Apokalypse Two

von Sascha Westphal

Essen, 18. Dezember 2014. Bevor es den Hindukusch hinaufgeht und sich wieder einmal eine westliche Erzählung die Welt nach ihrer Vorstellung zurechtbiegt, herrscht erst einmal Dunkelheit. Ein Vorhang, der auch ein militärisches Tarnnetz sein könnte, verbirgt große Teile von Maximilian Lindners Bühne. Die Vier, die vor ihn treten und sich gemeinsam als somalischer Pirat Ultimo Michael Pussi an das Publikum wenden, sind nur vage zu erkennen. Am deutlichsten zeichnen sich ihre phantastisch anmutenden roten Hüte und ihre Kalaschnikows ab. Das Sichtbare, das sind die Klischees, das Unsichtbare: eine Antwort auf sie.

Furcht und Folklore, viel mehr fällt dem Westen zu dem "schwarzen Neger aus Somalia", so stellt sich der in Hamburg vor Gericht stehende Pirat bei Wolfram Lotz selbst vor, nicht ein. Und genau dagegen sprechen nun Stephanie Schönfeld, Jörg Malchow, Johann David Talinski und Axel Holst an. Natürlich ist Ultimo Michael Pussis Verteidigungsrede, die bei ihnen einen wunderbar lakonischen Ton hat, eine rein literarische Phantasie. Von der Realität lässt sich Wolfram Lotz aus Prinzip nicht im Geringsten einengen. Und gerade dieser Zug ins Irreale verleiht den vier Stimmen aus dem Dunkel eine enorme Kraft. Sie erinnern mit aller Macht daran, dass die Wirklichkeit anders, reicher und komplexer ist als alles, was die Nachrichten täglich behaupten.

Lotz' Stück als Kommentar verstanden
Die Finsternis, in die Robert Gerloff den "Prolog des somalischen Piraten" taucht, hat nichts Lächerliches. Sie ist erhellend und taucht das nun folgende Spiel "nach Francis Ford Conrads 'Herz der Apokalypse'" in ein fast schon gleißendes Licht. Noch einmal bricht ein westlicher Soldat, diesmal ist es der deutsche Hauptfeldwebel Oliver Pellner (Jörg Malchow), in die sogenannte Wildnis auf, um einen abtrünnigen Offizier auszuschalten. Der Hindukusch ist in dieser hemmungslosen Über-Schreibung von Joseph Conrads Kolonialismusroman "Herz der Finsternis" und Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsfilm "Apocalypse Now" ein Fluss und kein Gebirge. Warum auch nicht. Wenn es darum ging, das Fremde zu kolonisieren, waren die Europäer und später die Amerikaner schließlich noch nie zimperlich. Wolfram Lotz’ Negation des Realen ist eben nicht nur ein die Grenzen der Wirklichkeit sprengendes Spiel. Sie ist auch und vielleicht vor allem ein subversiver Kommentar zu weit mehr als hundert Jahren Kolonialgeschichte. Und den nimmt Robert Gerloff in seiner Bühneninszenierung des Hörspiels "Die lächerliche Finsternis" absolut ernst.

laecherlichefinsternis2 560 martinkaufhold uAuch die Krabbe war Zeuge © Martin Kaufhold

Wo Lotz mit den Mitteln der Dekonstruktion arbeitet, baut Gerloff wieder auf. Zusammen mit seinem Bühnenbildner Maximilian Lindner, der mit einem in seiner Fülle und Detailgenauigkeit schier überwältigendem Ensemble aus Zelt, Kiosk und Bambuskäfigen die ganze Breite der Spielfläche nutzt, hat er eine Welt geschaffen, die der aus Francis Ford Coppolas Film in nichts nachsteht. Hier findet sich alles, was zu einer Reise ins Herz des westlichen Kolonialismus gehört. Jede noch so kleine Einzelheit, sei es nun die Pfanne mit den gebackenen Bohnen oder die Landmine im Vordergrund, erzählt eine eigene Geschichte. Nicht selten verweisen Details wie Pellners Surfbrett oder Deutingers kahl rasierter Schädel, wie ein rotes Stirnband oder der in orangefarbenes Licht getauchte Nebel am Ende direkt auf "Apocalypse Now".

Rückzug auf die Sprache
Lindners wundervolles Wimmelbühnenbild schafft einen Raum, in dem sich die Schauspieler ganz auf den Text zurückziehen können. So spielt Jörg Malchow den kalten, die Welt voller Zynismus betrachtenden Pellner mit einer ebensolchen Kälte und Präzision. Da ist kaum noch etwas Menschliches an diesem Technokraten der Vernichtung. Nur gelegentlich, wenn ihn sein Untergebener Stefan Dorsch (Johann David Talinski) mal wieder mit seiner linkischen Art und seinem Ringen um Worte irritiert, scheinen noch Reste von Gefühlen in Malchows Augen und Stimme auf.

Axel Holst reichen schon ein paar verdrehte Blicke und kurze Momente extremer Fassungslosigkeit, um das Herrenmenschendenken des italienischen Blauhelm-Kommandeurs Lodetti zu entlarven. Und auch Stephanie Schönfeld bleibt während ihres Auftritts als Händler, der aus dem Tod seiner Familie Gewinn schlagen will, bemerkenswert sachlich. Sie bettelt nicht um Mitleid, sondern fordert es – durchaus mit Recht – ein. Dass es ihr trotzdem verweigert wird, ist in Gerloffs Sicht der Dinge nur konsequent. Die Arroganz der alten und neuen Kolonialherren kennt nun einmal keine Grenzen.

 

Die lächerliche Finsternis
von Wolfram Lotz
Regie: Robert Gerloff, Bühne: Maximilian Lindner, Kostüme: Johanna Hlawica, Musik: Cornelius Borgolte, Dramaturgie: Carola Hannusch, Licht: Dirk Struwe, Ton: Jörg Rothmann.
Mit: Jörg Malchow, Johann David Talinski, Axel Holst, Stephanie Schönfeld, Tobias Dömer.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-essen.de

 

Noch nicht einmal eine Woche vor der Essener Premiere trat am Deutschen Theater Berlin Daniela Löffners Inszenierung von "Die lächerliche Finsternis" vors Publikum; im November dekonstruierte Christopher Rüping am Thalia Theater Hamburg Lotzens Dekonstruktion (Nachtkritik hier); die Uraufführung des beliebten Stücks am Burgtheater Wien inszenierte im September 2014 Dušan David Pařízek.

 

Kritikenrundschau

Eine "herrlich schwüle, übersteigerte Dschungel-Phantasie vor filmreifer Kulisse" hat Martina Schürmann für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (20.12.2014) gesehen. Was Lotz in seinen Theatertexten bewusst lose lasse, verdichte Gerloff zu einem "atmosphärischen Trip in die Abgründe westlicher Wertelogik mit Hubschrauberwummern und eingespieltem Walküren-Ritt". "Gerloff verpackt den globalen Wahnsinn von Ausbeutung und Aufbauhilfe in eine fiebrige Erzählung, formt Figuren statt Karikaturen, aber manchmal bleibt er in der Wahl der Mittel fast brav", so Schürmann. "Dafür bereitet er dem vierköpfigen Ensemble eine exzellente Spielfläche."

"Als netten Theaterspaß hat Robert Gerloff das Stück in der Casa, der kleinen Spielstätte des Essener Grillo-Theaters, inszeniert und erntete (…) wohlwollenden Applaus", schreibt Britta Helmbold in den Ruhrnachrichten (20.12.2014). Die Inzenierung setze wie der Text "aufs Groteske", die Schauspieler verstünden es gut, "diese seltsamen Gestalten" zu verkörpern.

"Wolfram Lotz hat einen unglaublich starken Text geschrieben", sagt Ulrike Gondorf auf WDR 5 (22.12.2014, hier im Podcast). "Seine Kritik an Gewalt, Militarismus und kolonialem Hochmut (…) zeigt sich in einer Groteske voller abstruser Fantastik und schwarzem Humor, in überraschenden Bildern und sprachlicher Vielstimmigkeit." Die Inszenierung bringe "vielleicht ein bisschen zu viel Militär und Zivilisationsferne auf die kleine Bühne", und benutze obendrein viel, "manchmal soapartige Musik". Da bekomme man "Sehnsucht nach der Hörspielkargheit". Lob erhalten "die vier spannenden Darsteller".

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