Zürich sucht den Super-Bourgeois

von Christian Rakow

Zürich, 18. Dezember 2014."Vorsichtig!" ist eines der ersten Worte in Luis Buñuels Filmklassiker "Der diskrete Charme der Bourgeoisie". Eine Warnung, vom Bourgeois François seiner Schwägerin Florence mit erhobenem Finger unter die Nase gerieben, bevor sie in kleiner Gruppe zum Dinner bei Bürgersfreunden eintreten. "Vorsichtig!", weil diese gute Florence bei solchen Essen gern mal zu viel trockenen Martini trinkt und dann ein wenig aus der Rolle fällt.

"Vorsichtig!" ist aber natürlich auch ein Fingerzeig an die Zuschauer, weil in diesem Film so einiges Unvorhergesehenes, ja Seltsames eintreten wird. Da wollen die sechs Hauptfiguren – zwei Großbürgerpaare, die besagte Schwägerin und ein befreundeter Botschafter aus einer fiktiven südamerikanischen Bananenrepublik namens Miranda – in ritueller Vertrautheit einfach miteinander essen (Kaviar oder Hammelbraten, so das Kaliber). Aber ständig kommt etwas dazwischen: Mal haben sich die Freunde auf den falsche Tag verabredet, dann finden sie sich in einem Lokal wieder, das just an diesem Abend für eine Totenwache genutzt wird (was ihnen verständlicherweise den Appetit auf Austern verdirbt). Ein andermal platzt eine Militärkohorte ins traute Heim, als gerade die Pastete servierfertig ist. Was alle nur gelinde aus der Fassung bringt. Vorsicht, Zurückhaltung und Contenance sind schließlich eingerechnet in dieser ewigen Wiederkehr der Reichen.

Diesen so hinreißend schrägen, komischen, abgründigen, unverkrampft elitenkritischen Filmtrip zwischen Traum und Wirklichkeit hat sich Sebastian Nübling nun für das Zürcher Schauspielhaus vorgenommen. Und wohin, wenn nicht hierher sollte dieser Stoff passen, nach Zürich, wo mindestens der angereiste Besucher auf seinem Weg über die ultranoble Bahnhofsstraße vorbei am Zürichsee hinauf zum Pfauen den Eindruck gewinnen mag, dass es sie hier noch geben muss: die Bourgeoisie mit ihrem diskreten Charme. Und dann Sebastian Nübling, ein Regisseur mit so feiner wie formstrenger Hand, mit Gespür für kleine Rituale, für die Choreographien des Alltäglichen, ein Regisseur, der an die Sollbruchstellen zwischen Vernünftigem und Fantastisch-Unbewusstem vorzudringen vermag (ich denke an Three Kingdoms in München)! Kurzum: So viel ideale Fügung und, ja, so viel Erwartung gibt es nicht oft vor einem Theaterabend.

Tanz mit Popo-Einsatz
Aber, auch das lernt man bei Buñuel, wo alles perfekt arrangiert ist, da lugt gern mal das Malheur um die Ecke, da wartet der Fehler, mitunter der Tod. Oder wie hier, weil es sich doch so wenig groß ausnahm, sein kleiner Bruder: der Schlaf, der Theaterschlaf. Nübling hat sich von den berühmten Zwischenszenen des Films – die Helden gehen eilig auf einer nicht enden wollenden Landstraße – zu einer ähnlichen Bewegungsidee inspirieren lassen, einer einzigen: Vor einem funkelnden Lichter-Rahmen, auf einer abfallenden, aufpolierten Tortenbühne (von Muriel Gerstner) trippeln die Akteure in Standardtanzschritten zur Rampe, um dort die Filmszenen eine nach der anderen frontal ins Publikum zu gockeln. Showtime also. "Let's Dance" – Zürich sucht den Super-Bourgeois, bekommt aber nur die Super-Poser.

diskreterbourgeoisie1 560 tonisuterttfotografie uDer indiskrete Charme der Showbühne © Toni Suter / T+T Fotografie

Mundwinkel hochgezogen, Augen strunzstumpf aufgerissen, Zähne gebleckt, das sind die Großbürger im Vorstadtdisco-Format, dem Publikum zum Verlachen hingeworfen (es hat mindestens beim Premierenpublikum leidlich geklappt). Vielleicht hätte Nübling besser gleich zu grelleren Ansichten der Wohlstandsverwahrlosung gegriffen, "American Psycho", "Wall Street", was auch immer, Bilder von legeren, prolliger anmutenden Aufsteigern, die die alte Bourgeoisie im Neoliberalismus abgelöst haben. Die vereinzelten Wackel-den-Popo-Choreographien (wie alle Tänze von Tabea Martin ersonnen) deuten ohnehin in Richtung heutige Rap- und Popkultur.

Todsichere Show-Dramaturgie
Neben der, nun ja, tiefergelegten Upperclass müssen sich die Proletarier notwendig noch einen Zacken derber und ordinärer ausweisen. Die Haushälterin darf sich ständig in rätselhafter Lüsternheit den Oberschenkel betätscheln. Immerhin bekommt sie einen kleinen – im Geiste Thomas Pikettys dem Filmskript hinzugefügten – Monolog wider die Ungleichverteilung des Reichtums. So wird die kritische Note, die bei Buñuel in sanfter Zeichengebung dem Zuschauer zur eigenständigen Deutung freigegeben war, in einer Bevormundungsdramaturgie fett aufs Brot geschmiert. Aus diskret wird direkt wird dröge.

Die Schauspieler, die all das weit unter ihrem Niveau auf die Funkelbretter chargieren, seien hier aus Diskretionsgründen verschwiegen (Freunde des Indiskreten finden sie im Kasten unter diesem Text aufgeführt). Das Wesentliche ist ohnehin hinter der Bühne verzapft worden. Die Show-Dramaturgie tilgt jegliche Überraschung. Während ein Militärauftritt wie im Film – in Friedenszeiten in einer Großbürger-Villa, wo gerade bei Kerzenschein ein bekömmlicher Whiskey mit Soda angemixt wird – für reichlich Verblüffung sorgt, vermutlich sogar für eine Interpretationslust, da schaut das hereinschneiende Zürcher Militärtanztrüppchen nurmehr nach amerikanischen Film-Revuen von anno dunnemal aus. Fehlte bloß noch, dass Fred Astaire hereinsteppte, auferstanden von den Toten. Aber er kam nicht.


Der diskrete Charme der Bourgeoisie
nach dem Film von Luis Buñuel
Regie: Sebastian Nübling, Choreographie: Tabea Martin, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Amit Epstein, Musik: Lars Wittershaben, Dramaturgie: Katja Hagedorn.
Mit: Anne Ratte-Polle, Jan Bluthardt, Hilke Altefrohne, Christian Baumbach, Lukas Holzhausen, Dagna Litzenberger Vinet, Jörg Schröder, Susanne-Marie Wrage, Johannes Sima, Michael Ragazzi, Murat Aykut, Bryan Berger, Lara Canoci, Alessandro Cuoco, Fabio Del Giudice, Anna Garevskikh, Anna Koplik, Gabriela Spirig, Bettina Stocker, Daiming Xiu.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.12.2014) hat Martin Halter einen "Formationstanz ohne Stolperer, Nachtmahre und tiefer gehende Irritationen" gesehen.

"Die kultivierten bürgerlichen Codes, die Buñuel so kaustisch karikiert, machen bei Nübling einer lasziven Sportivität Platz, einem ordinären Oberflächenspiel, cool, hohl und sexualisiert", schreibt Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (20.12.2014). Nüblings Buñuel-Fortschreibung habe durchaus boshafte Züge, "sie zieht die Sozialkritik von 1972 auf eine Weise in die Gegenwart, dass einem das Lachen eigentlich im Hals stecken bleiben müsste." Dass das nicht geschehe, sei die grosse Schwäche der Inszenierung. "Das Variété ist bloss eine Freak-Show." Nüblings Bourgeois seien Knallchargen, der Lächerlichkeit preisgegeben, von Charme könne keine Rede sein, geschweige denn von Diskretion. "Man hat es bald begriffen; und so versinkt der Abend in gepflegter Langeweile."

Eine "selbstgenügsame Inszenierung, die sich in illusionären Kämpfen ergeht", hat Andreas Tobler vom Tagesanzeiger (online 19.1.2014) gesehen. "Man selbst fühlt sich von Nüblings Abbild des dekadenten Bürgertums, das angesichts seiner eleganten Roben offensichtlich in einer anderen Liga verkehrt als man selbst, völlig unbetroffen." Besonders ärgerlich findet der Kritiker den marktkritischen Monolog von Susanne-Marie Wrage im Dienstmädchen-Outfit, mit dem der Regisseur "uns offensichtlich für belehrungsbedürftige Schulkinder hält".

Es sei nicht nur der ständige Bossa Nova, der den Abend platt mache. "Es sind auch die vollkommen überzeichneten Figuren." Da gebe es keine raffinierte Noblesse, "dafür schrilles Gekicher, Po-Gewackel und Grimassen", so Cordelia Fankhäuser im Schweizer Radio und Fernsehen (19.12.2014). "Beim Schlussapplaus stolperte der Regisseur Sebastian Nübling über das kleine runde Podest mitten auf der Bühne und fiel hin. Ein schönes Bild für einen Abend, der nicht so gelang, wie es sich die Beteiligten vielleicht wünschten."

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