der Vorstellung völlig."

Eine "herrlich unbekümmerte Inszenierung" hat Ronald Pohl für Der Standard (16.12.2014) gesehen. Palmetshofers Neubelebung des Atridenstoffes enthalte einige wichtige Denkanstöße. Die Regie füttere Palmetshofers sperriges Erzählen mit Einfällen. "Besichtigt werden Spukgestalten aus Fleisch und Blut, die niemand erlösen kann. Das rettende Wort des Schuldeingeständnisses kommt nicht über die Lippen."

Ein "geheimnisvolles, überladenes, hoch poetisches Drama" nennt Norbert Mayer das Stück von Palmetshofer in Die Presse (16.12.2014) und schreibt zu Robert Borgmanns Uraufführungsinszenierung: "Sieben hervorragende Schauspielerinnen verwandeln den Abend in ein eindringliches Erlebnis." Sie bewiesen mit differenziertem Spiel, "welche Energien das Ensemble des Burgtheaters selbst bei einem schwierigen, hermetisch abgeschlossenen Stück freisetzen kann". "Bei schwächerer Besetzung und allzu viel Rücksichtnahme auf den Eklektizismus dieses Dramatikers, der zudem Wiederholungsschleifen schätzt, könnte die Aufführung gnadenlos in Langeweile enden", so Mayer. Regisseur Robert Borgmann tappe "nicht allzu oft" in diese Falle. Zwar überhöhe er den dichten, mit Versen garnierten Text von "Die Unverheiratete", doch lasse er trotz dieser Anflüge von Symbolismus die Darstellerinnen ihre vielfältigen Stärken ausleben.

"Palmetshofer mag zu viel wollen, er erreicht immer noch genug", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (16.12.2014). Nicht nur verquickten sich bei ihm die österreichische Geschichte und ihre braunen Gegenwarts-Schatten mit der Problematik der Altenbetreuung ("verdient eine Greisin, weil sie den Nazi hörig war, Herzlosigkeit?"). Es schiebe sich auch sonst alles über- und ineinander. Und auch wenn manchmal die Tonart verfehlt werde, "alles hier spielt zwischen üppigen Vorhängen auf dem Theater, dessen Potenzial der junge Borgmann lustvoll anzapft, indem er Überlebtes, Verdrängtes und Ungehöriges auf der Bühne stilisiert, ohne es zu sterilisieren." – Einige seiner Bilder blieben Rätsel, so Villiger Heilig: "Man trägt sie gern mit sich nach Hause. Als Vorrat."

"Zwar handelt es sich um eine Uraufführung, aber ein Schnitt hier und da, eine weggelassene Wiederholung, eine übergangene Erinnerungspassage und vor allem ein Kostümwechsel weniger hätten dem überlangen Abend zu jener Größe verholfen, die der Stoff und das grandiose Damenensemble verdienten", meint Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.12.2014).

"Den sperrigen Charakter des Textes kann die mehr als zwei pausenlose Stunden lange Aufführung nicht ganz wegspielen", findet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (16.12.2014). Der Erfolg der Uraufführung sei wesentlich den Schauspielerinnen zu verdanken. Als "die Junge" mache Stefanie Reinsperger als androgyner Anti-Vamp eine ebenso gute Figur wie in einer exzessiven Besoffenen-Nummer. Christiane von Poelnitz leide als "die Mittlere" etwas darunter, dass ihre Rolle lange Zeit wenig Futter hat; "erst in ihrem Elektra-Monolog am Ende kann sie ihre Erfahrungen ausspielen, die sie voriges Jahr als Hofmannsthal-Elektra im Burgtheater gesammelt hat." Das Herz der Aufführung aber sei die 78-jährige Elisabeth Orth als giftige "Alte", in der sich ein störrisches Mädchen verbirgt. "Orth spielt diese monströse Figur nicht als Monster, sondern als emotional unterentwickeltes Unglückswesen, für das das Leben eine lebenslange Strafe darstellt."

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